Unsere
Gesellschaft sowie unsere subjektive Realität definieren sich durch die
Art und Weise, wie innerhalb ihres Wirkungsbereichs einzelne Ereignisse
und Aspekte miteinander verknüpft sind; durch ein Bezugssystem, das den
verknüpften Elementen Bedeutung zuweist. Diese Bezugs- und
Bedeutungssysteme lassen eine jeweilig spezifische Struktur entstehen,
die wir auf phylogenetischer Ebene als unsere Kultur begreifen, auf
ontogenetischer Ebene als unser Selbst, unsere Identität.
In
einem Zitat der buddhistischen Überlieferung heißt es, wir wären die
Summe all dessen, was wir gedacht haben. Hier wird der gleiche Gedanke
zu Ausdruck gebracht, doch kaum merklich durch etwas Entscheidendes
ergänzt: durch die Tätigkeit des Denkens, durch eine Handlung.
Denn
natürlich ist der Mensch nicht nur eine assoziative Struktur und die
Kultur nicht nur eine Ansammlung von Bedeutungsmustern. Beide nehmen
erst Gestalt an durch akute Handlung.
In
seinem theoretischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ unterschied
Jean Paul Sartre zwischen bloßen Gegenständen und Menschen, in dem er
den Gegenständen ein „An-sich-sein“ zubilligte, den Menschen hingegen
ein „Für-sich-sein“. Dieses menschliche „Für-sich-sein“ definierte er
zunächst recht paradox als „das, was es nicht ist und nicht das, was es
ist.“
Was
er damit ausdrücken wollte ist der Umstand, daß der Mensch nicht
aufgehen kann in dem, was er aus der Vergangenheit in sein gegenwärtiges
Dasein getragen hat, also in der Sammlung dessen, was er erlebt und in
Zusammenhang gebracht hat. Mensch zu sein bedeutet einen Bruch in der
fugenlosen Existenz, denn der Mensch hat keine ihn konstituierende
Essenz wie die Dinge. Er muß sich sein Wesen durch Handlung erst
erwerben. Der Mensch muß sich in jedem Augenblick neu entscheiden und
sein zukünftiges Leben entwerfen. Erst dieser Akt der Handlung in die
Zukunft hinein macht ihn zum Menschen, erst darin kann er aufgehen.
Doch
wer ist es denn, der in der Gegenwart auf dem Fundament all dessen, was
er gedacht hat, agiert? Ist es überhaupt möglich, daß die Summe all
dessen, was wir gedacht haben, in der Gegenwart präsent ist und zum
Wirken gebracht werden kann? Oder sind es immer nur einzelne Bewegungen
in dem Bezugssystem unserer Erinnerungen, die sich auf unsere Handlungen
und damit auf unsere Wirklichkeit und gegenwärtige Identität auswirken?
Der tschechische Schriftsteller Karel Capek schrieb 1934 in seinem Roman Ein gewöhnliches Leben:
„Wie
viele Lebensgeschichten sind es nun: vier, fünf, acht. Acht Leben, die
mein Leben bilden; und ich weiß, wenn ich mehr Zeit und einen klaren
Kopf hätte, fände ich noch eine ganze Reihe, völlig zusammenhangslose,
solche, die nur einmal existierten und nur einen Augenblick währten (…)
Das
Leben eines Menschen ist eine Menge verschiedener möglicher Leben, von
denen nur eins, oder einige verwirklicht werden, während die anderen
sich nur spärlich, nur für eine Weile oder überhaupt nicht offenbaren.
So ungefähr stelle ich mir die Geschichte eines jeden Menschen vor.“
Aufgrund
ähnlicher Überlegungen bezeichnete der portugiesische Dichter Fernando
Pessoa das menschliche Sein als eine Kolonie verschiedener Selbste, und
Michel Montaigne bemerkte in seinen Essays, es gebe zwischen uns und
uns selbst eben so viele Unterschiede, wie zwischen uns und den anderen.
Für
das Alltagsleben der meisten Menschen haben diese Überlegungen nur eine
geringe Bedeutung, da sie sich meist in Kontexten bewegen, in denen
Aufgaben und Betätigungsfelder von außen an sie herangetragen und
gewisse Entscheidungen und Ergebnisse von ihnen erwartet werden.
Dadurch, daß ihr Umfeld vorgegeben ist und ihre Handlungen und
Entscheidungen nur in einem klar abgegrenzten Rahmen stattfinden können,
sind etliche Parameter ihrer Identität festgelegt und nur unter
erheblichen Mühen und Verwerfungen zu ändern.
Für
den Künstler allerdings ist die Frage nach den Entscheidungen und
Handlungen, mit denen er sich sein Wesen und seine Identität erwirbt,
stets akut und essentiell, denn mit jedem abgeschlossenen Projekt stellt
sich ihm die Frage von neuem: Was gilt es jetzt zu tun und wer werde
ich sein? Welche Emanation der Kolonie meines Selbsts tritt in dem
nächsten Projekt hervor?
Denn
wenn sich unser Selbst durch das „Für-sich-sein“ Sartres definiert,
treten unsere Persönlichkeit und Identität in unseren Entscheidungen
zutage, durch das, was wir tun und wie wir es tun; im Falle des
Künstlers also durch seine Kunst. In ihr manifestieren sich seine
Wahrnehmungs-routinen, seine Haltung gegenüber der Welt, sein
Selbstbild, seine Motive und seine Gestaltungsabsichten.
Auch
auf einer anderen Ebene ist die Frage nach der temporären Identität für
den Künstler relevanter als für die meisten anderen Menschen. Denn
während sich jene lediglich mit erinnerten, verschwommenen und
changierenden Bildern auseinandersetzen und sich daraus eine Vorstellung
ihrer Vergangenheit und ihrer Identität auf der Folie der Gegenwart
machen, die zu steter, unmerklicher Wandlung fähig ist, sind Künstler
mit ihrem Werk konfrontiert, in dem vergangene, temporäre Selbste eine
konkrete und unwandelbare Gestalt angenommen haben.
Aus
diesem Grund beschäftigen sich Künstler nur selten intensiv mit ihrem
Gesamtwerk, da es sie vor die Aufgabe stellt, ihr gegenwärtiges Selbst
stets mit einem temporären vergangenen Selbst abzugleichen und sie
dadurch den nötigen freien Denkraum verlieren, neue Projekte zu
entwickeln und veränderte oder neue Versionen ihrer Persönlichkeit in
Erscheinung treten zu lassen. Dementsprechend befolgen sie meist Sartres
Forderung, das Vergangene zu negieren und sich selbst in eine mögliche
Zukunft hinein zu entwerfen.
In
seiner Ausstellung „arch_IV“ versucht Arne Lösekann hingegen sich genau
dieser Aufgabe des Abgleichs zu stellen und in einen aktiven und
schöpferischen Dialog mit diesen vergangenen Emanationen seines
künstlerischen Selbst zu treten.
Doch
um überhaupt in einen solchen Handlungsprozess einzusteigen, ist es
notwendig, sich ein Archiv zu schaffen, das ein Agieren erlaubt. Das
erfordert bereits nach jeder abgeschlossenen Installation die
Entscheidung, welche Elemente nötig sind, um die Installation zu einem
späteren Zeitpunkt nachvollziehbar zu machen. Denn im Gegensatz zu
Bildern, deren Bedeutung in der Regel immanent und vom Kontext
unabhängig ist, sind Installationen immer abhängig von den spezifischen
Gegebenheiten des Ausstellungszusammenhangs.
In
ihnen kommen Haptik, Gerüche und Geräusche zum tragen, sie interagieren
mit dem Betrachter und dem Raum und haben mitunter zeitliche Aspekte,
in vielen Fällen sind sie sogar nur für einen speziellen Ort oder einen
bestimmten Zusammenhang entwickelt worden, ohne den sie nicht zu
entschlüsseln sind.
Zuerst
muß also eine Auswahl stattfinden: Welche Elemente sind imstande, den
ganzen Installationskomplex in der Vorstellung eines Betrachters wieder
zum Leben zu erwecken? Welche Elemente transportieren das Konzept, die
Idee am schlüssigstens?
In
dem Moment, in dem die Auswahl getroffen wird, tritt die Installation
in eine nächste Phase und ordnet sich der Logik eines nächsten,
übergeordneten Werkprozesses unter, nämlich dem Werden eines Archivs,
das nicht nur die Funktion des Aufbewahrens erfüllen soll, sondern als
Ausgangsmaterial für das weitere künstlerische Handeln gedacht ist. Es
soll die archivierten Fragmente bereithalten, es soll dem Künstler auch
angesichts seines vergangenen Werks die Möglichkeit geben, sich selbst
nicht zum Betrachter zu degradieren, sondern Akteur zu bleiben.
Es
ist inzwischen hinlänglich bekannt, daß unsere Erinnerungen keinesfalls
so verläßlich sind, wie wir gerne glauben möchten. Wir reduzieren sie,
wir füllen die Lücken zwischen den Fragmenten, wir glätten sie, in dem
wir sie in unseren Nacherzählungen glaubwürdiger machen, wir verdrängen
die unbequemen Ereignisse, wir begründen irrationale Entscheidungen im
Nachhinein, wir rechtfertigen uns, und wir machen Fehler, vertauschen
Gesichter, Orte, Zeiten.
Diese
nicht-intentionellen und oft unerwünschten Charakteristika unseres
Erinnerungsvermögens, mit denen wir sehr großzügig die Vergangenheit
überformen und neu ordnen, versucht Arne Lösekann ganz gezielt und
bewußt auf den Umgang mit seinem künstlerischen Oeuvre zu übertragen, um
sich einen Handlungsspielraum zu schaffen.
So
wie wir einzelne Erinnerungen und Eindrücke einer akuten Gegenwart
miteinander in Verbindung bringen, um darin vielleicht einen roten Faden
unseres Selbsts zu entdecken oder wenigstens vereinzelte
Überein-stimmungen und Entsprechungen, so nähert sich Arne Lösekann
seinen archivierten Installationen.
Er
wählt intuitiv einzelne Komplexe aus, die vergangene künstlerische
Emanationen seines Selbst repräsentieren, und beginnt mit ihnen zu
agieren, beginnt, sie spontan in Zusammenhang zu bringen mit anderen
Komplexen, oder er isoliert jeweils einzelne Elemente auf der Suche nach
neuen möglichen Zusammenhängen, die Aufschluß darüber geben können, wer
er damals gewesen ist, oder darüber, welche Bewegungen sich über seine
akuten Handlungen an den Objekten in die Zukunft fortsetzen könnten und,
wie Sartre es fordert, ihm ermöglichen, sich selbst, ein mögliches
Selbst, in die Zukunft hinein zu entwerfen.
Dieser
Arbeit an der subjektiven Vergangenheit und künstlerischen Identität
stellt er in einer Reihe von Transferdrucken die Auseinander-setzung mit
einer Vergangenheit entgegen, zu der er nur mittelbaren Zugang hat.
Dort
wo sonst die Portraits der ehemaligen Bürgermeister von Schenefeld zu
sehen sind, hängen Transferdrucke historischer Fotografien auf
Glasplatten. Sie stammen aus der Zeit von 1910 bis 1950 und zeigen
Alltagsmotive aus dem Hamburger Stadtteil Barmbek. Im Rahmen seines
Projektes „Zeitgeister“ ging Arne Lösekann immer wieder mit diesen
Bildern um und sah schließlich die Notwendigkeit, daß auch dieses
Handeln an den Bildern in einen zweiten Werkprozess überführt werden
müsse.
Historische
Photographien werden von uns in der Regel als dokumentarisch gewertet,
als authentisch. Doch was sagen sie uns tatsächlich, wie viel der
Information, die sie möglicherweise transportieren, ist für uns
überhaupt entschlüsselbar? Denn wenn ein erlebtes und erinnertes
Bezugssystem fehlt, wie kann es möglich sein, sie in unsere Vorstellung
der Vergangenheit einzufügen, einer Vergangenheit, die sich ohne Bruch
aus den von uns durchlebten Regionen fortsetzt in die Zeiten vor unserer
Geburt, vor der Geburt unserer Eltern und so fort bis sie schließlich
in den Nebeln der Vorgeschichte nicht mehr zu fassen ist?
Das
einzige, was uns bleibt, ist der Versuch, sie mit dem Ausschnitt der
Wirklichkeit, den wir erfahren haben, in Zusammenhang zu setzen, auf
dieser Basis neu zu konstruieren, oder sie in Narrationen einzubetten,
deren Grundmuster uns als universell gelten. Diese Assoziationen und
Überschreibungen der phantomhaften und erodierenden Bilder seiner
„Zeitgeister“-Serie hat Arne Lösekann mit einem roten Permanentmarker
und roter Latexfarbe aufgebracht.
Die
Wahl der Farbe und die formale Erscheinung der Kommentare, die an
Korrekturen am Rande von Klassenarbeiten erinnern, machen ein weiteres
mal die unüberbrückbare Kluft zwischen unserer erlebten Gegenwart und
der nur noch geisterhaft zu erahnenden Vergangenheit deutlich.
Gleichzeitig
versinnbildlichen sie das Bedürfnis des Menschen, sich auch mit einer
ihm entrückten Wirklichkeit, mit einer ihm fernen Zeit in Bezug zu
setzen, sich durch die Haltung, die man ihr gegenüber einnimmt, und
durch ein Nachspüren möglicher historischer Bewegungen, die bis in die
von uns erlebte Gegenwart hinein wirken, die eigene Identität im Strom
der Zeit besser verorten und umreissen zu können.
Und
schließlich setzen sich diese roten Kommentare und Notizen fort auf den
Fenstern des Ausstellungsraums und machen deutlich: Selbst diese
Gegenwart wird sich uns irgendwann entziehen und versinken in einer nur
noch mittelbar zu rekonstruierenden Vergangenheit. Selbst diese
Gegenwart kann von uns nie derart durchdrungen werden, daß wir nicht
doch möglicherweise die entscheidenden Ereignisse und Zusammenhänge
übersehen und sie stattdessen mit nur subjektiv relevanten Bedeutungen
und imaginierten Narrationen überschreiben.
Doch
gleichgültig, ob wir in das Archiv der subjektiven Erinnerungen
eintauchen oder uns mit einer vermeintlich objektiven Vergangenheit
beschäftigen, beide werden erst lebendig und erlangen für uns erst
Bedeutung, wenn wir sie in die Gegenwart unserer akuten Handlung
einbeziehen, genauso, wie wir erst zu unserem Wesen finden und unsere
Identität erschaffen, in dem wir Bewegungen aus der Vergangenheit
aufgreifen, sie abwägen, uns zu ihnen in Bezug setzen, und anhand ihrer
unser Selbst in eine mögliche Zukunft projizieren.
ⓒ Thomas Piesbergen / VG Wort, Juli 2017