„Alles was wir sind, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben.“
Dieser Sinnspruch, der dem Buddha Siddharta Gautama zugeschrieben wird, ist einer der frühesten und bis heute konsistentesten Versuche, das Wesen der menschlichen Identität zu definieren.
Besonders interessant daran ist nicht nur, daß die Identität als das Ergebnis eines anhaltenden dynamischen Prozesses begriffen wird, der mit den aktuellen Forschungen zur Neuroplastizität des Gehirns übereinstimmt, sondern auch, daß die Identität mit einer zeitliche Tiefe gedacht wird, und damit natürlich auch selbst als dem Wirken der Zeit unterworfen.
Hierin entspricht diese Aussage auch einem Fragment, das dem Vorsokratiker - und damit Zeitgenossen Buddhas - Heraklit zugeschriebenen wird. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“
Das Fragment verweist nicht nur darauf, daß der Fluß stets neues Wasser führt, sondern auch daß wir nicht mehr dieselben sind, wenn wir ein zweites mal ins Wasser steigen.
Doch gerade diese Zeitlichkeit und Dynamik der Identität wird in den populistischen Denkströmungen, die Europa derzeit heimsuchen, standhaft geleugnet. Nationale Identitäten werden mit einer Sturheit postuliert, als wären es Naturgesetze, und mit bewußt offenkundigen Zirkelschlüssen verteidigt, wie mit dem bayrischen „Mia san mia!“
Doch dieser Wunsch nach Stetigkeit prägt nicht nur den gesellschaftlich bedauerlicherweise sehr wirksamen Sprachgebrauch der angstgesteuerten Massen. Auch der Einzelne, mit seinem Bedürfnis nach Stabilität und Selbstbestätigung, möchte gerne mit einem standhaften „So bin ich halt!“ an der Unveränderlichkeit der eigenen Identität festhalten, gleichwohl er weiß, er hat anders wahrgenommen und gefühlt, als er ein Kleinkind, ein Teenager, ein junger Erwachsener war, oder sein Blick auf die Welt am Sonntagnachmittag ein gänzlich anderer sein kann, als der am Montagmorgen.
Es stellt sich die Frage, was eigentlich Identität ist - besser: was sie sein könnte?
Kommt ein Kind zur Welt, suchen die Eltern zuerst fast immer nach Ähnlichkeiten. Dann heißt es: „Sie hat die Nase des Großvaters“ oder „Er hat die Augen der Mutter.“ Nach diesen Übereinstimmungen wird auch weiterhin gerne Ausschau gehalten: „Er ist genauso trotzig wie Du!“ oder „Diese Beharrlichkeit hat sie von der Großmutter.“
Der Mensch neigt offenbar dazu, in einem Neugeborenen und später in dem Heranwachsenden Kind einen Keim zu wähnen, der früher oder später zutage treten muß, und etwas ans Licht bringt, was dem Kind natürlich zu eigen ist, was seine Natur ist.
Mit diesen Erwartungen wird dem Widerstreit der Konzepte „nurture or nature“ deutlich der innewohnenden Natur der Vorzug gegeben und dadurch auch dem Glauben Vorschub geleistet, es gäbe eine unveränderliche Identität, ganz im Sinne der platonischen Urbilder, die unweigerlich früher oder später zutage treten muß.
In den 90er Jahren fand diese Hypothese durch die bahnbrechenden Entwicklung der Genetik wieder zahlreiche Anhänger, und das nicht nur auf der Ebene individueller Familienähnlichkeiten, sondern vor allem in Form generalisierender Aussagen über Männer und Frauen, die häufig auf eher fragwürdige Vorstellungen der menschlichen Vorgeschichte zurückgeführt wurden.
Die Selbstbefragung des erwachsenen Menschen weist hingegen meist in eine ganz andere Richtung. Sie wendet sich der Selbstbestimmung, der Gestaltung des eigenen Lebens zu und den auszuschöpfenden Freiheitsgraden. Ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang ist die „Selbstverwirklichung“ und die Entwicklung von Potenzialen. Der Mensch wird zu seinem eigenen Werkstück, er optimiert sich oder er erfindet sich sogar selbst ganz neu, um seine selbstgesteckte Ziele zu erreichen.
Die Identität wird dabei als etwas wahrgenommen, das entweder bisher überlagert war und erst durch eine bewußte Entscheidung zutage gefördert und entfaltet werden kann, oder als etwas, das nahezu unbegrenzt formbar ist und sich unseren gesellschaftlich induzierten Wünschen entsprechend gestalten lassen kann. Die Vorstellung einer „ererbten Identität“, die sich zwangsläufig zeigen wird, ist in diesem Zusammenhang nunmehr nichts weiter als ein Störfaktor, der unserer Entscheidungs- und Entwicklungsfreiheit im Wege steht und ausgeräumt werden muß.
Betrachten wir nun die Identität als einen Prozesse, der sich über den gesamten menschlichen Lebenszyklus erstreckt: Vor allem in der Kindheit und Jugend, in der der Erfahrungshorizont bestenfalls ununterbrochen erweitert wird, werden Erinnerungen und Identität aufgebaut. Der Beschreibung von David Gelernter folgend, legt der menschliche Geist ähnliche Erinnerungen übereinander, löscht Irrelevantes und bildet aus den verdichteten Wiederholungen von Erfahrung Matrizen, die als zusammenfassende Gedächtnisinhalte abgelegt werden.
Die Summe dieser Inhalte, der Aussage Buddhas entsprechend, repräsentiert nicht nur unsere Weltsicht, sondern auch die Identität unseres neurologischen Bewußtseins, die sich in der Regel zusehends verfestigt, da wir dazu neigen, die bereits gebildeten Matrizen, also Modellvorstellungen der Welt, zu bestätigen.
Doch selbst, wenn die Dynamik des Identitätsbildenden Prozesses im Laufe der Lebensjahre abnimmt, kommt sie nie zum Stillstand, bis sie schließlich langsam in einen Abbau übergeht. Konkrete Erinnerungen werden durch stetige Überlagerung immer blasser oder zerfallen schleichend und endgültig. Im Falle extremer Demenz kommt sich der Mensch schließlich ganz abhanden und auch seine engsten Vertrauten und Angehörigen erkennen sein Wesen, seine Identität, nicht wieder. Mit dem Gedächtnis hat sich auch die Identität aufgelöst.
Betrachten wir die Identität auf diese Art und Weise, ist sie weder etwas, das unbeeinflußbar einem inneren Bauplan gehorcht, noch etwas, das unserer Kontrolle unterliegt, sondern sie ist ein Formierungs- und Zerfallsprozess innerhalb bestimmter raumzeitlicher Grenzen, der in ständiger Wechselwirkung mit unserem Erfahrungskontinuum steht.
Ähnlich vertrackt steht es um die Identität der Dinge. Wann erkennen wir etwas an als Repräsentation des Begriffes, den wir dafür gemacht haben? Wenn wir uns ein Haus vorstellen, das zerfällt, ist es irgendwann kein Haus mehr, sondern eine Ruine, und irgendwann ist es keine Ruine mehr, sondern ein Haufen Schutt. Doch wann welche Phase beginnt oder endet ist unbestimmbar. Die Grenzen zwischen den voneinander unterschiedenen Phasen des Verfalls werden genauso willkürlich gesetzt, wie die Behauptung, ein Jugendlicher werde mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres zum Erwachsenen; eine gesellschaftliche Vereinbarung, die mehr als offensichtlich an der erlebten Wirklichkeit vorbei geht.
Auch in den Arbeiten und Versuchsanordnungen von Saskia Bannasch begegnet uns diese Frage nach der Identität der Dinge und ihrer Abhängigkeit von der Zeit wieder.
Saskia Bannasch: Installation; say galapagos, 2018; Glasvase, Keramiken Foto © Saskia Bannasch |
Eine Werkgruppe besteht aus einer Reihung von Keramikvasen, die sich von einem nahezu perfekt geformten Vorbild zu immer unförmigeren Gebilden wandeln.
Bereits die Wahl des Materials stellt einen Bezug zur Vergänglichkeit her, denn Keramik und Porzellan sind neben Glas immer die Dinge, auf die man verweist, wenn es darum geht, daß etwas zerbrechen kann oder zerschlagen wird. Der sprichwörtliche Elefant geht durch den Porzellanladen, nicht durch die Buchhandlung.
Auch die zeitliche Tiefe öffnet sich mir als ehemaligem Archäologe unmittelbar, denn Keramikscherben sind seit jeher die Leitartefakte schlechthin, wenn es um die Datierung sowie um die Zuweisung kultureller Identität von Fundplätzen der letzten 10.000 Jahre geht.
Doch wie sind die Reihungen von Saskia Bannasch entstanden? Die erste „Urvase“ wurde mit Ton abgeformt. Die so entstandene zweite Vase diente als Mutterform für eine dritte Vase etc.pp. Doch anstatt eine Reihe naturgetreuer Kopien der ersten Vase anzufertigen, dokumentiert die Reihung die Depravation ihrer Identität. Dieser Prozess entspricht erstaunlich genau dem Zellverfall durch zunehmend fehlerhafte Kopien des genetischen Codes im Laufe des Älterwerdens, genauso wie er dem Phänomen der Mutation im evolutionsbiologischen Zusammenhang entspricht.
Die Identität ändert sich von Stufe zu Stufe schleichend, bis wir einen Zustand erreicht haben, der uns dazu zwingt, von einem neuen Altersabschnitt oder einer anderen Spezies zu sprechen, von einer anderen Identität. Das auch diese Zäsuren willkürlich sind, bestätigt nicht nur unser aller subjektives Empfinden des Älterwerdens, sondern auch die laufende anthropologische Forschung, die inzwischen darauf verzichtet, eine lineare Abfolge von Menschentypen zu postulieren, statt dessen ein verzweigtes Netzwerk exemplarischer Entwicklungsstufen mit fließenden Grenzen.
Ein anderes Thema, das in den Arbeiten von Saskia Bannasch häufig wiederkehrt, ist der Kristallisationsprozess von Salz, dessen Resultat in der Arbeit „Slow Piece“ zu sehen ist.
Sobald Natriumchlorid kristallisiert, egal unter welchen Voraussetzungen, entstehen kubische Kristalle. Diese Form basiert auf dem molekular determinierten Kristallsystem. Die räumliche Identität des Salzes ist der Kubus. Damit korrespondiert dieser Prozess mit dem platonischen Konzept der Urbilder und den Vorstellungen genetischer Prädisposition. Die Identität ist in diesem Fall nichts, was einem stetigen Prozess der Transformation unterworfen ist, sondern eine innewohnende Natur, die nach einer ausreichenden Zeitspanne unweigerlich zutage treten wird.
In zwei anderen Arbeiten begegnet uns das Wasser nicht als Lösungsmittel für Natriumchlorid, das dessen innewohnende Natur erst mit dem eigenen Verdunsten freigibt, sondern als gefrorenes Medium, das stark gefaltete Stoffbahnen in einer künstlichen Starre hält. Im Verlaufe der Ausstellung wird das Eis schmelzen und die Fältelung aus seiner Umklammerung entlassen. Der Stoff wird sich entfalten, der Schwerkraft nachgeben, sich in die Länge ziehen, abrutschen, bis er schließlich ein Endstadium erreicht, mit dem die künstlerische Inszenierung abgeschlossen ist, und von Neuem in Gang gesetzt werden muß.
Saskia Bannasch: Installation; quick match, 2018; Kupferrohre, Lycra, Wasser Foto © Saskia Bannasch |
Hier drängt sich die Frage auf, welchem Zustand man identitätsstiftende Eigenschaften zubilligen würde. Ist das Gefüge aus Eis und gefälteltem Stoff die eigentliche, weil von der Künstlerin herbeigeführte Gestalt des Kunstwerks, oder offenbart sich die tatsächliche Beschaffenheit und damit die Identität des Stoffes erst nach der Entfaltung seiner ganzen Fläche mit allen vorher verborgenen Bereichen? Oder sprechen wir jedem Zustand die identitätsstiftende Macht ab, da vielmehr in dem dynamischen Prozess und der raumzeitlichen Manifestation der Entwicklung selbst die Identität des Werks begründet liegt.
So wie in dem philosophischen, dem kulturellen, dem psychologischen und politischen Diskurs die Frage nach der Identität und ihrer Definition umstritten bleibt, so treten uns auch in der Ausstellung von Saskia Bannasch verschiedene Versuche entgegen, in denen die Frage nach der Identität und ihrer Dynamik in der Zeit ambivalent bearbeitet und auf verschiedene Weise beantwortet wird.
Wie im wissenschaftlichen Experiment sind die Anordnungen innerhalb gewisser Grenzen ergebnisoffen und tragen die Frage ohne Postulat weiter. Gleichzeitig machen sie aber auch deutlich, wie wichtig es ist, sich dieser Thematik zu stellen.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Oktober 2018
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen