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Montag, 21. Januar 2019

Im Zoo der digitalen Stellvertreter

Eröffnungsrede zur Jahresausstellung des BBK 2019 „Me at the Zoo
von Dr. Thomas J. Piesbergen


"Me at the Zoo", BBK-Jahresausstellung im Kunsthaus Hamburg, Vernissage, Photo: BBK

In einem Text zur Kunst von Walther Benjamin heißt es „Was wir Kunst nannten, beginnt zwei Meter vom Körper entfernt.

Was Benjamin mit diesem zunächst kryptisch anmutenden Satz ausdrücken wollte, ist eine der Grundregeln des schöpferischen Handelns:
Das, was nur in einem Körper stattfinden kann und sich immer körperlich äußert, sind Empfindungen und Gefühle. Ein Gefühl oder eine Empfindung zu haben und es anschließend in einem Text zu behaupten, ist noch keine Literatur.  Erst wenn es gelingt, einen Text so anzulegen, daß er ein Gefühl hervorruft, oder die Erinnerung an eine Empfindung weckt, ist eine literarische, also künstlerische Wirkung erzielt.

Friedrich Schiller schrieb in einem Brief an Goethe: „Ohne eine dunkle, aber mächtige Totalidee kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewusstlose aussprechen und mitteilen zu können, d. h. es in ein Objekt überzutragen.
Die Aufgabe der Kunst wäre demzufolge die Objektivierung der subjektiven Erlebnisinhalte.

Nach der Aneignung und Einverleibung einer Erscheinung aus der Außenwelt und einer Bearbeitung in unser Innenwelt, in der wir die Beobachtungen intuitiv vernetzen, mit Sinn und Bedeutung aufladen und sie schließlich, einem Formgefühl folgend, zu einer Idee reifen lassen, ist es also notwendig, um es nicht bei einer narzistischen Selbstbespiegelung des Prozesses zu belassen, diese Idee in eine Gestalt zu übertragen, die unabhängig von uns und unserem Körper existiert und imstande ist, die Idee zu vermitteln.

Wenn ein Autor sich ein Alter Ego erschafft, im konkretesten Fall ein „literarisches Ich“, muß er demzufolge begreifen, daß dieses literarische Ich und er selbst unterschiedliche Dinge sind, daß sich sein Alter Ego den ästhetischen Gesetzmäßigkeiten der Literatur unterwerfen muß.

Dasselbe gilt für alle Kunst. Sie muß die Region idiosynkratischer und erklärungsbedürftiger Selbstbespiegelung überwinden, um die jeweils dahinterstehende, objektivierte Idee zu vermitteln. 

Zur Entwicklung einer Idee ist nun aber das Dunkel unabdingbar notwendig, der nicht quantisierbare seelische Bereich der Gefühle und Atmosphären, der Qualia, der Assoziationen. In diesem dunklen Bereich, in dem wir von unseren Erinnerungen und Empfindungen gesteuert werden, und nicht umgekehrt, können wir Dinge verknüpfen, die auf den ersten Blick disparat erscheinen, können wir unerwartete Sinnzusammenhänge, Narrative und Repräsentationen generieren.

Dieser Prozess wirkt sehr erhellend auf die Polarität von „Sein und Haben“. Erst wenn wir etwas verinnerlicht haben, können wir im kreativen Prozess darauf zurückgreifen. Das rein additive, kompilierte Wissen bringt keine Ideen hervor, dazu ist nur der sich einverleibende Geist imstande; die Pose bringt keine Form hervor, sondern die Haltung; von der Oberfläche kann man nichts schöpfen, nur aus der Tiefe. Der Geist ist auf nicht-quantisierbare Qualität angewiesen zur Erschaffung von etwas Neuem, andernfalls ist er nur imstande zu reproduzieren und mehr desselben anzuhäufen: die Logik des Additiven.

Peter Handke schrieb einmal: „Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.“
Man kann guten Gewissens darüber hinausgehen, in dem man behauptet, der kreative Geist braucht nicht nur das Dunkle des Privaten, sondern er braucht auch die dunklen Anteile seiner Selbst, die ihn zu dem führen, was Friedrich Schiller als die „dunklen Totalideen“ bezeichnet. Grundvoraussetzung für künstlerisches Tun ist also das Verborgene.

Nach Walther Benjamin erhält ein Ding in kultischem Zusammenhang nicht dadurch seinen Wert, daß es sichtbar ist, sondern dadurch, daß es vorhanden ist. Durch seine Unsichtbarkeit nimmt es Raum in der Vorstellung ein, dadurch gewinnt es an Bedeutung. Mit dem Aufkommen der Social Media jedoch, und der damit ausgelösten Bilderflut, hat sich eine folgenreiche Inversion ereignet.
In seinem Essay „Transparenzgesellschaft“ schreibt Byung Chul Han darauf Bezug nehmend: „In der Positivgesellschaft, in der Dinge, alle nun zur Ware geworden, ausgestellt werden müssen, um zu sein, verschwindet ihr Kultwert zugunsten ihres Ausstellungswertes. Hinsichtlich des Ausstellungswertes ist das bloße Dasein ganz bedeutungslos. Alles, was in sich ruht, bei sich verweilt, hat keinen Wert mehr. Den Dingen wächst nur dann Wert zu, wenn sie gesehen werden.“
Diese Inversion führt also dazu, daß die Bedeutung eines Dings allein anhand seines Ausstellungswertes bemessen wird.

An dieser Stelle möchte ich den Gedankenfluß kurz unterbrechen, um einen Blick auf den thematischen Anlaß der diesjährigen Jahresausstellung des BBK zu werfen:

In dem ersten Youtube-Video „Me at the Zoo“ steht Youtube-Gründer Jawed Karim vor einem Elefantengehege im Zoo und sagt: „All right, so here we are in front of the elephants. The cool thing about this guys is that they have really, really, really long trunks. And that´s cool. And that´s pretty much all there is to say.“
„In Ordnung, also hier sind wir vor den Elefanten. Das Coole an diesen Typen ist, das sie richtig, richtig, richtig lange Rüssel habe. Und das ist Cool. Und das ist so ziemlich alles, was es zu sagen gibt.“
Der erste Kommentar, den dieses Video erhalten hat, war: „Interesting…“
Seitdem wurde der Clip über 59 Millionen mal angeschaut, erhielt 1,4 Millionen „likes“ und ebenso viele Kommentare.

Schon in diesem ersten Video werden wir Zeuge, wie sich die Blickrichtung verschiebt: Von Interesse sind nicht die Elefanten. Es geht nicht um „Elephants at the Zoo“ sondern um „Me at the Zoo“.
Fast allen Bildern und Videos in den Social Media ist gemeinsam, daß nicht das Gezeigte im Mittelpunkt der Darstellung steht, sondern der Zeigende in den Fokus gerückt ist. Und dazu wäre nicht einmal das persönliche Auftreten von Jawed Karim nötig gewesen.  Das, was gezeigt wird, ist meist banal. Seine Besonderheit soll ihm durch den individuellen Blick zugeschrieben werden. Und damit ist nicht einmal eine Extravaganz des Blickes gemeint, sondern ausschließlich die nachvollziehbare Personalisierung.

In dem ich auf etwas zeige, verweise ich auf meine individuelle Perspektive und dadurch auf mich selbst. So wird bereits in dem Video „Me at the Zoo“ der Kult des Erlebten abgelöst von dem narzistischen Kult des Erlebenden, dessen Ausstellungswert in Form von „Likes“ gemessen werden kann.

In dem wir unsere Perspektive zur Schau stellen und uns selber inszenieren, generieren wir eine Persona, ein Alter Ego, einen Avatar. Wir erschaffen etwas Künstliches. Was geschieht aber nun, wenn es uns nicht gelingt, diese Schöpfung zu entäußern, wie Walther Benjamin es als notwendig für jede Kunst postuliert?
Wenn wir nicht imstande sind zu begreifen, daß unsere optimierten, digitalen Stellvertreter  unabhängig von uns existierende Dinge sind, überträgt sich die Bedeutung ihres Ausstellungswertes rückbezüglich auf unsere Selbstwahrnehmung.
Auf einem Elbspaziergang schnappte ich einmal von einer zutiefst erschütterten Frau den Satz auf: „Ich habe mich im Internet gesucht und ich habe mich gar nicht gefunden.“

Die über 1,4 Millionen Kommentare, die unter dem Video „Me at the Zoo“ zu lesen sind, haben fast alle den gleichen Inhalt: „Wenn Du meinen Kanal abonnierst, abonniere ich auch Deinen.“ Es ist belanglos, von wem man gesehen wird und was gezeigt wird. Von Bedeutung ist nur die Anhäufung der Aufmerksamkeit, die reine additive Quantität.

In dem der Netznutzer seine Selbstwahrnehmung den Gegebenheiten des Web 2.0 anpaßt, sein Selbst nicht mehr nach dessen Integrität, sondern nach quantisierter Außenwahrnehmung beurteilt, und den eigenen Wert an dem Ausstellungswert seiner Perspektive bemisst, leugnet und verdrängt er alle nicht-ausstellungsfähigen, dunklen Aspekte seiner Selbst. Er selbst wird vom Netz und seiner Logik kolonisiert, während er gleichzeitig autoaggressiv handelt.

Diese Problematik der fehlenden Trennung von Selbst und digitalem Avatar behandelt u.a. der Bildhauer Jared Bartz in seiner Skulptur „Das Selbst“, die eine halbierte Büste aus Zedernholz zeigt, deren Inneres angefüllt ist mit Computerhardware.  Denn in dem Maße, in dem wir unsere Selbstwahrnehmung auf digitale Stellvertreter auslagern, erobern die Mechanismen digitaler Kommunikation unsere inneren Prozesse. Das Letzte, was sich dieser Kolonisierung entgegenstellt, ist schließlich der Körper, repräsentiert durch einen Herzschlag.
 

Jared Bartz, "Das Selbst", Photo: J. Bartz

Wolfgang Block behandelt in seiner Installation den Transfer von Impulsen und Information von der Außen- in die Innenwelt auf abstrakte, konstruktivistische Art.
Im Vorfeld der Ausstellung installierte Block im Außenraum einen dem Wind ausgesetzten Schirm, an dem eine Reihe von Platinenkameras als „Lichtfänger“ befestigt sind. Die von diesen Kameras gespeicherten Informationen werden im Ausstellungsraum wiederum auf eine wachbeschichtete Projektionsfläche projiziert. Doch diese Projektion bildet ganz offenkundig nicht den Ort ab, an dem der Lichtfänger seine Informationen gesammelt hat, sondern setzt vor allem den Projektionsgrund in Szene. Die Beobachtung verweist auf den Beobachter

"Me at the Zoo", Ausstellungsansicht, Photo: Hayo Heye

Auf dem Bild „Anbetung“ von Roland Doil sehen wir einen Menschen auf den Knien eine kleine, maskierte Figur anbeten, hinter der sich etwas Dunkles, Verhülltes erhebt. In dem vorher dargestellten Zusammenhang, können wir in der angebeteten Figur ohne weiteres die maskierte Persona der virtuellen Welt erkennen, das groteske, ewig grinsende, gekrönte Glücksschweinchen, das ausgestellt wird, und hinter ihm das verborgene, unförmige, verdrängte Selbst, dessen Dunkel, trotz der banal-netten Blümchendecke, die es verhüllt, etwas unbestimmt Bedrohliches ausstrahlt.

Roland Doil, "Die Anbetung", Photo: Roland Doil

In der Videoarbeit „The Entertainer“ von Maria Gibert sehen wir einen Tänzer, der versucht, auf der Bühne eines leeren Hörsaals vor einem unsichtbaren Publikum zu posieren, und der dabei in einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner gerät, bis das als Affe maskierte Alter Ego des Tänzers wie eine Bildstörung in die erste Realitätsebene einbricht. Der Avatar hat sich aus der Kontrolle seines schizioiden Schöpfers gelöst, der zur Entäußerung nicht imstande gewesen ist, und übernimmt seinerseits die Kontrolle.

Maria Gibert, "The Entertainer", Performance anläßlich der Vernissage von "Me at the Zoo", Photo: Hayo Heye

Sakir Gökcebag hat für sein Werk „Der Goldene Schnitt“ etwa 10.000 Fragmente eines zerschnittenen Gartenschlauches zu einem großformatigen Mosaik zusammengefügt. Etwas Banales, Alltägliches wird in konsumerable Häppchen zerschnitten, seien es wenige Quadratzentimeter Weichplastik oder 19 Sekunden Videofilm. Die einzelnen Elemente fügen sich aber keineswegs zu einem narrativen Zusammenhang. Es ereignet sich nichts als Addition, es gibt kein „Sein“, nur „Haben“, denn wo nur das Quantisierbare, Anzuhäufende zählt, wie Views und Likes, wo nur Oberfläche ist und keine Tiefe, aus der heraus eine Haltung geboren werden kann,  dort kann auch kein tieferer Zusammenhang, kein Sinn generiert werden.
Dazu ein Zitat von Byung Chul Han: „Dem procedere des Prozessors fehlt...jede Narration. Sein tun ist ohne Bild, ohne Szenen…. Er zählt nur… Auch der Prozess … ist bereits aufgrund seiner Funktionalität arm an Narrativität. Darin unterscheidet er sich vom narrativen Ablauf, der einer Choreografie oder Szenografie bedarf.

Sakir Gökcebag, "Der Goldene Schnitt", Photo: S. Gökcebag

Die dreiteilige Arbeit „Omnibus Ex Nihilo“ von Anna Goldmund basiert auf einem Zitat von Leibniz, in dem er über seine theologische Interpretation des Binärsystems schreibt. Auf dem ersten Element sehen wir diesen Text, handschriftlich mit Permanentmarker auf Glas übertragen, über eine Halbleiterplatte gelegt, auf dem zweiten Element ist der letzte lateinische Satz dieses Textes in den Binärcode übertragen, das letzte Element, ein mit Mischtechnik bearbeitetes Schaumstoffkissen, trägt im oberen Bereich die klassischen binären 64 Hexagramme des I-Ging, darüber schwebt der Titel „Me at the Zoo“ in Binärcode.
Darunter jedoch taucht aus dem Dunkel eine vage menschliche Gestalt auf. Diese Arbeit setzt mit der historischen Vision der Bedeutung des Binärcodes einen krassen Kontrapunkt zu dem faktischen Ist-Zustand der digitalen Welt. Doch zugleich weist sie deutlich darauf hin, was unabdingbar für diese Vision und eine mögliche, von Sinn erfüllte Gestalt der digitalen Wirklichkeit ist: Der Mensch und sein Dunkel, unser gestaltgebendes Maß der Dinge, das sich nicht in reiner Addition erschöpft.

Anna Goldmund, "Omnibus ex Nihilo", Photo: A. Goldmund

Till Haupt begibt sich mit seinen Arbeiten wieder in den Zusammenhang der Selbstdarstellung. Die zwei Animationsfilme der Arbeit „Days in a Life“ basieren auf Selbstportraits, pro Tag seit 1995 eine Ganzkörperansicht. Die so entstandenen Bilder, etwa 9000, sind zu Videosequenzen zusammengefügt. Auf den ersten Blick könnte man auch hier das gestaltlose Prinzip der Addition vermuten, tatsächlich unterliegt ihm aber der größere Zusammenhang, der sich durch die Dauer ergibt. Die im Selfie ausgestellte Figur gewinnt durch die Dauer die ihr genommene Tiefe in Gestalt der Narration zurück: Sie altert, verändert sich, und gewinnt dadurch singuläre Identität.
Im selben Zeitraum hat Till Haupt mit einer kleinen Lochkamera, die er um den Hals getragen hat, Negative jeweils 24 Stunden lang belichtet. Sie sind zu einem zweiten Film zusammengeschnitten. Dem Blick von Außen wird der Blick von Innen heraus entgegengestellt. Doch dieser Blick ist nicht zensiert, ist nicht bereinigt, zeigt ausnahmslos alles - womit sein Ausstellungswert, mit dem die Zurschaustellung der eigenen Perspektive im Web 2.0 nach meßbarer Aufmerksamkeit heischt, wiederum gegen 0 geht. Diesen Kontrast illustriert treffend ein Zitat von R.L. Stevenson: „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.
Haupt führt uns diese Unbegrenztheit und Monstrosität des realen Lebens vor Augen und verweist damit wiederum auf den großen Irrtum, den wir begehen, wenn wir das Leben mit den daraus gelösten und Photoshop-bereinigten Repräsentationen verwechseln.

"Me at the Zoo", Ausstellungsansicht, Photo: Hayo Heye

Die Arbeit „Elementares“ von Sylvia Henze behandelt eine nahezu identische Problematik. Sie hat mit Selbstportraits ihre Krebstherapie begleitet, etwas, das der Logik des Web 2.0 definitiv zuwiderläuft. Wir werden konfrontiert mit Aspekten des Lebens, die sonst nicht ausgestellt, sondern ins Dunkel abgedrängt werden. Auch in dieser Arbeit begegnet uns die Addition und auch hier bleibt sie nicht leer, sondern füllt sich mit dem dahinter stehenden Narrativ der Krankheit und der Angst.
Die Bilder befinden sich an den Seiten eines beklemmenden, in die Tiefe gespiegelten Tunnels, den wir nur auf einem schmalen, unsicher wirkenden Holzsteg durchqueren können. Die Form der Installation wirft uns wiederum zurück auf unsere Körperlichkeit, und damit auf unser faktisches, von Sinnlichkeit und Sinn erfülltes Selbst.

"Me at the Zoo", Ausstellungsansicht, Photo: Hayo Heye
Sylvia Henze, "Elementares" Detail, Photo: S. Henze

Die „Situationsbilder“ von Heilwig Jacob wenden sich im Gegensatz zu den beiden Vorangegangenen nicht der Tiefe zu, die erst durch Dauer erfahrbar wird, sondern der Dichte des unmittelbaren Moments. Auf Smartphonezeichnungen und mehrschichtigen Gazemalereien versucht sie sich der Totalität und Dichte der Gegenwart zu nähern, und versucht der Gleichzeitigkeit der Ereignisse eine geschlossene Form zu geben. Damit widersetzt sie sich nachdrücklich dem Postulat nackter Evidenz, das mit den zur Schau gestellten Bildern in den Sozialen Medien einhergeht. Mit dem Verweis auf das noch ungeformte Potenzial der Gegenwart, beharren die Bilder auf der Freiheit des Individuums, sich nicht blind der Diktatur vermeintlicher Evidenz unterwerfen zu müssen.

Heilwig Jacob, "o.T - Situationsbild", Photo: H. Jacob

Die Arbeit „point and shoot“ („ziele und schieße“) von Claus Kienle spielt auf den ersten Kommentar zu „Me at the Zoo“ an: „Interesting…“ Auf acht runden Holzscheiben, angeordnet wie die Patronen in einem Revolver, sind abwechselnd zwei Bilder eines Pelikans belichtet. Auch hier begegnen wir dem Prinzip der Addition, deren maximaler narrativer Gehalt dem eines Zoetrops vergleichbar ist und den Vogel in einer gleichförmigen, sich lächerlich wiederholenden Bewegung zeigt: Flügel auf, Flügel zu, Flügel auf, Flügel zu. Diese eindimensionale und einfältige Perspektive wird auf eigenwillige Weise kontrastiert durch die der Natur entnommenen Elemente: die absichtslose Linienführung der Holzmaserung und den Pelikan selbst, dem das alberne Spiel der Wiederholung und der dümmliche Kommentar „Interesting…“ nichts von seiner störrischen Würde nehmen können, der wir nichts entgegen zu setzen haben.

Claus Kienle, "Point and Shoot", Photo: C. Kienle


Etwas, das sich ebenfalls einer umgehenden Zuordnung entzieht, sind Anabel Leiners Arbeiten „in the morning - all dancers“ und „since I met you“.
Auch hier begegnet uns keine Evidenz, sondern ein tastender Versuch, sich einer nicht klar definierten Wirklichkeit zu nähern. Schicht legt sich über Schicht, Linien kreisen ein, verbinden, fügen sich zu Mustern, die anmuten, als wollten sie einmal lesbar werden, umrissene Formen, die unklar lassen, ob sie bloß auf dem Weg zu einer Fläche unvollendet geblieben sind, oder Umrisse von etwas Dreidimensionalem werden sollten. Sie zeigen den Prozess der Wahrnehmung und Aneignung als ein Unternehmen, das in den Bereich des Unbestimmten, des Unbekannten führt.

Anabel Leiner, "In the morning - all the dancers", Photo: A. Leiner

Für die Miniaturengruppe „La Narcissa“ von Jeanne Lefin hingegen steht die Evidenz außer Frage. Wie ein antikes Götterbild steht sie da, vergoldet, verharrend in dem Moment der Selbstablichtung. Die idealisierte Repräsentation hat ihre Schöpferin bereits ersetzt und, der Logik der Addition folgend, vervielfältigt sie sich nun selbst, um ihren digitalen Ausstellungswert dadurch noch zu erhöhen.

Jeanne Lefin, "La Narcissa", Photo: J. Lefin

In ihrer Arbeit „eine Standortbestimmung“ zieht Dagmar Nettelmann Schuldt hingegen eine ganz eindeutige Grenze zwischen dem Selbst und der Außenwirkung. Ein Kleid, aus Absperrband gestrickt, signalisiert in aller Deutlichkeit: Hier bin ich, unübersehbar, doch alles diesseits des Kleides, mein Selbst, ist Sperrgebiet und wird verborgen bleiben.
Dem ist ein überlebensgroßer Fingerabdruck gegenübergestellt, teils gezeichnet, teils geritzt, ein weiterer Verweis auf die Körperlichkeit der Identität, gleichzeitig darauf, welche zarten, komplexen und sich immer wieder der Darstellung entziehenden Spuren sie in der Welt hinterläßt und dadurch Zeugnis von sich gibt.

Dagmar Nettelmann-Schuldt, "Eine Standortbestimmung", Photo: D. Nettelmann-Schuldt

Lena Oehmsen hat in ihrer Arbeit „.RGB (Stra.enszene)“ die RGB-Farbwerte eines Handyfotos in die Zahlen gewandelt und ausgedruckt. So wird uns der Reduktionismus, den die wahrgenommene und später rekonstruierte und präsentierte Wirklichkeit durch die Digitalisierung unserer Wahrnehmungs-gewohnheiten erleidet, drastisch vor Augen geführt. Das, was sich auf der anderen Seite der digitalen Repräsentation tatsächlich zugetragen hat, können wir nur erahnen.

Lena Oehmsen, "RGB (Straßenszene)", Photo: L. Oehmsen

Der Bilderzyklus „Me at the Zoo“ von Carsten Rabe wendet sich wiederum der Beobachtung zu, die auf sich selbst und den Beobachter zurückweist. Dabei versucht er aber nicht eine Perspektive einzunehmen, die auf ihn als Individuum verweist, sondern er sucht einen Blickwinkel, der stellvertretend für unsere Gesellschaft stehen kann; eine Gesellschaft, deren Mitglieder so sehr mit der Selbstbetrachtung und Selbstinszenierung in einer virtuellen Umgebung beschäftigt sind, daß ihr reales Umfeld in einen seltsam provisorischen, ungeordneten oder mitunter komisch-grotesken Zustand abdriftet, dessen Ausstellungswert kaum die Anforderungen des Web 2.0 erfüllen könnte.

"Me at the Zoo", Ausstellungsansicht, Photo: Hayo Heye

Auch Silke Rath thematisiert mit ihrer Serie „Survivor“ das Spannungsfeld zwischen der virtuellen Realität und dem konkret Analogen und Lebendigen. Auch hier taucht das Körperliche auf als widerständiges Element, diesmal in Form von Mikroben, deren Existenz sich auf die bloße Physis beschränkt, die kein korumpierbares Bewußtsein hat, das verlockt werden könnte, als Avatar in alternative Realitäten zu emigrieren. Dem entspricht auch das Formale: die aus dem Internet gefischten Bildelemente, die auf einen hochtechnisierten Hintergrund verweisen, sind als klassische, analoge Papiercollagen umgesetzt.



Silke Rath, "Survivor", Photo: S. Rath

Wiebke Schwarzhans
wendet sich mit ihrer Klanginstallation - im Rahmen des Themas sehr überraschend - ganz von den Bildmedien ab. Eine körperlose Stimme schwebt durch den Ausstellungsraum und referiert frei assoziativ über die Psychologie des luziden Traums, Schlaf und die Etymologie des Wortes „Coaching“, dabei oszilliert die Diktion zwischen meditativem Selbstgespräch und dem anbiedernden Jargon der Werbung, aus deren Bereich die Stimme tatsächlich selbst stammt. Es drängt sich die Frage auf: wollen wir am Ende auch das letzte Geheimnis, das assoziative Dunkel und das kreative Spiel mit dem Zufall aufgeben und den Algorithmen überantworten?

"Mee at the Zoo", Ausstellungsansicht, Photo: Hayo Heye

Auch Yutta Saftien wirft vor allem eine Frage auf, wenn sie lediglich einen kleinen Zettel an die Wand nagelt, auf dem die paradoxe Notiz zu lesen ist „The air is filled with my absence“. Ist es heute noch möglich, ohne Sichtbarkeit Raum einzunehmen, so wie es Walther Benjamin für die Kultgegenstände beschrieben hat? Ist nicht das Bild, das wir von einem Menschen in uns tragen, viel dichter und spürbarer, als es eine physische Repräsentation zu sein vermag? Oder gehen wir hier nur einer besonders narzistischen Perspektive, die auf sich selbst verweist, auf den Leim?

Yutta Saftien, "The Air Is Filled With My Absecnce", Photo: Y. Saftien

In Stilla Seis Arbeit „Schau“ bewegen wir uns ebenfalls auf unsicheren Grund. Die gerasterten Abbildungen dreier seltsamer Objekte sind zu einer Gruppe zusammengefasst. In irgendeiner unbestimmten Form scheinen sie einander zugewandt, vielleicht sogar miteinander zu kommunizieren. Fraglich bleibt aber, aus was für einer Realität sie stammen, da selbst die sie rahmenden Passepartouts das gleiche vielschichtige Raster aufweisen, wie sie selbst. Sind es Repräsentanten? Natürliche Erscheinungen? Artefakte? Sind es unabhängige Entitäten oder verschiedene Verkörperungen ein und desselben Selbst? Was geschieht, wenn wir im Netz mit  einem programmierten Gegenüber kommunizieren? Oder wenn die Algorithmen, ohne es zu merken, mit sich selbst chatten?

Stilla Seis, "Schau", Photo: S. Seis

Mariane Timander Korth wendet sich mit ihren Bildgefügen, in denen Fotografie, Zeichnung und Collage kombiniert sind, ebenfalls dem Körper zu. Auch sie widerspricht dem Diktum der Evidenz und sieht in „Kopf, Brust und Bauch“ nicht nur Oberfläche, die zur Schau gestellt werden kann, sondern das ihnen innewohnende, verletzliche Selbst, dem man sich nur intim, vage und tastend nähern kann.

Mariane Timander-Korth, "Kopf, Brust, Bauch", Photo: M. Timander-Korth

Gabriele Walther schaut hingegen in die ganz andere Richtung: in der Arbeit „Raum-bodenlos“ beschäftigt sie sich mit der Verortung virtueller, körperloser Existenz, für die wir keinen anderen Begriff haben, als den völlig unpassenden des „Raums“, denn unser kognitives System kann sich Beziehungen nur räumlich Vorstellen. Doch die virtuellen „Räume“ des Internets sind raumlos, jeder Punkt kann mit jedem anderen unmittelbar verknüpft werden, während die Maschen im Netz nicht zu existieren scheinen. So lösen sich auch die räumlichen Beziehungen ihrer transluziden Acrylglas-Objekte in sich stetig wandelnden zweidimensionalen Farbschatten restlos auf.

Gabriele Walther, "Raum-bodenlos", Photo: G. Walther

Karin Witte schließlich wendet sich in ihrer Arbeit „Durch-Blicke“ wieder dem Selbst zu. Wir können, durch mehrere Bildebenen hindurch, den Rapport einer sich im Kontext stets wandelnden Profillinie sehen. Hier begegnet uns das Rätselhafte, Wandelbare und Fremdartige in uns selbst wieder, das ungewsisse Dunkel, das wir brauchen, um selbst in einer stetig sich wandelnden Welt und mit stets neu dazutretenden Mosaiksteinchen und Perspektiven unseres Selbst Identität und Haltung und zu bewahren.

Karin Witte, "Durch-Blicke", Photo: K. Witte


© Dr. Thomas J. Piesbergen/VGWort, Januar 2019







Montag, 7. Januar 2019

Die Metapher ist vor der Sprache

Einführungsrede und Katalogtext für Doris Cordes-Vollert: Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten von Dr. Thomas Piesbergen



Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018

Während er im Jahr 1801 an seiner Jungfrau von Orleans arbeitete, schrieb Friedrich Schiller in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe: „Ohne eine dunkle, aber mächtige Totalidee kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewusstlose aussprechen und mitteilen zu können, d. h. es in ein Objekt überzutragen.“1

Schiller sieht in einer „dunklen Totalidee“, die dem bewußten Denkakt vorausgeht, den Ursprung alles künstlerischen Schaffens. Die Arbeit des Künstlers besteht demnach darin, diesem vorbewußten Impuls, diesem Gefühl für eine noch nicht gebannte Gestalt, mit künstlerischen Mitteln eine objekthafte und dadurch mitteilbare Form zu geben.

Damit entrückt Schiller den Ursprung der Ideen in einen dunklen, unbestimmten Bereich, der von unserem von Vernunft und Wissenschaft geprägten Weltverständnis gerne übergangen wird. Besonders widerspricht Schiller hier dem üblichen Vorgehen der Kunstgeschichte, mit der sie sich Werkinhalten nähert. Denn sie leistet vor allem die Einordnung eines Werkes in den Kontext der Entwicklung formaler Ausdrucksmöglichkeiten und der Behandlung zeitspezifischer Motive.
Doch damit beschreibt sie nur den historisch eingeordneten Stand des Vokabulars und der Grammatik, derer sich der Künstler bedient - bestenfalls unter Berücksichtigung biographischer Verweise - nicht aber den verschlüsselten Inhalt der Werke. Die Kunstgeschichte verfügt nicht über die methodischen Mittel, um zu der eigentlichen Quelle des Schaffens vorzudringen, zu dem Ursprung der „dunklen Totalideen“.
Einen der wenigen Versuche, in die Tiefe des künstlerischen Impulses zu gelangen, unternahm Sigmund Freud mit seiner Analyse der Anna Selbdritt von Leonardo da Vinci, die jedoch bis heute ein Einzelfall geblieben ist.2
Ein Künstler, dessen Werk gezielt mit den klassischen Gesetzmäßigkeiten der Akademien und mit dem Bedeutungskanon von Bildthemen und -elementen brach, und mit der dadurch entstandenen Bedeutungsoffenheit den beschriebenen Mangel der kunstgeschichtlichen Perspektive bloßlegt, war Caspar David Friedrich, mit dem sich Doris Cordes-Vollert in ihrem Zyklus Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten intensiv auseinandergesetzt hat.

Friedrich selbst schrieb über den Ursprung seiner Bilder: „Die einzig wahre Quelle ist unser Herz, die Sprache des reinen kindlichen Gemütes. Ein Gebilde, so nicht aus diesem Borne entsprungen, kann nur Künstelei sein. Jedes echte Kunstwerk wird in geweihter Stunde empfangen und in glücklicher geboren, oft dem Künstler unbewußt aus innerem Drange des Herzens.“3

Dieser von klassischen Mustern befreite Bildfindungsprozess ist dafür verantwortlich, daß es kaum einen Künstler gibt, über den die Deutungen im kunsthistorischen Diskurs soweit auseinandergehen, so wie über Friedrich.4
In einem anderen Zitat heißt es: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“5

Wie nun aber kommen diese Bilder im inneren Dunkeln zustande, wie entsteht die „dunkle Totalidee“?
Um zu dieser Quelle vorzudringen, ist es nötig, das wissenschaftlich-empirische Denken abzustreifen und den Weg der Introspektion zu gehen. Genau das hat einer der Pioniere der zeitgenössischen Informatik unternommen.

David Gelernter, Wegbereiter des World Wide Web und der Programmiersprache Java, studierter Judaist und Bildender Künstler, setzte sich im Rahmen seiner Forschung zur künstlichen Intelligenz intensiv mit dem Phänomen der Kreativität und infolgedessen mit den Gegebenheiten des menschlichen Bewußtseins schlechthin auseinander. Dazu nutzte er, neben eigenen Beobachtungen, vor allem literarische Texte, in denen die unterschiedlichsten Bewußtseinszustände behandelt werden. Auf diesem Weg entwickelte er in seinem Buch Die Gezeiten des Geistes 6 ein Model des menschlichen Bewußtseins, das er als „Spektrum“ beschreibt, in dem der menschliche Geist im Laufe seines Lebens und im Laufe des Tages auf- und absteigt.

Stark vereinfacht befindet sich am oberen Rand des Spektrums die kontrollierende, emotionslose Vernunft, das in der Neurologie als kognitives Kontrollsystem bezeichnet und im Frontallappen lokalisiert wird. Von dort steigt der Geist ab durch assoziative Bereiche, Tagträume und Einschlafgedanken bis hinab zu den Träumen. Der untere Bereich des Spektrums, der eng mit körperlichen Zuständen verwoben ist, wird von dem sogenannten Default-Mode Network oder auch Ruhe-Standard-Netzwerk gesteuert, in dem fünf verschiedene Hirnregionen miteinander korrelieren.7
Während wir im oberen Bereich des Spektrums gezielt denken und unsere Erinnerung kontrollieren,  kehrt sich das Verhältnis, je weiter wir absteigen, schließlich um, bis wir im Traum von unseren Erinnerungen kontrolliert werden und nicht mehr gezielt denken oder schlußfolgern können, sondern nur noch sind.
Das Bewußtsein eines Kind hingegen, das von Friedrich für den Schaffensprozess als erforderlich bezeichnete reine kindliche Gemüt steigt erst langsam aus den unteren Regionen des Spektrums auf und erlebt die akuten Wahrnehmungen so zusammenhangslos und magisch, wie uns die Träume erscheinen. Das konkrete Träumen hingegen, und das Scheiden der magischen „Traumzeit“ von der Realität, setzt erst ein, sobald das Kind sich einen entsprechenden Schatz an Erinnerungen zusammengetragen hat.

An diesem Punkt wird selbstverständlich die Frage nach dem Zustandekommen unserer Erinnerungen interessant, und wie aus ihnen Qualia, also die rein subjektiven Erlebnisgehalte, und die Dynamik traumhafter Narrationen entstehen.

David Gelernter vergleicht den Prozess der Erinnerungsbildung mit dem übereinanderlegen transparenter Bildfolien. Wir legen Wahrnehmung nach Wahrnehmung übereinander, eliminieren durch Vergessen alles Ungewöhnliche, bis wir die konsistente Kontur eines sich wiederholenden Wahrnehmungsereignisses deutlich erkennen, und sie z.B. „Baum“ oder „Wolke“ nennen können. Auf diese Weise verinnerlichen wir alle unsere Wahrnehmungen, verdichten sie und tragen sie schließlich als eine Art innerer Urbilder in uns, die wir nun heranziehen können, um die erlebte Wirklichkeit zu ordnen und zu deuten. Wir bilden also Zusammenfassungen von Wahrnehmungen, die wir in unserem Gedächtnis ablegen. Auf ähnlichem Wege fassen wir auch sich wiederholende Gedanken zusammen.

Als die effektivsten Zusammenfassungen von Gedächtnisinhalten bezeichnet Gelernter jedoch die Gefühle, aus denen die narrativen Träume ebenso hervorgehen, wie die tagräumenden Qualia eines Marcel Proust. Durch Gefühle können sonst disparate Dinge zusammengeführt werden, da sie sich ähnlich anfühlen. Ein illustrierender Extremfall solcher Verknüpfungen sind synästhetische Wahrnehmungen, in denen Töne, Buchstaben und Farben als untrennbar miteinander verbunden oder sogar als identisch miteinander wahrgenommen werden, da sie sich gleich anfühlen.

Hier sieht Gelernter den Ursprung des kreativen Denkens, das nach seinem Dafürhalten schließlich doch dem Menschen vorbehalten bleibt und niemals von den Algorithmen künstlicher Intelligenz nachgeahmt werden kann, da das dazu nötige emotionale und körperliche Empfinden des Seins, mit dem Erfahrungen und Erinnerungen in neue, kreative Zusammenhänge gebracht werden, in den Bereich des „Unaussprechlichen“ gehört, wie der Dichter Kurt Drawert es nennt 8, und damit auch in den Bereich des Nicht-Messbaren. Und was nicht quantisierbar ist, läßt sich auch nicht programmieren.

Wenn Rainer Maria Rilke in der 8. Duineser Elegie schreibt:

… Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends
.9

wird deutlich, die hier entstandene Metapher hat ihren Ursprung nicht in einer Arbeit mit der Sprache, sondern in einem Nachspüren und Ausloten von einander entsprechenden Empfindungen und Gefühlen, die man zwar nachträglich rationalisieren kann, die man aber nie durch rationales Vorgehen zu so einer wirkmächtigen Poesie zusammenfügen könnte.
In dem der Künstler seinem Geist erlaubt, in die unteren Regionen des Spektrums abzusteigen, treten die Bilder an diesem verdunkelten Ort von selbst zusammen. Die Metapher ist vor der Sprache.

In seinen Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten schreibt Carl Gustav Carus über Caspar David Friedrich: „Er machte nie Skizzen, Kartons, Farbentwürfe zu seinen Gemälden, denn er behauptete (und gewiß nicht ganz mit Unrecht), die Phantasie erkalte immer etwas durch diese Hilfsmittel. Er fing das Bild nicht an, bis es lebendig vor seiner Seele stand.“10

Andererseits ist bekannt, daß Friedrich seine Bilder mit Zirkel, Parabel und Reißschiene regelrecht durchkonstruierte11 und sich auf das Konzept der „romantischen Mathematik“ von Novalis bezog, der seinerseits konstatierte „Geometrie ist transzendentale Zeichenkunst“ und „Reine Mathematik ist Religion“.12

Diesen scheinbaren Widerspruch erhellt ein anderes Zitat von Friedrich selbst: „Die Kunst tritt als Mittlerin zwischen die Natur und den Menschen. Das Urbild ist der Menge zu groß zu erhaben um es erfassen zu können.“
Mit dem Urbild der Natur kann nur das von ihm Empfundene gemeint sein, die „dunkle Totalidee“ der Naturerscheinung, die das „geistige Auge“ im „kindlichen Gemüt“ erblickt hat, um es von dort hervorzuholen und mit den technischen Mitteln der Kunst so aufzubereiten, daß es „zurückwirke auf andere“.
Darin liegt auch der Grund, warum er sich standhaft weigerte, ein naturwissenschaftliches Werk von Goethe über die Wolkenbildung zu illustrieren.13

So, wie wir uns zuvor gefragt haben, auf welche Weise die Erinnerungen im Allgemeinen im menschlichen Bewußtsein Form annehmen, so müssen wir uns nun fragen, wie im Speziellen die Urbilder, die Friedrich in seiner Malerei übersetzte, entstanden sind.
An diesem Punkt wenden wir uns, mit Doris Cordes-Vollert, dem Zeichner Caspar David Friedrich zu, von dem wir wissen, daß er unermüdlich in die Natur gegangen ist, um ihre zahllosen Erscheinungen in Skizzen zu ergründen.

Doris Cordes-Vollert wuchs mit einer Reproduktion der Zeichnung Früher Schnee von Friedrich auf, die einen Waldweg zeigt. Mit ihrem Vater besuchte sie auch regelmäßig das Original in der Hamburger Kunsthalle. Sie bewunderte stets den unglaublich zarten, behutsam voran sich tastenden Strich, der, im Gegensatz zu Friedrichs Art zu malen, nicht der im Inneren geschauten Form folgt, sondern den in der Außenwelt beobachteten Erscheinungen. Von diesen Zeichnungen, die sich fast ausschließlich der Natur widmen, sind von einer heute nicht mehr rekonstruierbaren Zahl noch über 1000 Stück bekannt. 14
In diesen Zeichnungen und der damit verbundenen genauen Naturbeobachtung, können wir also die Quelle sehen, aus der Friedrich seinen inneren Bilderspeicher speiste und Bildfolie über Bildfolie legte, bis ein inneres „Urbild“ daraus wurde.

Caspar David Friedrich, Trudenstein, 1811

Caspar David Friedrich, Eichenstudie, undatiert


Dieses Tasten und Befühlen der umgebenden Wirklichkeit mittels Bleistift, Kohle oder Feder ist das zentrale Motiv für die vorliegenden Arbeiten von Doris Cordes-Vollert. Dazu übertrug sie Zitate von Friedrich selbst, Bemerkungen über ihn sowie ihre eigenen Gedanken in die Braille-Schrift und brachte sie ein in Blätter, in die sie vorher bereits lange Risse ihres Atelierfußbodens mit Frottage-Technik eingeprägt hat.

So wie sich Caspar David Friedrich der Natur in einem ersten künstlerischen Aneignungsprozess genähert hat, so nähern wir uns ihm und seinem Schaffensprozess, mit dem Unterschied, daß er es mit dem tastenden Bleistift tat, wir mit unseren Fingerkuppen auf dem Papier.

Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018

Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018


Gleichzeitig sehen wir neben den Braille-Texten die geprägten Formen, mit denen Doris Cordes-Vollert die Gleichsetzung von Betasten und Zeichnen eindrucksvoll umsetzt, indem sie mit dem Finger durch ein angefeuchtetes Papier die Risse im Boden ihres Ateliers nachgezeichnet hat.
Die geprägten Linien haben eine zweifellos zeichnerische Anmutung und lösen unmittelbar vielschichtige Assoziationen mit Blitzen, feinen Erosionsrinnen, Wurzelwerk, Adern oder anderen dynamischen und fließenden Naturerscheinungen aus, die mit unserer Vorstellung eines Künstlers, der den inneren Geheimnissen von Seele und Natur auf der Spur ist, in einen inspirierenden und ergebnisoffenen Dialog treten.

So gelingt es, die zwei Pole des künstlerischen Schaffensprozess, die bei Friedrich in formal getrennten Bereichen seines Werks behandelt werden, in einem geschlossenen ästhetischen Zusammenhang zu vereinen: auf der einen Seite das unmittelbare Abtasten der Realität, das am Anfang aller rezeptiven und künstlerischen Prozesse steht, auf der anderen das maximal abstrahierte Ergebnis des Prozesses.
Zudem wird dieser hierarchielose Dialog ursächlich gänzlich unterschiedlicher Phänomene durch die ästhetisch homogene Behandlung zu etwas, in dem wir unmittelbar erfahren können, wie wir gegenüber eigentlich disparaten Dingen das gleiche Gefühl entwickeln.

Und damit verweisen die Blätter der Ausstellung Geprägtes verarbeiten - Erhabenes ertasten schließlich wieder auf den unteren Bereich von David Gelernters Spektrum, in dem unser Gefühl zu den Dingen Verwandtschaften zu Erinnerungen an Empfindungen, Beobachtungen und Ereignissen herstellt und uns auf diesem Weg vorsprachliche Metaphern bilden läßt, mit denen wir versuchen, unsere Welterfahrung mitteilbar zu machen, selbst wenn sie dunkel bleibt, so wie in einem von Doris Cordes-Vollerts Texten:

„Eben fiel mir ein / was mein Vater mir wohlwollend mitteilte / und was ich heute sehr schätze / aber mir fällt grad nicht ein / was es genau war. / Bei uns hing ein Bild von Caspar David Friedrich, / ein Waldweg.“

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2018


Literaturverweise


1 Friedrich Schiller an Goethe (27. März 1801) in: Friedrich Schiller: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, Fritz Jonas (Hg.), Stuttgart 1895, S. 242

2 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, (1910), Fischer TBV, 1982

3 Sigrid Hinz, Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Rogner&Bernhard, München 1974, S. 92

4 Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich: Forschung, Instrumentalisierung, Verständnis.
In: Giesela Greve (Hg.): Caspar David Friedrich. Deutungen im Dialog. edition diskord, Tübingen 2006, S. 13


5 Friedrich, Caspar David, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. In: Gerhard Eimer, Günther Rat, (Hg.) Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Teil 1, Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, XVI, Frankfurt am Main 1999, S. 35

6 David Gelernter, Gezeiten des Geistes, Ullstein Verlag, Berlin 2016

7 Iseme Kolovos, Kraftwerk Gehirn, in: Bild der Wissenschaft 10/2018

8 Kurt Drawert, Schreiben. Vom Leben der Texte, C.H. Beck, München 2012

9 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Insel Verlag, 1955

10 Carl Gustav Carus, Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Kiepenheuer Verlag, Weimar 1865, Bd. 1, S. 166

11 Werner Sumowski, Caspar David Friedrich. Winterlandschaften. Dortmund 1990, S. 42 ff

12 Novalis, Fragmente, Insel-Bücherei, Leipzig 1919

13 Lea Singer, Anatomie der Wolken, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015

14 Christina Grummt, Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen. Das gesamte Werk. C.H. Beck, München 2011, S. 23