Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018 |
Während er im Jahr 1801 an seiner Jungfrau von Orleans arbeitete, schrieb Friedrich Schiller in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe: „Ohne eine dunkle, aber mächtige Totalidee kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewusstlose aussprechen und mitteilen zu können, d. h. es in ein Objekt überzutragen.“1
Schiller sieht in einer „dunklen Totalidee“, die dem bewußten Denkakt vorausgeht, den Ursprung alles künstlerischen Schaffens. Die Arbeit des Künstlers besteht demnach darin, diesem vorbewußten Impuls, diesem Gefühl für eine noch nicht gebannte Gestalt, mit künstlerischen Mitteln eine objekthafte und dadurch mitteilbare Form zu geben.
Damit entrückt Schiller den Ursprung der Ideen in einen dunklen, unbestimmten Bereich, der von unserem von Vernunft und Wissenschaft geprägten Weltverständnis gerne übergangen wird. Besonders widerspricht Schiller hier dem üblichen Vorgehen der Kunstgeschichte, mit der sie sich Werkinhalten nähert. Denn sie leistet vor allem die Einordnung eines Werkes in den Kontext der Entwicklung formaler Ausdrucksmöglichkeiten und der Behandlung zeitspezifischer Motive.
Doch damit beschreibt sie nur den historisch eingeordneten Stand des Vokabulars und der Grammatik, derer sich der Künstler bedient - bestenfalls unter Berücksichtigung biographischer Verweise - nicht aber den verschlüsselten Inhalt der Werke. Die Kunstgeschichte verfügt nicht über die methodischen Mittel, um zu der eigentlichen Quelle des Schaffens vorzudringen, zu dem Ursprung der „dunklen Totalideen“.
Einen der wenigen Versuche, in die Tiefe des künstlerischen Impulses zu gelangen, unternahm Sigmund Freud mit seiner Analyse der Anna Selbdritt von Leonardo da Vinci, die jedoch bis heute ein Einzelfall geblieben ist.2
Ein Künstler, dessen Werk gezielt mit den klassischen Gesetzmäßigkeiten der Akademien und mit dem Bedeutungskanon von Bildthemen und -elementen brach, und mit der dadurch entstandenen Bedeutungsoffenheit den beschriebenen Mangel der kunstgeschichtlichen Perspektive bloßlegt, war Caspar David Friedrich, mit dem sich Doris Cordes-Vollert in ihrem Zyklus Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten intensiv auseinandergesetzt hat.
Friedrich selbst schrieb über den Ursprung seiner Bilder: „Die einzig wahre Quelle ist unser Herz, die Sprache des reinen kindlichen Gemütes. Ein Gebilde, so nicht aus diesem Borne entsprungen, kann nur Künstelei sein. Jedes echte Kunstwerk wird in geweihter Stunde empfangen und in glücklicher geboren, oft dem Künstler unbewußt aus innerem Drange des Herzens.“3
Dieser von klassischen Mustern befreite Bildfindungsprozess ist dafür verantwortlich, daß es kaum einen Künstler gibt, über den die Deutungen im kunsthistorischen Diskurs soweit auseinandergehen, so wie über Friedrich.4
In einem anderen Zitat heißt es: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“5
Wie nun aber kommen diese Bilder im inneren Dunkeln zustande, wie entsteht die „dunkle Totalidee“?
Um zu dieser Quelle vorzudringen, ist es nötig, das wissenschaftlich-empirische Denken abzustreifen und den Weg der Introspektion zu gehen. Genau das hat einer der Pioniere der zeitgenössischen Informatik unternommen.
David Gelernter, Wegbereiter des World Wide Web und der Programmiersprache Java, studierter Judaist und Bildender Künstler, setzte sich im Rahmen seiner Forschung zur künstlichen Intelligenz intensiv mit dem Phänomen der Kreativität und infolgedessen mit den Gegebenheiten des menschlichen Bewußtseins schlechthin auseinander. Dazu nutzte er, neben eigenen Beobachtungen, vor allem literarische Texte, in denen die unterschiedlichsten Bewußtseinszustände behandelt werden. Auf diesem Weg entwickelte er in seinem Buch Die Gezeiten des Geistes 6 ein Model des menschlichen Bewußtseins, das er als „Spektrum“ beschreibt, in dem der menschliche Geist im Laufe seines Lebens und im Laufe des Tages auf- und absteigt.
Stark vereinfacht befindet sich am oberen Rand des Spektrums die kontrollierende, emotionslose Vernunft, das in der Neurologie als kognitives Kontrollsystem bezeichnet und im Frontallappen lokalisiert wird. Von dort steigt der Geist ab durch assoziative Bereiche, Tagträume und Einschlafgedanken bis hinab zu den Träumen. Der untere Bereich des Spektrums, der eng mit körperlichen Zuständen verwoben ist, wird von dem sogenannten Default-Mode Network oder auch Ruhe-Standard-Netzwerk gesteuert, in dem fünf verschiedene Hirnregionen miteinander korrelieren.7
Während wir im oberen Bereich des Spektrums gezielt denken und unsere Erinnerung kontrollieren, kehrt sich das Verhältnis, je weiter wir absteigen, schließlich um, bis wir im Traum von unseren Erinnerungen kontrolliert werden und nicht mehr gezielt denken oder schlußfolgern können, sondern nur noch sind.
Das Bewußtsein eines Kind hingegen, das von Friedrich für den Schaffensprozess als erforderlich bezeichnete reine kindliche Gemüt steigt erst langsam aus den unteren Regionen des Spektrums auf und erlebt die akuten Wahrnehmungen so zusammenhangslos und magisch, wie uns die Träume erscheinen. Das konkrete Träumen hingegen, und das Scheiden der magischen „Traumzeit“ von der Realität, setzt erst ein, sobald das Kind sich einen entsprechenden Schatz an Erinnerungen zusammengetragen hat.
An diesem Punkt wird selbstverständlich die Frage nach dem Zustandekommen unserer Erinnerungen interessant, und wie aus ihnen Qualia, also die rein subjektiven Erlebnisgehalte, und die Dynamik traumhafter Narrationen entstehen.
David Gelernter vergleicht den Prozess der Erinnerungsbildung mit dem übereinanderlegen transparenter Bildfolien. Wir legen Wahrnehmung nach Wahrnehmung übereinander, eliminieren durch Vergessen alles Ungewöhnliche, bis wir die konsistente Kontur eines sich wiederholenden Wahrnehmungsereignisses deutlich erkennen, und sie z.B. „Baum“ oder „Wolke“ nennen können. Auf diese Weise verinnerlichen wir alle unsere Wahrnehmungen, verdichten sie und tragen sie schließlich als eine Art innerer Urbilder in uns, die wir nun heranziehen können, um die erlebte Wirklichkeit zu ordnen und zu deuten. Wir bilden also Zusammenfassungen von Wahrnehmungen, die wir in unserem Gedächtnis ablegen. Auf ähnlichem Wege fassen wir auch sich wiederholende Gedanken zusammen.
Als die effektivsten Zusammenfassungen von Gedächtnisinhalten bezeichnet Gelernter jedoch die Gefühle, aus denen die narrativen Träume ebenso hervorgehen, wie die tagräumenden Qualia eines Marcel Proust. Durch Gefühle können sonst disparate Dinge zusammengeführt werden, da sie sich ähnlich anfühlen. Ein illustrierender Extremfall solcher Verknüpfungen sind synästhetische Wahrnehmungen, in denen Töne, Buchstaben und Farben als untrennbar miteinander verbunden oder sogar als identisch miteinander wahrgenommen werden, da sie sich gleich anfühlen.
Hier sieht Gelernter den Ursprung des kreativen Denkens, das nach seinem Dafürhalten schließlich doch dem Menschen vorbehalten bleibt und niemals von den Algorithmen künstlicher Intelligenz nachgeahmt werden kann, da das dazu nötige emotionale und körperliche Empfinden des Seins, mit dem Erfahrungen und Erinnerungen in neue, kreative Zusammenhänge gebracht werden, in den Bereich des „Unaussprechlichen“ gehört, wie der Dichter Kurt Drawert es nennt 8, und damit auch in den Bereich des Nicht-Messbaren. Und was nicht quantisierbar ist, läßt sich auch nicht programmieren.
Wenn Rainer Maria Rilke in der 8. Duineser Elegie schreibt:
… Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.9
wird deutlich, die hier entstandene Metapher hat ihren Ursprung nicht in einer Arbeit mit der Sprache, sondern in einem Nachspüren und Ausloten von einander entsprechenden Empfindungen und Gefühlen, die man zwar nachträglich rationalisieren kann, die man aber nie durch rationales Vorgehen zu so einer wirkmächtigen Poesie zusammenfügen könnte.
In dem der Künstler seinem Geist erlaubt, in die unteren Regionen des Spektrums abzusteigen, treten die Bilder an diesem verdunkelten Ort von selbst zusammen. Die Metapher ist vor der Sprache.
In seinen Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten schreibt Carl Gustav Carus über Caspar David Friedrich: „Er machte nie Skizzen, Kartons, Farbentwürfe zu seinen Gemälden, denn er behauptete (und gewiß nicht ganz mit Unrecht), die Phantasie erkalte immer etwas durch diese Hilfsmittel. Er fing das Bild nicht an, bis es lebendig vor seiner Seele stand.“10
Andererseits ist bekannt, daß Friedrich seine Bilder mit Zirkel, Parabel und Reißschiene regelrecht durchkonstruierte11 und sich auf das Konzept der „romantischen Mathematik“ von Novalis bezog, der seinerseits konstatierte „Geometrie ist transzendentale Zeichenkunst“ und „Reine Mathematik ist Religion“.12
Diesen scheinbaren Widerspruch erhellt ein anderes Zitat von Friedrich selbst: „Die Kunst tritt als Mittlerin zwischen die Natur und den Menschen. Das Urbild ist der Menge zu groß zu erhaben um es erfassen zu können.“
Mit dem Urbild der Natur kann nur das von ihm Empfundene gemeint sein, die „dunkle Totalidee“ der Naturerscheinung, die das „geistige Auge“ im „kindlichen Gemüt“ erblickt hat, um es von dort hervorzuholen und mit den technischen Mitteln der Kunst so aufzubereiten, daß es „zurückwirke auf andere“.
Darin liegt auch der Grund, warum er sich standhaft weigerte, ein naturwissenschaftliches Werk von Goethe über die Wolkenbildung zu illustrieren.13
So, wie wir uns zuvor gefragt haben, auf welche Weise die Erinnerungen im Allgemeinen im menschlichen Bewußtsein Form annehmen, so müssen wir uns nun fragen, wie im Speziellen die Urbilder, die Friedrich in seiner Malerei übersetzte, entstanden sind.
An diesem Punkt wenden wir uns, mit Doris Cordes-Vollert, dem Zeichner Caspar David Friedrich zu, von dem wir wissen, daß er unermüdlich in die Natur gegangen ist, um ihre zahllosen Erscheinungen in Skizzen zu ergründen.
Doris Cordes-Vollert wuchs mit einer Reproduktion der Zeichnung Früher Schnee von Friedrich auf, die einen Waldweg zeigt. Mit ihrem Vater besuchte sie auch regelmäßig das Original in der Hamburger Kunsthalle. Sie bewunderte stets den unglaublich zarten, behutsam voran sich tastenden Strich, der, im Gegensatz zu Friedrichs Art zu malen, nicht der im Inneren geschauten Form folgt, sondern den in der Außenwelt beobachteten Erscheinungen. Von diesen Zeichnungen, die sich fast ausschließlich der Natur widmen, sind von einer heute nicht mehr rekonstruierbaren Zahl noch über 1000 Stück bekannt. 14
In diesen Zeichnungen und der damit verbundenen genauen Naturbeobachtung, können wir also die Quelle sehen, aus der Friedrich seinen inneren Bilderspeicher speiste und Bildfolie über Bildfolie legte, bis ein inneres „Urbild“ daraus wurde.
Caspar David Friedrich, Trudenstein, 1811 |
Caspar David Friedrich, Eichenstudie, undatiert |
Dieses Tasten und Befühlen der umgebenden Wirklichkeit mittels Bleistift, Kohle oder Feder ist das zentrale Motiv für die vorliegenden Arbeiten von Doris Cordes-Vollert. Dazu übertrug sie Zitate von Friedrich selbst, Bemerkungen über ihn sowie ihre eigenen Gedanken in die Braille-Schrift und brachte sie ein in Blätter, in die sie vorher bereits lange Risse ihres Atelierfußbodens mit Frottage-Technik eingeprägt hat.
So wie sich Caspar David Friedrich der Natur in einem ersten künstlerischen Aneignungsprozess genähert hat, so nähern wir uns ihm und seinem Schaffensprozess, mit dem Unterschied, daß er es mit dem tastenden Bleistift tat, wir mit unseren Fingerkuppen auf dem Papier.
Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018 |
Doris Cordes-Vollert "Geprägtes Verarbeiten - Erhabenes Ertasten", 2018 |
Gleichzeitig sehen wir neben den Braille-Texten die geprägten Formen, mit denen Doris Cordes-Vollert die Gleichsetzung von Betasten und Zeichnen eindrucksvoll umsetzt, indem sie mit dem Finger durch ein angefeuchtetes Papier die Risse im Boden ihres Ateliers nachgezeichnet hat.
Die geprägten Linien haben eine zweifellos zeichnerische Anmutung und lösen unmittelbar vielschichtige Assoziationen mit Blitzen, feinen Erosionsrinnen, Wurzelwerk, Adern oder anderen dynamischen und fließenden Naturerscheinungen aus, die mit unserer Vorstellung eines Künstlers, der den inneren Geheimnissen von Seele und Natur auf der Spur ist, in einen inspirierenden und ergebnisoffenen Dialog treten.
So gelingt es, die zwei Pole des künstlerischen Schaffensprozess, die bei Friedrich in formal getrennten Bereichen seines Werks behandelt werden, in einem geschlossenen ästhetischen Zusammenhang zu vereinen: auf der einen Seite das unmittelbare Abtasten der Realität, das am Anfang aller rezeptiven und künstlerischen Prozesse steht, auf der anderen das maximal abstrahierte Ergebnis des Prozesses.
Zudem wird dieser hierarchielose Dialog ursächlich gänzlich unterschiedlicher Phänomene durch die ästhetisch homogene Behandlung zu etwas, in dem wir unmittelbar erfahren können, wie wir gegenüber eigentlich disparaten Dingen das gleiche Gefühl entwickeln.
Und damit verweisen die Blätter der Ausstellung Geprägtes verarbeiten - Erhabenes ertasten schließlich wieder auf den unteren Bereich von David Gelernters Spektrum, in dem unser Gefühl zu den Dingen Verwandtschaften zu Erinnerungen an Empfindungen, Beobachtungen und Ereignissen herstellt und uns auf diesem Weg vorsprachliche Metaphern bilden läßt, mit denen wir versuchen, unsere Welterfahrung mitteilbar zu machen, selbst wenn sie dunkel bleibt, so wie in einem von Doris Cordes-Vollerts Texten:
„Eben fiel mir ein / was mein Vater mir wohlwollend mitteilte / und was ich heute sehr schätze / aber mir fällt grad nicht ein / was es genau war. / Bei uns hing ein Bild von Caspar David Friedrich, / ein Waldweg.“
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2018
Literaturverweise
1 Friedrich Schiller an Goethe (27. März 1801) in: Friedrich Schiller: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, Fritz Jonas (Hg.), Stuttgart 1895, S. 242
2 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, (1910), Fischer TBV, 1982
3 Sigrid Hinz, Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Rogner&Bernhard, München 1974, S. 92
4 Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich: Forschung, Instrumentalisierung, Verständnis.
In: Giesela Greve (Hg.): Caspar David Friedrich. Deutungen im Dialog. edition diskord, Tübingen 2006, S. 13
5 Friedrich, Caspar David, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. In: Gerhard Eimer, Günther Rat, (Hg.) Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Teil 1, Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, XVI, Frankfurt am Main 1999, S. 35
6 David Gelernter, Gezeiten des Geistes, Ullstein Verlag, Berlin 2016
7 Iseme Kolovos, Kraftwerk Gehirn, in: Bild der Wissenschaft 10/2018
8 Kurt Drawert, Schreiben. Vom Leben der Texte, C.H. Beck, München 2012
9 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Insel Verlag, 1955
10 Carl Gustav Carus, Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Kiepenheuer Verlag, Weimar 1865, Bd. 1, S. 166
11 Werner Sumowski, Caspar David Friedrich. Winterlandschaften. Dortmund 1990, S. 42 ff
12 Novalis, Fragmente, Insel-Bücherei, Leipzig 1919
13 Lea Singer, Anatomie der Wolken, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015
14 Christina Grummt, Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen. Das gesamte Werk. C.H. Beck, München 2011, S. 23
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