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Dorothea Fischer, Jahresgaben Y8, 2019, Atelieransicht |
Die Malerei besteht seit ihren Anfängen im Mittelpaläolithikum aus den Aspekten Farbe und Form. Für die Formgebung kann als gesichert gelten, daß sie sowohl abstrakte symbolische Bedeutung vermittelte, als auch natürliche Erscheinungen realistisch nachbilden sollte. Für die Farbe kann aufgrund sepulkraler Fundzusammenhänge das Gleiche angenommen werden: auch sie sollte symbolische Inhalte transportieren.
An dieser Dualität von Mimesis und Symbol hat sich über Jahrtausende nichts geändert, bis mit den Paradigmenwechseln der Moderne sich die Form durch die freie Abstraktion von der naturalistischen Nachbildung emanzipierte, die Farbe durch den Fauvismus, durch den sie ihre mimetische und symbolische Bedeutung zugunsten einer emotionalen Lesbarkeit abstreifte. Vor allem die Exponenten des Neo-Expressionismus, die die Farbe endgültig von Formgebundenheit und konventionellen Chiffren befreit haben, betonten die zentrale Bedeutung des emotionalen Ausdrucks. Doch auch in diesem Kontext blieb die Farbe stets der Gestaltungsabsicht des Künstlers unterworfen, also den Anforderungen der Repräsentation.
Dorothea Fischer beschreitet in ihrem Umgang mit der Farbe einen vierten Weg. Sie begreift sie nicht als Vehikel eines individuellen Impulses, nicht als Medium einer wie auch immer gearteten Gestaltungsabsicht, in der Mimesis, Symbol oder Emotion die Richtung vorzeichnen. Für sie stellt eine Farbe zunächst nichts anderes dar als eine elektromagnetische Welle, der sie nachspürt, auf deren Frequenzen sie intuitiv reagiert und darauf ihre Arbeit aufbaut.
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Dorothea Fischer, Jahresgabe Y8, einzelnes Element, 2019 |
Die initialen Farben, die den Jahresgaben des Yogazentrums Y8 zugrunde liegen, fand Dorothea Fischer im thematischen Kontext des Yoga: Es sind die Farben von Saris, von alten indischen Malereien, sie sind inspiriert von den Pigmenten, die auf indischen Festen eine Rolle spielen, oder es sind Farben, die ganz konkret den verschiedenen Chakren zugeordnet werden. Diese Farben bilden jeweils die Grundierung einer Leinwand, deren Größe den Bodenplatten des Yogazentrums Y8 entspricht.
Auf diese Farbfelder bringt Dorothea Fischer Schicht um Schicht dünne Lasuren auf, die mit der Ausgangsfarbe dynamisch interagieren. Ziel dieses Prozesses ist es, einen Zustand zu erreichen, in dem die verschiedenen Frequenzen zu einem Gleichgewicht der Kräfte finden, ohne daß sie sich gegenseitig auslöschen, sondern ihre Energie erfahrbar bleibt.
Bereits in diesem Malprozess, der von der Idee der Repräsentation weitestgehend befreit ist und nur durch die Eigendynamik der Farben geleitet wird, tritt die Gestaltungsabsicht der Malerin hinter dem Eigenleben der Farben zurück. Betrachtet man diesen Zusammenhang unter den Vorzeichen asiatischer Spiritualität, ist darin unschwer der Versuch zu erkennen, das „Ich“ und seine Anhaftungen hinter sich zu lassen. Die Sucht des „Ichs“ nach der Bestätigung seiner selbst mittels der Repräsentation soll überwunden werden.
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Dorothea Fischer, Jahresgaben Y8, 2019, Atelieransicht |
Die Suspendierung der Gestaltungsabsicht beschränkt sich aber nicht nur auf den Arbeitsprozess, sondern sie erstreckt sich auch in den Bereich der Rezeption. Die vielschichtigen Farbfelder sind so konzipiert, daß sie nicht nur als Einzelstücke das in ihnen erreichte dynamische Gleichgewicht erfahrbar werden lassen. Sie werden präsentiert als frei gestaltbares Cluster, in dem sie miteinander in Wechselwirkung treten. In dem der Rezipient dazu aufgefordert ist, die Farbfelder selbst zu ordnen, kann er die Farbspannungen und ihre Eigendynamik unmittelbar erleben - und sich bestenfalls von ihnen leiten lassen. So kann nicht nur der von vordergründiger Gestaltungsabsicht emanzipierte Schaffensprozess nachempfunden und -vollzogen werden; darüber hinaus wird die hierarchische Trennung von Künstler und Rezipienten aufgehoben, denn beide fügen sich dem Potenzial, das die Farben selbst in sich bergen.
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Dorothea Fischer, Jahresgaben Y8, 2019, Atelieransicht |
Im Sanskrit werden die Begriffe
Dēśī und
Mārga verwendet, um die historisch bedingten und kulturspezifischen Erscheinungen abzugrenzen von dem Allgemeingültigen, dem überindividuellen „Pfad“, der allen spezifischen Erscheinungen zugrunde liegt, in der Regel aber von ihnen überdeckt wird und deshalb verborgen bleibt.
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Dorothea Fischer, Jahresgaben Y8, 2019, Atelieransicht |
In der offenen und nur temporär bestehenden Installation aller Farbfelder der Jahresgaben hat Dorothea Fischer die Farbe von nahezu allen historisch und kulturell bedingten und damit auch von allen individuellen Grenzen und Strukturen befreit und einen elementaren Zugang zu den Grundlagen farblicher Wechselwirkung eröffnet, zum
Mārga der Farbe, zu ihrem autonomen Reich und der darin wirksamen Gesetzmäßigkeiten, die mit ihrer inneren Kraft alle individuelle Gestaltungsabsicht transzendieren.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Januar 2019