Die Ausstellung "Fosylcanruun" von Bernhard Schwank findet im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit" im Einstellungsraum e.V. statt. Aufgrund der aktuellen Beschränkungen ist sie als Schaufensterpräsentation zu sehen.
Auf unserem Planeten gibt es abertausende von Ethnien, deren Gesellschaftsstrukturen, Sprachen, Ideologien und kosmologischen Konzepte unterschiedlicher kaum sein könnten. Eines jedoch teilen die meisten von Ihnen, unabhängig wie weit voneinander entfernt sie leben und wie unterschiedlich ihre kulturelle Genese auch gewesen sein mochte: Ihre Eigenbezeichnungen bedeuten fast immer in wörtlicher Übersetzung „Mensch“, während ihre Fremdbezeichnungen und die Bezeichnungen, mit denen sie selbst Zugehörige anderer Ethnien bedenken, meist ausdrücklich negative Konnotationen haben.
Die Eigenbezeichnung „Inuit“ bedeutet ebenso „Mensch“ wie „Diné“, der eigentliche Name der Navajo. Die Navajo bezeichnen andere Menschen als „Anaa´i“, was sowohl „Fremder“ als auch „Feind“ bedeutet. Die Selbstbezeichnung „Hmong“, eine Ethnie im Goldenen Dreieck, lautet übersetzt „freie Menschen“, während sie von ihren Nachbarn als „Miao“, als Barbaren bezeichnet werden. Buschleute nennen sich selbst „Khoikhoi“, die „wahren Menschen“ oder „Kwe“, was ebenfalls „Mensch“ heißt, während sie von anderen Gruppen als „San“ bezeichnet werden, was gleichbedeutend ist mit „Fremder“ und „Bandit“. Die Tuareg, die von den Arabern „Tawariq“, das „von Gott verlassene Volk“ genannt werden, nennen sich selbst, je nach Herkunft, Imajeghen, Imuhagh oder Imushagh, was jeweils „Mensch freier Abstammung“ bedeutet. Auch die Eigennamen der sibirischen Nenzen und Nganasanen bedeuten jeweils „Mensch“. Ihre russisch-sprachigen Nachbarn nennen sie jedoch „Samojeden“, die „Selbstverzehrer“, also Kannibalen.
Diese wenigen Beispiele verschiedenster Provenienz sollen genügen, um die Haltung zu verdeutlichen, die Menschengruppen in der Regel bei der Beurteilung der eigenen und fremder Kulturen an den Tag legen. Die eigene Kultur stellt dabei den Normzustand dar, das „wahre“ Menschsein, alle Zugehörigen anderer Ethnien können also nur Verbrecher, von Gott Verlassene, Feinde oder Kannibalen sein. Die Besonderheiten der eigenen Kultur werden nicht gesehen, lediglich die davon abweichenden Merkmale bei anderen beobachtet, verschmäht, bespöttelt oder stigmatisiert. Die eigene kulturelle Praxis bleibt unser blinder Fleck, der Standpunkt, von dem aus wir andere beurteilen, der aber selbst unsichtbar bleibt.
Die Legitimation, die wir in der sogenannten westlichen, aufgeklärten Kultur dafür heranziehen, unterscheidet sich auf den ersten Blick sehr von den ahistorischen und historischen Traditionen. Während die ahistorischen Kulturen davon ausgehen, daß ihre mythische Ordnung die allgemeingültige Ordnung einer zyklischen, unwandelbaren Welt darstellt, deren Teil sie sind, nur sie also durch ihre Riten den Erhalt der Welt gewährleisten können, denken und handeln die meisten großen historischen Religionen teleologisch, also zielgerichtet in einer linearen Welt, an deren Ende ein Himmelreich steht, um dessen Verwirklichung sie mit den „irrgläubigen“ und „rückständigen Heiden“ konkurrieren. Aus dieser Vorstellung einer linearen Entwicklung, die zuerst zu immer mehr Gottesnähe und schließlich aber zu Erkenntnisgewinn und dadurch zur fortschreitenden Verwirklichung des Menschen führt, ging schließlich über die Etappen der Renaissance und der Aufklärung ein Konzept der Welt als geschichtlicher Prozess hervor, der am Ende alle mythologischen und transzendenten Erklärungen negiert.
Das Primat der Vernunft, das wissenschaftliche Denk- und Weltmodell, das nach unseren Vorstellungen am Ende einer „Evolution“ der menschlichen Kultur stehen muß, erhebt sich über alle anderen Kulturen, die ihre Überlegenheit „nur“ mythologisch, also irrational legitimieren. Der rationale, nicht von Mythen und Religionen verblendete Mensch erhebt sich über den „noch“ irrationalen Menschen, der die Welt nicht vernünftig, also „objektiv“ betrachten kann.
Doch gerade in dem der Mensch der „westlichen Zivilisation“ sich selbst von einer irrationalen, mythisierenden kognitiven Verzerrung freispricht, fällt es ihm um so schwerer, den sog. Bias seiner eigenen Weltwahrnehmung zu erkennen. Denn natürlich ist nur die abendländische Zivilisation der Ort, an dem sich der „wahrhaft freie Mensch“ entfalten kann, weshalb nur sein Blick der wahrhaftige, rationale und objektive sein kann. Hier fällt das Muster der Selbstwahrnehmung unserer vorgeblich rationalen Zivilisation also wieder mit dem der archaischen Kulturen zusammen.
Gleichzeitig ist aber aus dem mythischen Erbe die Aufforderung „Erkenne Dich Selbst“ durch unsere Kulturgeschichte gegangen und hat schließlich über die metaphysische Philosophie auch Eingang in die Wissenschaft gefunden.
Für den Kontext der ethnologischen Wissenschaftsgeschichte kann Jonathan Swift mit den „Feldstudien“ Gullivers als literarischer Pionier der Bemühungen gelten, den fremden Blick auf uns selbst nachzuvollziehen. In China hat Li Ju-Tschen 1827 mit seinem Roman „Im Land der Frauen“ ebenfalls den Blick auf die eigene kulturelle Praxis im Spiegel einer fiktiven Ethnie gerichtet. Ebenfalls ein prominentes Beispiel dieser Perspektivumkehr ist das Buch „Papalagi“ (1920) von Erich Scheurmann, in dem ein Südseehäuptling von seiner Reise zu den grotesken Europäern berichtet. Neuere Beispiele sind „Traumatische Tropen“ und „Traurige Insulaner“, in denen der Ethnologe Nigel Barley zuerst von seinem am Bias gescheiterten Versuch einer Feldforschung berichtet, anschließend von seinem ethnologischen Blick auf die seltsamen Engländer.
In der ethnologischen Wissenschaft hat diese Gedankenlinie der Selbstreflexion und Perspektivumkehr schließlich zu der Aufarbeitung der eigenen Geschichte geführt, vor allem vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte; so kommt es z.B., daß das Museum für Völkerkunde in Hamburg, das etwas sperrig umbenannt worden ist in „Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt“, in manchen Räumen seiner klassischen Sammlungen die Geschichte ihres Zustandekommens, die Biographien seiner vergessenen Mitarbeiterinnen oder aus Unsicherheit über den eigenen Standpunkt auch einfach mal gar nichts ausstellt.
All diese Versuche, durch Perspektivverschiebung oder -umkehr einen Blick auf den eigenen blinden Fleck zu erhaschen und unsere eigene kulturelle Praxis tatsächlich „objektiv“ wahrzunehmen, enthüllen, wie es tatsächlich um unsere eigene, vorgebliche Rationalität bestellt ist. Denn auch in der aufgeklärten, wissenschaftsgläubigen westlichen Zivilisation treffen Menschen ihre Entscheidungen fast immer irrational und ihrem sozio-kulturellen Habitus entsprechend.
Prof. Hermann Knoflacher arbeitete auf diesem Feld beispielhaft über die Irrationalität des Autofahrens, für das jeder Automobilist zahllose, völlig vernünftige und nachvollziehbare Gründe angeben könnte - solange er sich innerhalb der Konventionen unserer etablierten Alltagsrealität bewegt. Tatsächlich aber treiben ihn fast ausschließlich archaische Mechanismen an sein Lenkrad, in einer Welt, die konstant im Sinne der Automobilität, nicht im Sinne der Menschen, also eigentlich irrational, umgestaltet wird.
Der Begriff des Auto-Fetischismus ist inzwischen weit verbreitet. Er bezeichnet im Volksmund aber nicht mehr als eine besondere Begeisterung für das Automobil. In der ethnologischen Religionsforschung hingegen bezeichnet der Begriff des Fetischismus den Glauben an übernatürliche Geister oder Mächte, die sich an bestimmte Gegenstände binden und in ihnen verehrt werden. Indem man einem solchen Gegenstand Opfer und Geschenke bringt, erhöht man die hilfreiche Macht des an ihn gebundenen Geistes, man lädt sozusagen seine übernatürliche Batterie auf, damit er wieder in unserem Sinne magisch auf unsere Umwelt einwirkt, was ohne weiteres als Metapher für das Verhältnis der meisten Autofahrer zu ihrem Wagen dienen kann. Denn die Funktionen, die Automobile erfüllen, gehen deutlich über die reine Fortbewegung hinaus. Sie sollen vielmehr tief in unsere gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen hinein wirken und uns als Verkörperung hilfreicher Mächte dienlich sein.
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Der Künstler Bernhard Schwank beschäftigt sich in seinem langfristigen Projekt „Die ethNokonstruktivistische Sammlung“ schon seit langer Zeit mit der Inversion der ethnologischen Perspektive und überträgt unsere Alltagsroutinen aus ihrem rationalistischen, linearen Zusammenhang in eine hypothetische, nicht-lineare Kultur. Was wäre, wenn unsere kulturelle Entwicklung, trotz wissenschaftlicher Fortschritte, niemals ihre archaische, mythologische und zyklische, also ahistorische Struktur verlassen hätte?
Im Stil einer klassisch musealen Präsentationen zeigt Schwank Objekte, die unsere „normalen“ Handlungen transformiert zu heiligen Ritualen in einer zyklischen, mythisch geordneten Realität erscheinen lassen. Durch diese Verschiebung und Überzeichnung gelingt es, das volle Ausmaß der Irrationalität unseres Alltags freizulegen. Denn selbst wenn wir vorgeben zu wissen, daß unsere kollektive Wirklichkeit linear voranschreitet, handeln doch die meisten von uns so, als könne man den derzeitigen Status Quo bis in alle Ewigkeiten erhalten, als gäbe es keine linearen, unumkehrbaren historischen Prozesse, als könne man wider besseres Wissen immer so weiter machen wie bisher - eine Einstellung, die nicht nur offenkundig irrational ist, sondern die zudem auch die Grundzüge einer zyklischen Weltvorstellung aufweist, nicht die einer linearen, worin sich die Schizophrenität unseres kulturellen Selbstverständnisses offenbart.
Dem Jahresthema des Einstellungsraums „Sprit und Spirit“ entsprechend hat Bernhard Schwank sich in seinem aktuellen Werkkomplex vor allem auf die Aspekte der Automobilität und der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen konzentriert.
Es werden Objekte gezeigt, die während der fiktiven „Fosylcanruun“-Zeremonie genutzt werden. Diese Zeremonie, die von den fiktiven, archaischen Völker Europas praktiziert wird, dient, ähnlich wie der nordamerikanische „Potlach“, dem sozialen und ökonomischen Austausch und Ausgleich sowie der Verehrung der „Fossilen Ahnen“.
Dabei spielen die sog. „Libomi“-Figuren oder Ölgeister eine besondere Rolle. Durch sie wird der Beschleunigungsgott Libomi heraufbeschworen, der den Menschen in Form des Geschwindigkeitsrauschs transzendente Erlebnisse ermöglicht.
Besonders auffällig ist eine aus einem Baumstumpf modellierte Libomi-Figur, aus deren Wurzelausläufern rot lackierte, phallische Tankpistolen hervor wuchern. Hier wird einerseits exemplarisch der irrationale Kult-Charakter des Autofahrens und seiner Begleiterscheinungen hervorgehoben sowie seine Assoziation mit männlicher Potenz, andererseits liefert diese Libomi-Figur durch die formelle Präsenz des Materials - nämlich Holz - einen gegenläufigen Subtext:
Es werden keine Objekte ausgestellt, die eine akute Beschleunigung und Freisetzung von CO2 hervorrufen, sondern Objekte, die diese Beschleunigung nur in Form eines mystisch-rituellen Erlebnisses hervorrufen sollen, gleichzeitig aber Kohlenstoff binden, nicht freisetzen. So hat Bernhard Schwank ausgerechnet, daß das CO2, das in den Ausstellungsstücken gebunden ist, umgerechnet etwa der Ausstoß wäre, den er auf einer Strecke von 1300 km mit dem Auto freigesetzt hätte.
Bernhard Schwank, Suprema-Ideogramm "Alte weisse Männer" |
Bernhard Schwank, Suprema-Ideogramm, "Throwaway" |
Die Suprema-Ideogramm-Tafeln, die sich der Ästhetik zeitgenössischer Piktogramme bedienen, aber komplexere, gesellschaftliche Zusammenhänge verbildlichen sollen, nutzen wiederum die Unmittelbarkeit, mit der in archaischen Gesellschaften die konzipierte Struktur und die akute Praxis zueinander stehen. Während in unserer vorgeblich aufgeklärten und rationalen Zivilisation stetig die wahren Absichten und Beweggründe gesellschaftlicher Akteure beschönigt, verschleiert oder geleugnet werden, und maßgebliche wirtschaftliche und politische Motive wie die Habsucht und Machtgier offiziell nicht zu existieren scheinen, gibt es in zyklisch denkenden Gesellschaften diese Trennung oder sogar den Widerspruch zwischen dem Faktischen und dessen öffentlicher Präsentation nicht. In diesem Sinne werden auf den Tafeln unverblümt ökonomische und soziale Tatbestände in Ideogrammen gebündelt, die weder die Obszönität noch die Albernheit oder Naivität scheuen. Wir werden Zeugen der sexualisierten Gewaltphantasien der „Alten weissen Männer“. Wir werden hingewiesen auf Produkte aus Mineralöl, die von vornherein für den Mülleimer hergestellt werden, wie ein großer Teil der schnelllebigen, sinnfreien Trendartikel aus Plastik, gerne als Werbegeschenke verwendet, die in dem vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht euphemisiert als „Giveaways“, sondern unbeschönigt als „Throwaways“ bezeichnet werden. Und wir erkennen die hierarchischen Systeme wieder, die die Kontrolle fossiler Energiequellen als legitimen Grund für Kriege anführen.
Bernhard Schwank, Suprema Ideogramm, "No Blood for Oil" |
In dem uns Bernhard Schwank unsere eigene Gesellschaft im Spiegel einer fiktiven archaisch-zyklischen Kultur vorführt, hat er nicht nur einen markant eigenständigen ästhetischen Weg gefunden. Er kann zudem höchst effektiv unsere durch den blinden Fleck versperrte Sicht auf die Irrationalität unserer Gesellschaft öffnen, gleichzeitig erschließt er uns die Aufrichtigkeit einer archaischen Denkstruktur, in der Ursachen und vorgebliche Gründe nicht auseinander driften, sondern eine ehrliche, wenn auch oft grausame Eindeutigkeit haben. Eine Eindeutigkeit die uns helfen kann, den Problemen, die uns tatsächlich bevorstehen, mit unverstelltem Blick zu begegnen.
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