Für meine Tätigkeit als Hochschuldozent für kreatives Schreiben bin ich immer auf der Suche nach neuem Input. So stieß ich in einer Bachelorarbeit auf die Publikation „Die Psychologie des Geschichtenerzählens“ (2019) von Tobias C. Breiner, einem mehrfach ausgezeichneten Professor für Computergraphik und Gamedesign.
Aufgrund des Titels hatte ich berechtigte große Erwartungen, schließlich entpuppte sich das Buch aber als eine einzige große Entäuschung. Da diese Publikation - offenbar wegen Breiners Renomee - regelmäßig von Graphik- und Illustrationsdozenten empfohlen und von Studenten als Leitfaden aufgenommen wird, fühle ich mich bemüßigt, auf deren erhelbliche narratologische Mängel hinzuweisen.
Ein sehr viel angemessenerer Titel wäre gewesen: „Die Heldenreise optimiert für Game-Design“, denn vom Denken in literarischen Kategorien ist Breiner soweit entfernt wie die Erde vom Mond.
Er identifiziert als Gerüst jeder Narration eine Kombination von Archetypen mit der Heldenreise, und da beide notgedrungen ihre Wurzeln in der menschlichen Psyche haben, reicht es Breiner offenbar aus, von der „Psychologie“ des Geschichtenerzählens zu schreiben.
Er beginnt mit der „Beschreibung“ der Hauptfiguren, die auf eine reichlich lange Checkliste hinausläuft, auf der unter anderem Dinge aufgelistet werden wie Wertpapierbesitz oder Blutgruppe. Der „innere Konflikt“, also das zentrale Momentum einer jeden literarischen Figur, ist lediglich als einer von gut 60 gleichwertigen Punkten aufgeführt und spielt auch im weiteren Verlauf keine Rolle!
Er empfiehlt zudem, jeder Geschichte eine kurze Beschreibung der wichtigsten Charaktere voran zu stellen, wie es z.B. bei Asterix und Obelix der Fall ist. Das geht vielleicht noch an für Kinderbuchreihen, aber in der Literatur? Man stelle sich vor: „Lieber Leser, dieser Roman handelt von einem hübschen, verträumten Mädchen namens Emma, die behütet in einer Klosterschule aufgewachsen ist und glaubt, auf der Welt ginge es zu wie in den vielen Liebesromanen, die sie gelesen hat. Sie hat dunkle Locken und Blutgruppe A. Ihr späterer Mann, Charles Bovary, ist ein liebenswürdiger, aber sehr biederer Mann mit einem eher bescheidenen Portfolio an Wertpapieren und Schuhgröße 44…“ Um Gottes Willen!
Es folgt ein langes Kapitel über Archetypen, in dem Breiner sich zwar lang und breit darüber ausläßt, welche Haarfarbe sie haben, welche Waffen sie üblicherweise tragen, ob sie schmal oder muskulös gebaut sind und insbesondere, ob sie einen Bart tragen - aber er verliert kaum ein Wort darüber, welche dramaturgische Funktion sie haben!
Den Bärten der Helden und Mentoren widmet er besonders viel Aufmerksamkeit, dabei bringt er aber Fiktion und Realität mit einer erschreckenden Naivität durcheinander. Er stellt Gandalf, den Weihnachtsmann und Merlin neben Karl Marx, Darwin und Osama bin Laden ohne zu begreifen, daß die einen den Bart tragen, weil er ihnen wegen der damit verbundenen Aura von Alter und Weisheit angedichtet worden ist, die anderen hingegen, weil es lediglich eine zeit- oder kulturspezifische Konvention ist! So wie Breiner es darstellt, hätte aber z.B. Charles Darwin sich den Bart stehen lassen, um die Rolle des Mentoren besser zu verkörpern. Das ist schlicht und ergreifend Unsinn und wissenschaftlich betrachtet eine haarsträubender Zirkelschluss, der die mediale Überlieferung, die Charles Darwin schließlich stilisiert hat, vollkommen außer Acht läßt.
Dann geht Breiner mit beispielloser Hemdsärmeligkeit daran, die Herkunft der Archetypen zu erklären. Da stoßen wir auf groteske Verknüpfungen wie: Der Held wird assoziiert mit der Sonne, der Körper erzeugt im Sonnenlicht Vitamin D, Vitamin D läßt Haare stärker sprießen, deshalb haben Helden Bärte. Wo bleibt die Psychologie? Warum gibt es hier nicht den schlichten Hinweis auf den Bart als offensichtlichstes Kennzeichen der Maskulinität? Und warum sind Bärte überhaupt so wichtig für das Erzählen von Geschichten?
Ebenfalls wird klar, daß sich Breiner nur äußerst oberflächlich mit Campbells Werk auseinander gesetzt hat, in dem die weltweite Übereinstimmung mythischer Symbole sehr einleuchtend und ausführlich durch kulturelle Diffusion erklärt wird. Davon scheint Breiner noch nie gehört zu haben.
In seiner folgenden Klassifikation verwechselt er ohne mit der Wimper zu zucken Archetypen mit kulturspezifischen Stereotypen, die er dann "kulturelle" und "zivilisatorische Archetypen" nennt. Darunter sind solche sog. „Archetypen“ wie der „Gamer“ der „Nerd“ oder der „Nazi“. C.G. Jung würde sich im Grabe umdrehen.
Das anschließende Kapitel über Stereotypen ist hingegen interessant und erläutert einen simplen Trick mittels dessen man die Algorithmen von Suchmaschinen benutzen kann, um statistisch untermauerte ländertypische Vorurteile zu ermitteln. Wie das hingegen beim Erzählen von Geschichten helfen soll, bleibt offen.
In einem Kapitel über Narratologie und Ludologie werden munter die Begriffe „narrativ“ und „narratologisch“ sowie „ludisch“ und „ludologisch“ durcheinandergewürfelt, obwohl das eine sich auf Geschichten oder Spiele an sich bezieht, das andere auf die Wissenschaft vom Geschichtenerzählen oder Spielen. Er schreibt u.a. von „ludologischen Spielen“, was genau genommen Spiele sein müßten, die einen selbstreflexiven wissenschaftlichen Inhalt hätten, während er aber eigentlich Spiele meint, die nur ludischen, also spielerischen, aber keinen narrativen Inhalt haben.
Schließlich kommt sein vermeintlich großer Wurf: Eine Überarbeitung der Campbell´schen Heldenreise. Hier zeigt sich endgültig, daß Breiner literarisch unbeleckt ist. Seine Beispiele scheinen oft fast mit Gewalt in sein zwölfteiliges Schema gepresst zu sein und die Transformation des Helden findet einfach nicht statt. Denn zentral für jede Geschichte ist und bleibt genau diese Transformation. Statt dessen bezieht er die Transformation auf das Umfeld des Helden bei seiner Rückkehr, was einfach nur Unsinn ist. Hier wird klar: Breiner begreift gerade das wichtigste psychologische Momentum des Geschichtenerzählens nicht!
Ebenfalls ein grober Schnitzer in diesem Abschnitt: Die fortlaufende Verwechslung von „Drama“ mit „Tragödie“.
Schließlich wird dem Ganzen die Krone aufgesetzt mit seinen abschließenden Argumenten, weshalb sein „dodekazyklischer“ Entwurf mehr Substanz habe, als das Modell von Campbell. Als Argumente führt er an, sein Modell könne als Kreis bzw. als Quadrat dargestellt werden und es enthalte zudem sechs und achteckige geometrische Ordnungen, die überdies einem von ihm selbst entwickelten Farbsystem entsprechen. Und das sollen literaturwissenschaftlich belastbare Argumente sein?
Auf diesem Weg ist es dem Informatiker Breiner vielleicht gelungen, sich auf der Basis der Heldenreise einen graphisch darstellbaren Algorithmus zusammen zu basteln, der in Computerspielen als narratives Gerüst nützlich sein mag, der Literatur hat er hingegen einen Bärendienst erwiesen.
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