Seit zwanzig Jahren arbeitet der Einstellungsraum e.V. mit einem strengen Konzept, das auf den ersten Blick etwas skurril anmutet und, wie meine Erfahrung gezeigt hat, sogar als satirisch mißverstanden werden kann. Denn der Verein sieht seine Aufgabe in der „Vermittlung von Projekten zwischen Autofahrern und Fußgängern“.
Ist einmal klar geworden, daß es sich dabei keineswegs nur um eine launige Idee handelt, sondern um den Versuch einer ernsthaften Ergründung des Phänomens der Automobilität mit den Mittel der zeitgenössischen Kunst, stellen sich zwangsläufig die Fragen, ob denn etwas so Profanes wie die Automobilität überhaupt imstande ist, einen Ausstellungsort über 20 Jahre lang thematisch zu tragen, und welche Zusammenhänge von übergeordnetem Interesse sich aus der Opposition von Automobil und Fußgänger ableiten lassen?
Wenden wir uns zunächst dem Automobil zu.
Allem voran dient das Auto zur Fortbewegung. Es ist der Logik der Fläche unterworfen. An seiner technischen Entwicklung ist abzulesen, daß es wünschenswert ist, mit dem Automobil immer schneller von einem Ort zu einem nächsten zu gelangen, die Zeit zu raffen, die Zwischenstationen zu überspringen, die Außenwelt mehr und mehr abzuschirmen.
Damit wird impliziert, daß der Mensch erst durch einen schnellen Ortswechsel und eine maximale Reichweite imstande ist, seine Bedürfnisse adäquat zu befriedigen. Der Ort, an dem wir uns befinden, ist allein unzureichend; er muß verlassen werden können, da erst an einem anderen Ort dem unbefriedigenden Zustand abgeholfen werden kann.
An dieser Stelle möchte man gleich zwei Zitate einwerfen, die den Fetisch der Rastlosigkeit in die Schranken verweisen:
Kong Fuzi schrieb, egal wohin man reise, man träfe immer auf sich selbst, und Blaise Pascal sah in dem Verlangen, die eigenen vier Wände zu verlassen, die Wurzel allen Übels schlechthin. Fügt man diese beiden Splitter zusammen, ergibt sich daraus für den in die Ferne strebenden Automobilismus zwangsläufig das Bild einer Selbstflucht, die jedoch fruchtlos bleiben muß.
In einem Gespräch mit Caroline Herder äußerte Goethe hingegen: „Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen.“
In diesem Zitat kann man den Fußgänger entdecken, dem es nicht darum geht, die Reisezeit mit dem Auto durch Beschleunigung bis zur Auslöschung zu raffen, nur um an ein verheißungsvolles Ziel zu gelangen, von dem man sich vergeblich Erlösung erhofft. Der Fußgänger erscheint hier, ganz im Gegenteil, als ein Mensch, der bereit ist, sich selbst im Spiegel einer sich wandelnden Welt zu betrachten. Die äußere Reise wird zu einem Vehikel der inneren Reise. Der Logik der Horizontalität und Fläche wird die Logik einer Vertikalität entgegengestellt.
Um diese Begriffe und deren grundlegend gegensätzlichen Konzepte zu illustrieren, möchte ich sie auf einen kleinen Exkurs in die Entwicklungsgeschichte des kulturellen Raums mitnehmen.
Funde von den ältesten faßbaren humanoiden Kulturen und Vergleiche mit noch beobachtbaren Wildbeutergruppen ohne ausgebildete soziale Kategorien legen nahe, daß die älteste räumlichen Vorstellung des Menschen von der Welt ihren Ausdruck im unsegmentierten Kreis oder Sphäroid findet. Alle Erscheinungen der Welt sind in einem allumfassenden Zyklus vereinigt, einem magischen, fließenden Bewußtsein. Alle Erscheinungen haben die gleiche Berechtigung auf Existenz.
Kreislegung aus Tropfsteinen, Bruniquel-Höhle, Mittelpaläolithikum, ca. 170.000 v. Chr |
Für die !Kung-Buschmänner der Kalahari sind Bäume, Wolken und Wind ebenfalls Buschmänner, die sich lediglich in einem magischen Zustand befinden. Für die Aboriginies sind alle Naturerscheinungen Ahnen in der Traumzeit.
In diesen Kulturen ist es jedem Menschen möglich, in spontanen Trancezuständen oder, im Fall der Aboriginies, durch das Wandern entlang der mythischen Songlines mit dem magischen Aspekt der Welt in Verbindung zu treten, da diese magische Welt uns in jedem Moment unmittelbar umgibt. Der von diesen Kulturen gestaltete Raum ist immer rund, ein Abbild des einheitlichen, in sich geschlossenen Kosmos.
Schema einer !Kung-Buschamnn-Siedlung, David & Kramer, 2001, rezent |
In dieser Beschreibung der Wirklichkeit hat sich allerdings schon ein erster subtiler Bruch ereignet, der den Menschen im Laufe der kulturellen Evolution schließlich aus dem Eins-Sein mit der Natur verbannen wird.
Aus der Idee einer anderen, magischen Sphäre der Wirklichkeit und der Beobachtung der stetigen und gleichförmigen Erneuerung individueller Erscheinungen im Wechselspiel von Leben und Tod entsteht wahrscheinlich im Laufe des frühen Mittel-Paläolithikums die Vorstellung einer überzeitlichen Wirklichkeit, in der die Formen und Gesetze der akut erlebten Welt bewahrt werden, eine Welt der Urbilder und Naturgeister, die die Stabilität des Gegebenen garantiert.
Schamanentrommeln mit "Axis Mundi", (re: finnisch, li: sibirisch), subrezent |
Entsprechend gibt es in allen weiter entwickelten Wildbeuterkulturen Mythen einer vormals einheitlichen Welt, die durch die Verfehlung eines Menschen auseinander gerissen und in die Sphäre der Menschen und die der überzeitlichen Wesen geteilt wurde. Doch die Sphären sind noch miteinander verbunden durch die Axis Mundi, die Weltachse oder den Weltenbaum im Zentrum allen Seins; und alle Erscheinungen auf der Ebene der Menschen haben immer eine Entsprechung in der Welt der Geister. Sobald in unserer Welt der Menschen ein Mißstand herrscht, muß ein spezialisierter Schamane entlang der Weltachse in die Welt der Geister aufsteigen und dort dessen Ursache beheben.
Der Mittelpunkt der Welt jedoch, selbst wenn er durch ein aufsteigendes Feuer, einen Baumstamm oder einen Mittelpfosten konkret repräsentiert wird, ist eine nichtörtliche Kategorie des Bewußtseins. Der eigentliche Mittelpunkt ist überall und ist nur durch Selbstversenkung zu erreichen. Genau darin besteht die Logik des Vertikalen.
Die Ordnung einer runden Welt mit der heiligen Vertikalen in ihrem Mittelpunkt wird im weiteren Verlauf der kultureller Differenzierung im späten Mittelpaläolithikum ergänzt durch das horizontale Richtungskreuz, das vor allem aus der Beobachtung des Sonnenlaufs hervorgeht.
So wird eine Segmentierung und Hierarchisierung des Kreises um die ideelle Weltachse möglich, bis der Kreis im Verlauf des Neolithikums schließlich vom Quadrat als Ordnungssystem ersetzt wird, was sich vor allem in der Entwicklung der frühen dauerhaften Architektur ablesen läßt.
Nummelites Perforatus mit Kreuzritzung, Tata, Ungarn, Mittelpaläolithikum, ca. 100.000 v. Chr. |
Die Idee der kosmischen Orthogonalität, die aus dem Kreuz abgeleitet worden ist, ermöglicht wiederum die Erweiterung des horizontalen Kreuzes zum Raster und damit die Verlagerung des symbolischen Weltmittelpunkts aus dem unmittelbaren Lebensumfeld an einen realen Ort. Die Bedeutung des Mittelpfostens, des Ahnenschreins oder des heiligen Feuers im Mittelpunkt jedes individuellen Hauses geht zunächst über auf das Heiligtum im Zentrum eines Dorfes und schließlich auf eine heilige Zentralsiedlung mit einem streng kontrollierten Sakralbereich wie Babylon, Teotihuacan, Tenochtitlan, Athen, Rom, Jerusalem oder Mekka.
Stadtplan von Tenochtitlan nach einem aztekischen Codex |
Auf diesem Weg wurde die Logik des Horizontalen etabliert. Die heilige Vertikale wurde isoliert, die Strukturierung der Fläche hingegen wurde zu einem Werkzeug einer sakral legitimierten, aber dennoch profanen Kontrolle des Heiligen und damit wiederum zu einem Ausdruck hierarchischer Strukturen. Die flache Welt wurde weltlich, sie wurde zu einer Repräsentation der Machtverhältnisse und der damit verknüpften sozio-ökonomischen Prozesse.
Stadtplan des röm. Cemenelum (bei Nizza) mit Cardo und Decumanus, 120 v. Chr. |
Gründungsstein von Cambodunum (Kempten/Allgäu), römisch, ca. 100 n. Chr. |
Entwicklung der kulturellen Raumkonzepte, Piesbergen, 2006 |
Die postindustrielle, materialistische Welt, in der wir leben, hat inzwischen mit dem Glauben auch ihre kontrollierten heiligen Bezirke und damit ihren Kontakt zu der numinosen, überweltlichen Seite der Wirklichkeit verloren.
Geblieben ist die rastlose Logik der Fläche ohne Mittelpunkt, ohne Innehalten, ohne Besinnung - und darin wir, in immer schneller werdenden Automobilen, um Orte miteinander zu verknüpfen, die alleine nicht ausreichend erscheinen, um ein vollständiges Leben an ihnen zu führen. Denn das „hier und jetzt“, ohne die ehemals darin enthaltene Möglichkeit zum Aufstieg in die Vertikale, nimmt sich im Vergleich mit dem unbekannten und hoffnungsbeladenen „dort und später“ immer fade, halb und unzureichend aus.
Als Elke Suhr im Zuge ihrer künstlerischen Erforschung historischer Bildwelten das Läuterungsschema eines alchimistischen Ofens von Thomas Norton aus dem Jahr 1477 mit dem atmosphärischen Flugkolbenmotor von Nicolaus Otto aus dem Jahr 1867 verglich, trat ihr die Polarität dieser beiden entgegengesetzten Konzepte der Wirklichkeit mit größter Klarheit entgegen.
Alchimistischer Läuterungsofen und Ottos atmosphärischer Flugkolbenmotor, Elke Suhr, 2019 |
Während in beiden die Materie zunächst von unten nach oben aufsteigt, setzt sich bei Norton die Bewegung in der Vertikalen bis hin zur Transmutation, Läuterung und Gotteserfahrung fort, während die Energie bei Otto auf der Höhe, auf der Norton den Menschen verortet, zur Seite, in die Horizontale abgelenkt und damit in den Bereich profaner, materialistischer Zweckmäßigkeit überführt wird.
Eine alchimistische Transmutation oder eine uns transformierende Begegnung mit dem Numinosen findet nicht statt, statt dessen wird die aufstrebende Energie umgeleitet in streng geregelte kinetische Prozesse, die sich fast immer im Kontext der Produktion materieller Güter abspielen oder der optimierten Fortbewegung in der Horizontalen dienen.
So wird der Otto-Motor zu einer sowohl symbolischen als auch konkreten Emanation eines der größten Paradigmenwechsel der Menschheitsgeschichte, dessen Anfänge zwar bis in die Morgendämmerung der Zivilisation zurück verfolgt werden können, der aber erst im 20. Jahrhundert zu einer beispiellosen Umformung von Welt und Wirklichkeit geführt hat.
Vor diesem Hintergrund öffnet das Thema der Automobilität, sowohl konkret und auch als Metapher, ein schier unbegrenztes Forschungsfeld, um die Bedingtheiten unserer postindustriellen Realität auszuloten:
Der Blick wird nicht nur gelenkt auf die Auswirkungen von Geschwindigkeit und Stillstand, es stellt sich die Frage nach der Zeit und dem Raum an sich, nach unserer Wahrnehmung im Zusammenhang äußerer und innerer Bewegung, nach Regelungsprozessen und Hierarchien, nach unseren Zielen, nach Richtungswechsel, nach Sinn und Sinnlichkeit - und schließlich sogar nach der Seele, die das Jahresthema 2021 im Einstellungsraum ist.
Die Kunst wird dadurch herausgefordert, zu zeitgenössischen und überzeitlich essentiellen Themen Stellung zu beziehen und damit ihre eigene Relevanz zu überprüfen. Vor allem aber wird den verschiedenen künstlerischen Positionen ermöglicht, im Rahmen der unterschiedlichen Jahresthemen in einen Diskurs einzutreten, in einen herrschaftsfreien Dialog, in dem jede einzelne Position im Mittelpunkt und zugleich neben den anderen steht und jeweils einen von vielen möglichen vertikalen Wegen zur Begegnung mit der Welt und sich selbst darstellt.
© Thomas Piesbergen / VG Wort, Juli 2021
Literaturauswahl:
• Thomas Piesbergen "Der kontextuelle Raum im vorderasiatischen Neolithikum", Oxford, 2007
• Marie E.P. König "Am Anfang der Kultur", Berlin, 1973
• N. David, C. Kramer "Ethoarchaeology in Action", Cambridge, 2001
• Joseph Campbell "Die Mitte ist überall", München, 1992
• Elke Suhr, Andreas Bromba (Hg.) "Aufbruch: Kunst + Spiritualität", Oberhausen, 2019
• Massimo Pallotino "Die Etrusker und Europa", Mailand, 1992
• S. Golowin "Die großen Mythen der Menscheit", München, 2002
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