Die Ausstellung "Ursuppe und Unvergängliches" wird gezeigt im Künstlerhaus Sootbörn, Hamburg, April & Mai 2022
Ursuppe und Unvergängliches, Frank Gillich und Sigrun Jakubaschke, Ausstellungsansicht, 2022 |
Die Geschichte der Kunst ist nicht nur eine Geschichte der Stile, der sich ändernden Bildinhalte, der Techniken oder ihrer sozialen Rahmenbedingungen, sie ist auch eine Geschichte der Aneignung, einem Vorgang, der in den letzten Jahrzehnten immer konkreter von Künstlerinnen und Künstlern als Charakteristikum ihrer Arbeitsweise genannt wird.
Doch auch wenn die Aneignung derzeit zu einem regelrechten Schlagwort zeitgenössischer Kunst geworden ist und man den Eindruck gewinnen kann, sie wäre ein genuin neuer Aspekt des Kunstschaffens, ist doch lediglich das Bewußtsein des Prozesses der Aneignung neu. Denn tatsächlich ist sie immer zentraler Impuls des Kunstschaffens gewesen.
Wenn der Mensch sich etwas aneignen will setzt das voraus, daß etwas außerhalb von ihm ist, etwas, das er nicht selbst ist. Karl Jaspers bezeichnet diesen Sachverhalt als Subjekt-Objekt-Spaltung.
„Allen (…) Anschauungen ist eines gemeinsam: sie erfassen das Sein als etwas, das mir als Gegenstand gegenübersteht, auf das ich als auf ein mir gegenüberstehendes Objekt, es meinend, gerichtet bin. Dieses Urphänomen unseres bewußten Daseins ist uns so selbstverständlich, daß wir sein Rätsel kaum spüren, weil wir es gar nicht befragen. Das, was wir denken, von dem wir sprechen, ist stets ein anderes als wir, ist das, worauf wir, die Subjekte, als auf ein gegenüberstehendes, die Objekte, gerichtet sind.“(1)
Diese Spaltung, die mit dem Erwachen des menschlichen Bewußtseins, das immer auch ein Selbstbewußtsein ist, einhergeht, zeitigt die grundlegende Dichotomie von Welt und Mensch, die sich zu Beginn der menschlichen Kultur zunächst nur als eine Gegenüberstellung von Mensch und natürlicher Umwelt gezeigt hat, da die kulturelle Sphäre des Menschen erst geschaffen werden mußte.
Mit dem Bewußtwerden der Spaltung entstand jedoch gleichzeitig der Wunsch, sie wieder zu überwinden und eine gewähnte ursprüngliche Einheit wieder herzustellen.
Die ältesten uns überlieferten Zeugnisse von den Versuchen diesen Zustand des Getrennt-Seins zu überwinden, sind die Höhlenmalereien. Auf ihnen treten uns gleich zwei konträre Strategien entgegen:
Mit Handnegativen, die auf Höhlenwände gesprüht wurden, versuchte der Mensch einerseits seine subjektiv erkannte Existenz zu objektivieren, also eine Spur seines Körpers, und damit seiner selbst, in der umgebenden Wirklichkeit zu hinterlassen. Gleichzeitig aber unternahm er den Versuch, Objekte, die der Außenwelt angehören, zu subjektivieren, also die eigene Wahrnehmung dieser Objekte zu einem relevanten Topos zu machen und sie zu dokumentieren, in dem er Abbilder von ihnen schuf. Meist waren es Tierdarstellungen.
Diese ersten tatsächlichen Malereien werden meist in jagdmagischem Zusammenhang gedeutet. Man geht davon aus, daß der Mensch durch das Bild auf die Außenwelt einwirken wollte, um sich ganz faktisch das abgebildete Jagdwild anzueignen. Einer anderen Deutung zufolge sollte die Fruchtbarkeit der Wildbestände heraufbeschworen werden, bzw. die Seelen der getöteten Tiere in die Sphäre der Naturgeister zurück geleitet werden (2).
Es wäre aber ein Fehler zu glauben, es handele sich bei den dargestellten Tieren nur um Jagdwild. Marshall Sahlins wies darauf hin, daß Bedeutungszuweisungen nicht immer nur auf praktische Zusammenhänge zurück gehen, sondern daß Objekten, also auch Tieren, eine bestimmte Bedeutung beigemessen werde, da sie sich gut denken lasse (3), da sie sich gut eigne, subjektive Gedankeninhalte zu repräsentieren.
Als relevanteste Gedankeninhalte drängen sich zwangsläufig die essentiellen, in der Vorgeschichte sicherlich noch viel präsenteren Bedrohungen auf, denen das menschliche Leben ausgesetzt ist, und die natürlich auch im Rahmen der Jagd allgegenwärtig waren.
Es ging also um die Beherrschung einer in fast allen Aspekten lebensbedrohlichen Umwelt und um das Einwirken auf eine übernatürliche Sphäre, die hinter dem Mysterium Tremendum geahnt wurde.
Das uns gegenüberstehende Objekt ist also nicht nur die Dingwelt, sondern auch das Faktum der nicht rationalisierbaren Sterblichkeit, in deren Erkenntnis der Psychoanalytiker Luigi der Marchi den Urimpuls allen menschlichen Handelns ausmacht (4).
Die Abwehr unserer Todesangst kann demzufolge als maßgeblicher Ursprung der Idee des Numinosen, des Göttlichen oder Spirituellen angesehen werden, und alle religiöse Praxis als ein Versuch der Todesabwehr und der Kontrolle der Mechanismen des Übernatürlichen.
Diese grundlegenden Oppositionen von Mensch und Welt und Mensch und Tod wurden im Lauf der Geschichte zusehends differenzierter. Spätestens im Neolothikum steht der lebensfeindlichen Umwelt die domestizierte Sphäre des Menschen gegenüber. Das Wilde jenseits ihrer Grenzen konnte nur durch göttliche Kräfte gebändigt werden, auf die der Mensch durch Rituale einzuwirken suchte.
In der östlichen Hemisphäre blieb die Identifikation der Außenwelt mit dem Numinosen bestehen, und da sich, nach Jaspers, der selbstbewußte Mensch auch selbst zum Objekt werden kann, entwickelten sich Mythologien, in denen der eigene Körper in seiner Eigenschaft als Teil der Objektwelt zu einem Gefäß des Numinosen und dadurch zu einem Werkzeug der Transzendenz werden konnte. Durch Körpererfahrung wurde es dem Menschen also möglich, die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden.
In der Levante, aus deren Tradition die europäischen Kulturen hervorgegangen sind, entstanden hingegen Mythologien, die die Grenzen anders zogen und interpretierten. Die Trennung vom Göttlichen, die der Mensch empfand, wurde ausgeweitet auf die gesamte Dingwelt. Indem also nicht der Mensch die eigene Existenz objektivierte, sondern sein subjektives Empfinden der Getrenntheit auf die Dingwelt ausweitete, entstand eine Spaltung zwischen der Welt des Körperlichen und der Welt des Spirituellen, was schließlich zu dem Dualismus der großen Offenbarungsreligionen führte, die auch im platonischen Denken ihre Spuren hinterließ.
Das Göttliche bzw. das antike Ideal wurde in einer außerweltlichen Sphäre verortet, der Körper hingegen, als unbeherrschbarer Schauplatz von Krankheit und Tod, einer rein weltlichen Natur zugeschlagen. Die einzige Schnittmenge der sonst unvereinbaren Sphären des Göttlichen und des Profanen blieb die menschliche Seele, die der göttlichen Sphäre entspringt und wieder in diese zurückzukehren versucht. Ihre übernatürliche Herkunft legitimiert wiederum den sich daraus ableitenden alttestamentarischen Marschbefehl „...füllet die Erde und machet sie euch untertan...“ (5)
Während die diesseitige Welt also ganz praktisch vom Menschen unterworfen und in seine Dienste gestellt wurde, waren in der Antike und in den monotheistischen Kulturen des Mittelalters die in die ferne gerückten Ideale, bzw. die Symbole und Personifizierungen des Göttlichen die maßgeblichen Objekte der künstlerischen Aneignung. Vor allem im Christentum galt es, ihrer Heilsversprechen mit geheiligten Bildwerken und deren Anbetung habhaft zu werden.
Mit der Renaissance rückte die profane Welt plötzlich wieder in den Fokus. Da sie, dem Dualismus zufolge, an sich nicht sakraler Natur war, entstammten auch die Mittel, sie zu beherrschen, nun aus dem Arsenal des Logos. Neben einem Aufblühen antiker Wissenschaften wurden auch in der Kunst neue Mittel erfunden, sich die Umwelt anzueignen, vor allem waren es die naturalistische Darstellung, die mathematische Bildkomposition anhand des Goldenen Schnittes (6) und die Zentralperspektive. Gerade in der letzteren spiegelt sich die gottgegebene Herrscherrolle des Menschen wieder, denn mit ihr ordnet sich die Welt seinem Blick unter.
Als Gegenbeispiel sei die fehlende Perspektive der chinesischen und japanischen Malerei erwähnt. In einer taoistisch oder buddhistisch empfundenen Welt ist das Übernatürliche in allen Dingen anwesend, wirksam und überall erfahrbar. Dementsprechend stehen alle Erscheinungen auf den Bildern gleichberechtigt nebeneinander. Auch waren im Osten die Darstellungen von alltäglichen Vorgängen die Regel, während im Westen nach wie vor sakrale Bildthemen dominierten.
Im Laufe der Neuzeit verlor schließlich die Religion ihre thematische Bedeutung für die Kunst; der Tatbestand der Hierarchisierung aber blieb.
Zunächst spiegelten die Bildthemen immer konkreter das subjektive Erleben der Künstler wieder, schließlich wurde der subjektive Gestaltungswillen auch stilistisch zum bedeutendsten Charakteristikum der Kunst. Während sich die Künstler der Renaissance noch - stellvertretend für die Menschheit - die Welt im Namen Gottes und mittels Vermessung und Zentralperspektive unterwarfen, eignen sich Kunstschaffende seit nunmehr wenigstens 150 Jahren die Welt durch ihren subjektiven, individuellen Blick und Stil an.
Seit die Moderne gezielt mit der vom Logos diktierten naturalistischen Darstellung und der Zentralperspektive gebrochen hat, potenziert sich diese Entwicklung.
Dennoch sehen wir, wie im Falle der abbildenden Höhlenmalerei, nach wie vor die Absicht, eine objektive, uns gegenüberstehende Außenwelt im subjektiven Erleben sichtbar zu machen und sie sich dadurch anzueignen, egal ob aus allgemein menschlicher oder einer individuellen Perspektive. Denn in jeder Gestaltungsabsicht verbirgt sich das Konzept der Hierarchie im Sinne alttestamentarischer Unterwerfung bzw. Aneignung der Welt.
Erst in den 60er Jahren des 20. Jhd. wurden in der Bildenden Kunst wieder entgegengesetzte Strategien aufgegriffen, Strategien, die sich bereits die Schöpfer der paläolithischen Handnegative zu eigen gemacht haben, also Versuche, die als subjektiv erkannte Existenz zu objektivieren, indem man eine Spur seines Körpers, und damit eine Spur seiner selbst, in der umgebenden Wirklichkeit hinterläßt; indem man also keine Aneignung vollzieht, sondern eine Veräußerlichung des Selbst.
Auch Sigrun Jakubaschke und Frank Gillich beschäftigen sich schon seit langer Zeit damit, wie es möglich ist, eine Kunst ohne Gestaltungsabsicht zu schaffen. Dabei haben sie verschiedene Verfahrensweisen entwickelt, in denen sich die Welt durch den menschlichen Körper oder durch ihre jeweilige Materialität selbst mitteilen kann.
Frank Gillich, 2022 |
Die Kugelschreiberzeichnungen von Frank Gillich entstehen aus einem Zusammenspiel materialabhängiger Parameter und den Gegebenheiten des Körpers. Auf dem Boden kniend folgt er mit drei Kugelschreibern, die er auf einmal einsetzt, dem Radius von Hand- und Schultergelenk, wodurch Segmente von Kreisbögen entstehen, die dicht an dicht gesetzt werden.
Die Fluktuationen, die sich körperbedingt in dem eigentlich statischen Prozess ereignen, bestimmen die Form, der sich die weitere Gestaltgebung unterwirft. Obwohl Struktur und Prozess immer die gleichen sind, bilden kleinste Abweichungen auf diese Weise Verwerfungen, die in ihrer Summe ein jeweils vollkommen individuelles Gesamtbild hervorbringen. Es geschieht keine Unterwerfung von etwas Gesehenem durch Subjektivierung, vielmehr teilt sich der jeweilige Zustand des Körpers in gegebenen Rahmenbedingungen selbst mit, indem er eine objektive Spur seines Handelns hinterläßt.
Ursuppe und Unvergängliches, Frank Gillich, Ausstellungsansicht, 2022 |
Bei der Formwerdung der Skulpturen Gillichs steht weniger der handelnde Körper im Mittelpunkt, sondern vielmehr ein zufällig in der Wirklichkeit vorgefundenes Arsenal von Formen. Ausgangspunkt sind Objekte, die sich eigentlich bereits in dem Prozess des Formverlusts befinden: Gegenstände aus der Sphäre menschlicher Produktion, die durch diesen Formverlust ihr Funktionalität und damit ihre Bedeutung für den Menschen eingebüßt haben, oder Dinge, die aus ihrem natürlichen Zusammenhang gelöst sind und in den Zerfall übergehen - abgebrochene Teile von Autos und Fahrrädern, aufgeplatzte Tennisbälle, Hausmüll, Baumpilze, Holzstümpfe etc.
Beide Arten von Dingen befinden sich in einem Zustand, den man mit dem buddhistischen Begriff des Bardo bezeichnen kann, dem diffusen, formlosen Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt, zwischen Vergehen und Werden, einer zeitweiligen Rückkehr in die Ursuppe, in den Kompost der Realität.
Diese Fundstücke werden abgegossen und auf amorphe, seriell hergestellte Grundkörper übertragen, wodurch deren Oberflächenstruktur in einem offenen Prozess der Korrespondenz ihrer Elemente entsteht. Die Dinge bringen also ihre Form selber mit und erzeugen gemeinsam einen Kontext, der nur bedingt vom Künstler konzipiert werden kann. Genauso werden auch die Spuren des Abformungsprozesses, wie z.B. Gussnähte, nicht beseitigt und verweisen damit ein weiteres mal auf eine bewußte Rücknahme der Gestaltungsabsicht.
Ursuppe und Unvergängliches, Frank Gillich und Sigrun Jakubaschke, Ausstellungsansicht, 2022 |
Ebenso verhält es sich mit der Anordnung der Objekte im Raum. Meist verbleiben sie an dem Ort, an dem sie mehr oder minder zufällig abgeladen worden sind.
Sigrun Jakubaschke, die sich seit Jahrzehnten mit der Gestaltung des Raums durch Körperspuren beschäftigt, wendet sich in dieser Ausstellung vor allem der sich selbst bezeugenden Materialität zu.
Wie auch Gillich nutzt sie dazu vorgefundene Objekte und Strukturen. In erster Linie sind es historische Trockenmauern, die in Anlehnung an die Frottagetechnik durch das Papier nachgezeichnet werden.
Hier korrespondiert bereits der Prozess der Bildentstehung mit dem Abgebildeten: Bei dem Bau der Mauern wurden die Steine nur grob zugerichtet, sodaß in ihrer Form vor allem die originäre Struktur des Steins zutage tritt. Analog dazu folgt die zeichnende Hand der Künstlerin ebenfalls dem Vorgefundenen und läßt dessen Struktur zutage treten.
Im anschließenden Aufschichtungsprozess der Steine bestimmen ihre jeweilig individuellen Formen die Struktur des Gemäuers. Ähnlich den Fluktuationen in Gillichs Kugelschreiberzeichnungen, bringen die materialinhärenten Abweichungen, trotz des schematisierten Prozesses, in ihrer Summe ein jeweils vollkommen individuelles Gefüge hervor.
Ursuppe und Unvergängliches, Sigrun Jakubaschke, Ausstellungsansicht, 2022 |
Ein weiteres Charakteristikum - sowohl der Einzelblätter als auch ihrer Agglomeration - ist die jeweilige Zufälligkeit der Begrenzung. Die Struktur der einzelnen abgezeichneten Mauerabschnitte ist keiner geschlossenen, hierarchischen Komposition unterworfen, sie könnte sich ins Grenzenlose fortsetzen, genauso wie auch wie die Anordnung und Zahl der Einzelblätter keiner zwingenden Komposition folgt und sich über den ganzen Raum ausbreiten könnte.
Diese angedeutete Grenzenlosigkeit, bzw. die spontane Wahl von Ausschnitt und Größe des Bildgefüges, konterkariert einen weiteren Aspekt der aneignenden, hierarchischen Kunst. In einem Zitat von R.L. Stevenson heißt es: „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.“ (7)
Denn für gewöhnlich sind Kunstwerke, ob ein Roman, eine Skulptur oder ein Bild, in sich geschlossen. In der Literatur werden Anfang und Ende, auch wenn es sich um Tatsachenromane handelt, gezielt gesetzt, damit sich die Bewegungen im Text zu einer dramaturgischen Einheit zusammenziehen. In der Kunst sind es Bildausschnitt und Komposition, die gezielt gesetzt werden. Das gilt jedoch nur für die aneignende, subjektivierende Kunst.
Die Vorgehensweise von Sigrun Jakubaschke macht hingegen deutlich, daß für die vorliegende Begrenzung des Abgebildeten keinerlei Notwendigkeit besteht. Sie ist beliebig und verlangt deshalb geradezu, in alle Richtungen weiter gedacht zu werden, denn das Abgebildete ist schließlich nur eine Spur, ein zufälliger Ausschnitt des Monströsen, Sprunghaften und Unbegrenzten.
In die Mauerfragmente sind auch immer wieder Zeichnungen toter Kleintiere und Vögel eingefügt. Doch auch hier handelt es sich nicht um Darstellungen im herkömmlichen, planvoll gestalteten Sinne. Vielmehr sind es Blindzeichnungen. Das Auge der Künstlerin ruht dabei nur auf dem Gesehenen, nicht auf dem Gezeichneten. Das Gezeichnete ist also nicht Ergebnis einer kontrollierten Gestaltungsabsicht, sondern vielmehr das Ergebnis eines körperlichen Ereignisses, ausgelöst durch einen visuellen Reiz.
Hier schlägt sich gewiß auch Sigrun Jakubaschkes Erfahrung mit ostasiatischer Kalligraphie nieder. Für die gilt, daß nicht das besonders virtuos ausgeführte Schriftzeichen gelungen ist, sondern das Schriftzeichen, in dem sich das spontane Nachempfinden des gemeinten Objekts am authentischsten zeigt. Hier wie dort soll sich also die Welt über den Umweg des Körpers selbst mitteilen, ohne daß sie vom Logos ausgemessen, kategorisiert und ästhetisiert wird.
In Jakubaschkes Skulpturen teilen sich das Material und sein Verhalten während verschiedener Bearbeitungsprozesse noch unmittelbarer mit. Es handelt sich vor allem um gefärbten und ungefärbten Gips, der sich während des Abbindens transformiert.
In diesen Prozess greift Sigrun Jakubaschke zu verschiedenen Zeitpunkten ein und ruft damit Effekte hervor, in der sich der Prozess der Metamorphose selbst zeigt. Auch bei ihr tauchen, wie bei Gillich, zufällig gefundene, organische Objekte auf, die mit den Gipskörpern in Dialog gebracht werden.
Ihre organische Gestaltwerdung, die im Gegensatz zur willkürlichen Gestaltgebung durch nichts legitimiert werden muß, wird unterstrichen durch auffällige Färbung, z.B. durch Vergoldung.
In allen Arbeiten sprechen also die Körper zu uns, die belebten, handelnden Körper der Kunstschaffenden, oder die unbelebten Körper, die sowohl bei Gillich als auch bei Jakubaschke von Transformation und Übergang zeugen.
In dem Vorbereitungsgespräch fiel unter anderem ein Zitat von Friedrich Nietzsche, das ich hier im ganzen Zusammenhang nennen möchte:
„Leib bin ich und Seele“ — so redet das Kind.
Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden?
Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin
ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele
ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit
mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine
Herde und ein Hirt.
Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine
Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein
kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.
„Ich“ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber
das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein
Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich,
aber thut Ich. (8)
Wir leben in einer Zeit, in der wir die Früchte davon ernten müssen, was uns gut 2500 Jahre dualistisches Denken eingebracht haben. Überall um uns sehen wir die Ergebnisse von der Ideologie der Unterwerfung des Körpers und der Unterwerfung der Welt. Der Dualismus hat uns dahin geführt, daß wir die Welt als Objekt der Ausbeutung heruntergewirtschaftet haben, genauso wie wir die Körper unserer Mitmenschen - und oft sogar unsere eigenen - zu einer wirtschaftlichen Ressource degradiert haben.
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Doch wir befinden uns an einer Zeitenwende, in der es schließlich zu einer essentiellen Notwendigkeit geworden ist, sich wieder den Gegebenheiten von Körper und Welt unterzuordnen. Es ist notwendig geworden, daß der Mensch in der Dingwirklichkeit sich als Gleicher unter Gleichem begreift, nicht als Herrscher über sie, sondern lediglich als ein Teil, ein beliebig gesetzter Ausschnitt einer ganzheitlichen Wirklichkeit.
In diesem Zusammenhang zeugen die Arbeiten von Sigrun Jakubaschke und Frank Gillich von einem erforderlichen Paradigmenwechsel in der Beziehung von Mensch und Welt, vom Umgang des Menschen mit der Subjekt-Objekt-Spaltung und seinen Strategien, die als schmerzhaft empfundene Kluft zu überbrücken.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2022
Quellen:
(1) Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. R. Piper, München 1953 / 1986, S. 24 f.
(2) Joseph Campbell, Mythologie der Urvölker, dtv, München 1991, S. 317 ff.
(3) Marshall Sahlins: Kultur und praktische Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1981, S. 288 ff.
(4) Luigi der Marchi: Der Urschock, Luchterhand, Darmstadt, 1988
(5) Mose 1.28, Große Lutherbibel, Deutsche Bibelstiftung, Stuttgart, 1979
(6) A. Beutelspacher, B. Petri: Der Goldene Schnitt. Spektrum, Heidelberg / Berlin / Oxford 1988, S.148 ff.
(7) R.L. Stevenson, nach A. Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2005, 193
(8) F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Insel Verlag, München , 1976, S. 37
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