Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Montag, 30. September 2024

Dem Menschen zugewandt - Dr. Thomas Piesbergen über eine Ausstellung aus dem Nachlass von Fritz Fleer in der Hauptkirche St. Nicolai, Hamburg

Kunstwerke sind ein Mittel der Kommunikation. Und so wie es in jeder Art der Kommunikation der Fall ist, wollen auch Kunstwerke verstanden sein. Denn sie sind bis auf wenige Ausnahmen, für eine Öffentlichkeit geschaffen. Doch so wie es verschiedenste Positionen in der Kunst gibt, gibt es auch sehr verschiedene Arten von Öffentlichkeit, denen die Kunstwerke jeweils zugedacht sind.

Da gibt es z.B. die überschaubare Öffentlichkeit der Galerien. Hier wird auf ein Publikum zugearbeitet, das vornehmlich aus gut orientierten Sammlern besteht.
Dann gibt es die Öffentlichkeit der Off-Galerien, Anlaufpunkt der Kunstszene, in denen viel experimentiert wird, um neue Ausdrucksformen auszuprobieren, um auf sich aufmerksam zu machen und sich zu vernetzen.
Es gibt die Öffentlichkeit der Museen, für die, wenn gezielt für sie produziert wird, auch Großformatiges, Spektakuläres geschaffen werden kann, das vielleicht sogar den Anspruch erhebt, zu einer Touristenattraktion zu werden.
Und schließlich gibt es die Kunst im öffentlichen Raum, die dem Menschen auch außerhalb ausgewiesener Kunstorte in seinem Alltag begegnet, die man nicht aufsuchen muss, sondern die uns unvermittelt trifft und Orientierungspunkt sein kann.

So wie man im Gespräch darauf achtet, dass man auf eine Art und Weise spricht, die dem Gesprächspartner verständlich ist, so hat auch jede Art der Öffentlichkeit, der man sich mitteilen möchte, einen starken Einfluss darauf, wie ein Kunstwerk gestaltet wird. Denn auch wenn Künstler*innen den Anspruch haben im eigenen Schaffen autark zu bleiben, versuchen sie dennoch das von ihnen anvisierte Publikum zu erreichen, und das hat, bewusst oder unbewusst, Einfluss auf ihre Arbeit.

Der Bildhauer Fritz Fleer war nie ein Künstler, dem es darum ging, zur Avantgarde zu gehören. Er hatte kein Interesse daran eine kleine Elite von Sammlern, Kuratoren und Kritikern zu beeindrucken. Ebenso wenig hatte er Interesse daran, mit seiner Arbeit die künstlerische Formensprache  zu revolutionieren, oder das Establishment durch spektakuläre Inszenierungen zu provozieren und so politisch wirksam zu werden.

Sein Interesse war es immer, die Menschen unmittelbar zu erreichen, und zwar alle Menschen, nicht nur eine Teilöffentlichkeit. Deshalb hat er sich dafür entschieden, vor allem Kunst für den öffentlichen Raum zu schaffen.
Doch mit welcher Haltung ist er auf diese Öffentlichkeit zugegangen? Um mich dem zu nähern, möchte ich ein Zitat des Schriftstellers Alan Moore einschieben. Moore sagte in einem Interview: „Das Publikum weiß, was es will, es weiß aber nicht, was es braucht. Der Künstler weiß, was es braucht. Wüsste das Publikum, was es braucht, wäre es nicht länger ein Publikum, sondern selbst Künstler.“
Natürlich gibt es Künstler*innen, die dem jeweiligen Publikum, für das sie arbeiten, genau das geben, was dieses Publikum will.
Fritz Fleer hingegen war davon überzeugt, dass man für eine breite Öffentlichkeit Skulpturen schaffen müsse, die diese Öffentlichkeit braucht. Ihm ging es nie darum, gefällig zu sein oder in einem intellektuellen Diskurs Schritt zu halten, sein Anliegen war es vielmehr, etwas zu vermitteln, das den Menschen jeden Tag aufs neue Kraft und Zuversicht gibt, etwas, dass die Menschenliebe in ihnen weckt und ihnen Innere Haltung und Würde gibt - Dinge die nicht nur nach dem Grauen der Nazidiktatur und dem zweiten Weltkrieg bitter nötig waren, sondern deren Bedeutung auch heute noch ungebrochen ist.

Diese Einstellung, diese Werte und die Anforderung für eine breite Öffentlichkeit verständlich zu sein, haben ihn zu einem klaren Ausdruck, elementarer Komposition und einer zwar unzeitgemäßen, aber zugänglichen Gegenständlichkeit geführt.
Doch darf man Fritz Fleer nicht missverstehen als naturalistischen Künstler. Denn seine Skulpturen sind immer Ergebnis einer Reduktion auf das Wesentliche, auf die Idee einer inneren Einstellung, eines Selbstbildes. Es wäre aber ebenso ein Fehler, die Figuren Idealbilder zu verstehen. Dieses Konzept, wurzelnd im antiken Erbe der platonischen Ideenlehre, war lange Zeit maßgeblich für die Bildhauerei, hat aber schließlich auch zu den schrecklichen Irrtümern der faschistischen Kunst und ihrem Ideal des Herrenmenschen geführt.

Fritz Fleer wollte niemals zeigen, wie der Mensch sein müsse. Seine Figuren sollten vielmehr durch ihre Wirkung im Raum unmittelbar auf die Selbstwahrnehmung der Betrachter*innen wirken. Heute ist dieser Mechanismus wissenschaftlich beschreibbar geworden. Mittels der sogenannten Spiegelneuronen können wir Gestik und Mimik anderer Menschen innerlich nachvollziehen und uns in sie hineinversetzen. Die Haltung anderer Körper erzeugt in uns emotive Reaktionen.
Um diese gewünschte emotive Wirkung zu erzielen, hat Fritz Fleer seine Figuren so schlicht wie möglich gestaltet und auf alle überflüssigen Details, auf alles Pompöse oder Einschüchternde verzichtet. Ihre schlichte Botschaft sollte durch nichts überlagert werden.
Wenn wir also einer solchen Figur gegenüber stehen, die sich aufrecht hält, ohne uns mit dieser Haltung zu beherrschen, so können auch wir uns an ihr aufrichten.
Exemplarisch dafür sind Fleers Kruzifixe. Niemals hat er Jesus als Schmerzensmann dargestellt, als einen gequälten diesseitigen Leib. Für ihn war der Gedanke der Erlösung wichtig. Und die fand er nicht in der Darstellung des Leids, einer imposanten Inszenierung des Himmelreichs oder einer Auferstehung mit Gloriole und Engelschören, sondern in der schlichten Erhabenheit eines aufrechten, in sich ruhenden menschlichen Körpers, dessen Zuversicht und Gelassenheit unmittelbar auf uns übergeht.

So hat Fritz Fleer sein Leben lang mit seinen Skulpturen Orte ausgestattet und mitgestaltet, denen eine Aura der Würde, der Klarheit, Gelassenheit und Selbstachtung zu eigen ist. Und nicht nur seine Figuren strahlen diese innere Haltung aus, auch die von ihm gestalteten Altäre, Sockel oder Taufbecken sind davon getragen. Einerseits ruhen sie fest auf dem Boden, andererseits streben sie in die Höhe, wirken, als wären sie frei von aller Last.

So liegt es nur nahe, dass er auch ein feines Empfinden für sein eigenes Lebens- und Arbeitsumfeld hatte. In den frühen 60er Jahren engagierte er für den Bau seines eigenen Hauses in Wohldorf-Ohlstedt Otto Andersen, den wohl wichtigsten Kirchenarchitekten der 50er und 60er Jahre in Norddeutschland. Gemeinsam gestalteten sie Räume, die, wie auch Fleers Skulpturen, ein positives Raum- und Selbstgefühl vermitteln. Sie entwarfen ein Haus, das nicht repräsentativ in die Nachbarschaft hinaus protzt, sondern seinen Bewohnern Raum, Licht und Luft bietet, um sich in schlichter menschlicher Größe und Würde aufzurichten und sich zu entfalten. Dasselbe gilt für die Möbel, von denen Fleer etliche selbst gestaltete.

Inzwischen sind Fritz Fleer und seine Frau, die Fotografin Erika Fleer, gestorben und der Nachlass, das Haus mit dem Atelier, mit seinem Lager und einem großer Garten voller Statuen, in die Hände der Fleer Stiftung übergegangen.
Wie geht man nun mit so einem Nachlass um? Die Stiftung hat sich für das Naheliegendste entschieden:
Nachdem Fritz Fleer sein Leben lang Kunst für den öffentlichen Raum geschaffen hat, haben sie den Ort, an dem seine Kunst entstanden ist und der, seit seinem Entstehungsjahr, bis ins Detail nahezu unverändert geblieben ist, selbst zu einem öffentlichen Raum gemacht.

Vor allem Jugendlichen bietet sich nun die Gelegenheit, einen Ort zu erleben, an dem sie nicht nur den Skulpturen Fritz Fleers begegnen, sondern auch ein Gefühl für einen Ort entwickeln können, an dem einem solchen, dem Menschen zugewandten kreativen Schaffen ein idealer Rahmen geboten wird.  Sie können einen Raum erfahren, der von dieser inneren Haltung durchdrungen ist, einen Ort, an dem sie wachsen und sich aufrichten können, so wie wir es tun können, umgeben von den Skulpturen und Reliefen dieser Ausstellung, die uns einen Einblick in die dem Menschen zugewandte Kunst Fritz Fleers eröffnet.

©️ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2024

Donnerstag, 26. September 2024

Von der Zähmung der Wildnis - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Die Stunde der Wildnis“ von Chika Agura und Rolf Naedler im Künstlerhaus Bergedorf

 

Chika Aruga, Rolf Naedler "Die Stunde der Wildnis", Einladungskarte, 2024
 

Zu den markantesten Aspekten der menschlichen Kultur und demzufolge auch zu den wichtigsten Schritten auf dem Weg zur Menschwerdung, zählt die Selbstwahrnehmung des Menschen als etwas von der Natur Abgespaltenes. Sowohl in der Archäologie als auch in der Ethnologie begegnet uns die Natur immer wieder als die maßgebliche antagonistische Kraft.

Schon von den steinzeitlichen Höhlenmalereien kennen wir den Komplex von Natur, Tod und Fruchtbarkeit, als eine Macht, die dem Menschen gegenübersteht und auf die er einwirken muss. Über Jahrtausende und bis in die historische Zeit hat sich dieser Komplex nur in seiner Erscheinungsform, nicht aber in seiner inneren Struktur verändert.

Aus dem ethnologischen Strukturalismus wiederum kennen wir die Kategorien von Innen und Außen, von der menschlichen und der natürlichen Sphäre, die in einem Spektrum einander gegenüberstehen und entscheidend für die Selbstbeschreibung nahezu aller beobachtbaren Ethnien sind.
Dabei ist das „Innen“ immer die eigene spezifische Kultur, wobei häufig nur die Mitglieder derselben als Menschen gelten. Je weiter wir uns in das „Außen“ bewegen, desto wilder, barbarischer und unmenschlicher werden die Zuschreibungen, bis wir schließlich die kulturelle Sphäre gänzlich verlassen und die ungezähmte Wildnis betreten.

Doch indem der Mensch eine Grenze zieht zwischen sich und der Natur, aus der er ursprünglich hervorgegangen ist, schafft er zugleich die Notwendigkeit der Überwindung dieser Grenze, er schafft die Notwendigkeit eines Austausches zwischen den beiden Sphären. Denn die ihn umgebende Natur birgt nicht nur tödliche Bedrohung, genauso ist er auf sie angewiesen um zu überleben. Zudem erkennt er in seinem eigenen Leben den Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der sich ebenso in der Sphäre der Natur abspielt. Er begreift sich also als von ihr getrennt, ist sich aber zugleich bewusst, untrennbar mit ihr verbunden zu sein.

Um diesen Widerspruch zu überwinden, waren religiöse Konzepte und Riten ein ideales Medium, denn hinter der lebensspendenden und zugleich todbringenden Kraft der Natur wähnte der Mensch das Walten numinoser Mächte. Er beseelte die Natur mit Geistern, Göttern und Kräften, von denen der Mensch zwar gegenwärtig getrennt war, von deren Wohlwollen er aber abhängig blieb. Eine solche nur minimal strukturierte animistische Weltsicht bildet mit großer Wahrscheinlichkeit den Ursprung allen religiösen Denkens. Sie begegnet uns noch heute z.B. bei den südafrikanischen San oder, in höchst sublimierter Form, im japanischen Shintoismus. In beiden Fällen umgibt den Menschen eine allgegenwärtig beseelte Natur.

Doch, wie schon erwähnt, wird diese Trennung vom Menschen und den numinosen Kräften der Natur nur als vorübergehend verstanden. Besonders für die San ist gut beschrieben, dass die Menschen nach ihrem Tod wieder in die Geisterwelt der umgebenden Natur übergehen, wodurch eine enge Verbindung zwischen den Lebenden, den Ahnengeistern und dem Land hergestellt wird. Dieser unmittelbare Kontakt kann vorübergehend auch in Trancezuständen gesucht werden. Bei den San geschieht das z.B. spontan, im Shintoismus wird diese Erfahrung durch eine mit rituellem Tanz eingeleitete Naturschau herbeigeführt. Über Jahrtausende galt so die Natur, und mit ihr auch die menschliche Natur, als etwas unmittelbar erfahbar Heiliges.

Erst im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrtausends ereignete sich im vorderasiatischen und mediterranen Bereich ein massiver Bruch dieser Entwicklungslinie. Mit den Offenbarungsreligionen einerseits und der Weltsicht der Pythagoreer andererseits vollzog sich ein Paradigmenwechsel, den man als Dualismus bezeichnet, und der die europäische Geistesgeschichte bis heute grundlegend geprägt hat.

Denn dem dualistischen Konzept zufolge, ganz gleich ob in den drei großen Buchreligionen, bei den Manichäern, ob im Mithraskult, in der Gnosis oder bei Platon und allen ihm folgenden philosophischen Schulen, gelten die Welt und Gott als strikt voneinander getrennt. Wo es zuvor jedem Individuum zugebilligt wurde, mit dem Numinosen in der Natur in Kontakt zu treten, gesteht die dualistische Vorstellung dieses Privileg nur noch ihren wenigen Propheten zu, denen in ihren Visionen sehr spezifische göttliche Gesetze offenbart werden. Dem gewöhnlichen Menschen ist es unmöglich, diese nun endgültig gezogene Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen zu überschreiten. Ihm bleibt lediglich übrig, sich den Gesetzen zu unterwerfen, die ihm die Propheten verkünden.

Damit wurde auch die Natur, in der es zuvor noch heilige Quellen, heilige Haine, Bäume und Berge gegeben hatte, zu einem unbeseelten, profanen Objekt, das man sich im göttlichen Auftrag zu unterwerfen hatte, wie es im Alten Testament beschrieben wird. Genau das gleiche Schicksal widerfuhr dem menschlichen Körper, dem „sündigen Fleisch“, dessen Bedürfnisse von nun an größenteils als teuflische Versuchungen denunziert wurden. Diese Entwicklung erlebte ihren grotesken Höhepunkt in dem Glaubenssystem der Katharer.

Die östliche Hemisphäre blieb von dieser Abspaltung des Heiligen von Natur und Körper weitgehend verschont. Zwar gibt es auch in den östlichen Religionen den Topos der Weltabkehr und den Gedanken, der Mensch lebe in einer Welt des Scheins, dennoch bleibt immer die Vorstellung einer Allgegenwart des Göttlichen bestehen. So gibt es im Buddhismus die Vorstellung der Buddha-Natur, die in allem gegenwärtig ist. Im Hinduismus gibt es zwar ein strenges Kastensystem, dass den Priesterdienst auf die Brahmanen beschränkt, es steht aber jedem frei, ein Sadhu, ein asketischer Heiliger zu werden. Denn der menschliche Körper gilt dort als ein Medium, das imstande ist, zur unmittelbaren Begegnung mit dem Heiligen zu führen.

In der abendländischen Kultur wurde die Natur erst mit der Romantik wieder entdeckt als ein Ort an dem, ohne die sonst notwendige Vermittlung einer kirchlichen Autorität, eine unmittelbare Erfahrung mit einem tieferen Geheimnis des Seins möglich ist.

Allen voran formulierte Novalis, inspiriert von Johann Gottlieb Fichte, diese neue Sicht auf die Natur. Fichte, in dem man einen Vorläufer des radikalen Konstruktivismus sehen kann, ging von einem Ich aus, das sich einem Nicht-Ich handelnd stellt und dadurch die Wirklichkeit erschafft.

Novalis verstand unter dem Nicht-Ich vor allem die der Menschheit gegenübergestellte Natur, in der er aber gleichzeitig einen Spiegel für das menschliche Miteinander sah. So heißt es in den Lehrlingen zu Sais (Kap. II, Natur): „Man steht mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen Verhältnissen so wie mit den Menschen.“
Er glaubte jedoch, dieses Unbegreifliche, dem der Mensch in der wilden Natur begegnet, könne man überwinden, indem man die Natur bis zu einem gewissen Grad zähmt, sie künstlerisch-poetisch überformt und sie in einen sog. „Geheimniszustand“ überführt, in dem der Mensch sein Inneres wieder erkennen kann. Die Natur sollte auf diese Weise Spiegel des menschlichen Seelenlebens werden.

Diese von Novalis geforderte Zähmung der Natur, die nicht deren natürliche Gestalt auslöscht, wie es im symmetrischen Barockgarten geschieht, sondern sie lediglich an die menschlichen Maßstäbe anpasst, entspricht dem Konzept des japanischen Gartens, der vor allem der Kontemplation dient, denn er ist untrennbar mit der Gedankenwelt des Zen-Buddhismus verbunden, der seinerseits das Naturverständnis aus dem Shintoismus übernommen hat. Der Japanische Garten, insbesondere der Zen-Garten, ist also ein Ort, an dem es ermöglicht werden soll, durch die Anschauung einer gezähmten Natur eine Verbindung mit dem Numinosen herzustellen.

Im europäischen Zusammenhang hat das romantische Naturverständnis den englischen Landschaftsgarten hervorgebracht, der kurz nach Novalis’ Tod von Fürst Pückler-Muskau in Deutschland eingeführt worden ist. Auch hier wird versucht, eine möglichst natürliche Landschaft nachzugestalten, durch die der Mensch lustwandeln kann, ohne dem Fremdartigen, den Unannehmlichkeiten und Gefahren ausgesetzt zu sein, die in einer ungezähmten Wildnis lauern.
Doch bleibt die poetische Begegnung mit dem Numinosen in der Natur nur eine poetische Randnotiz der westlichen Kultur. Denn immer maßgeblicher wird dort die wissenschaftliche Erfassung der Wildnis, ihre Zähmung durch den ordnenden, vermessenden und kategorisierenden Logos, so wie er durch Carl von Linné oder Alexander von Humboldt personifiziert wird. Trotz des romantischen Intermezzos bleibt die Wildnis also etwas, das es zu unterwerfen gilt, das der Mensch, ganz dem göttlichen Gebot folgend, sich Untertan machen soll.

Diese zwei gegensätzlichen Perspektiven auf die Welt - einerseits die Natur als Schnittstelle zum Numinosen, andererseits die von uns unterworfene und geordnete Natur - haben bis heute das Verhältnis von Mensch und Umwelt in der westlichen und östlichen Hemisphäre geprägt und treten uns in der Ausstellung „Die Stunde der Wildnis“ von Chika Aruga und Rolf Naedler nahezu exemplarisch entgegen.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024


Chika Aruga lässt sich unmittelbar von der Natur inspirieren. Vor allem in den Nationalparks der Präfektur Nagano im zentralen Hochland der japanischen Insel Honshū, fertigt Chika Aruga Zeichnungen und Fotos an, die all ihren Arbeiten zugrunde liegen.
Im weiteren künstlerischen Prozess wird dieses Ausgangsmaterial ergänzt durch Bildern aus verschiedenen medialen Kontexten, wie z.B. Zeitschriften. Die verschiedenen zusammengetragenen Fragmente werden nun Schicht um Schicht übereinander gelegt.

Dabei setzt Chika Aruga auch moderne Technik ein. Mittels Photoshop experimentiert sie mit verschiedenen Möglichkeiten der Überlagerung und des Farbauftrags, bevor sie zum eigentlichen Akt des Malens kommt. In diesem Zwischenschritt ereignet sich ganz konkret eine Zähmung der zuvor rezipierten Wildnis mittels digitaler Technik, die vielleicht mit der hochentwickelten Technik des japanischen Gartenbaus verglichen werden kann, der wir die Kunst des Bonsais oder des Zen-Gartens zu verdanken haben.
 

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Nach dieser Domestizierung der Natureindrücke, beginnt die eigentlich Bildgenese mit dem faktischen Farbauftrag auf der Leinwand. Nun entfaltet sich wiederum die Eigendynamik der nicht gegenständlichen Malerei. Wie in einem Wald Dinge wachsen, absterben, überwuchert werden und den Boden für neues Wachstum bieten, so wachsen auch die Bilder nach ihren eigenen, innewohnenden Gesetzen, bis sie schließlich zu einer endgültige Form gefunden haben.
Vor uns sehen wir eine Durchdringung mikro- und makroskopischer Erscheinungen: Wasserbläschen, Blätter und Blüten, die abstrahierten Muster weit verzweigten Geästs, die blauen Schattierungen der Bergkämme, das Zusammenspiel von dem unablässigen Werden und Vergehen im Kleinen und der unvergänglich anmutenden, ewig sich gleichenden Landschaft im Großen. Wir erleben also den Versuch, die Totalität einer ganzheitlichen Naturerfahrung umzusetzen, den Versuch, das Erlebnis einer völligen Immersion, einer unmittelbaren Begegnung zu reproduzieren.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Eine besondere Bedeutung haben dabei die Leerräume, die in den Malereien durch gezielte, meist blaue Übermalung gesetzt werden und in den Aquarellen ausgespart bleiben. Aruga bezieht sich dabei auf eine Idee klassischer japanischer Malerei, in der die dort meist vergoldeten Leerflächen Denkräume für den Betrachter öffnen sollen.
So sehen wir im Arbeitsprozess zwar einen Zwischenschritt, in dem die Wildnis gezähmt wird, doch geht der ganze Vorgang von einer unmittelbaren und ganzheitlichen Naturschau aus und wuchert schließlich, wie die Natur selbst, mit steten Revisionen und Übermalungen von der Leinwand bis in die Vorstellungsräume der Betrachter*innen hinein.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024


Ganz anders ist der Ansatz von Rolf Naedler. Während sich Chika Aruga dem unteilbaren Ganzen eines Natureindrucks öffnet und versucht ihn wiederzugeben, sind für Rolf Naedlers Arbeitsprozess Einzelstücke impulsgebend.

Manchmal sind es Fundstücke, die er auf einem Waldspaziergang findet; oft sucht er aber auch gezielt die Sammlungen zoologischer Institute oder Museen auf und nimmt sich Tierpräparate zum Modell. Immer sind es Exemplare, die aus ihrem natürlichen Kontext gelöst sind und, im Falle der Stücke aus Sammlungen, von einem wissenschaftlichen Forschungsapparat erfasst wurden. Im Gegensatz zu Arugas Motiven sind sie aus dem wilden Zusammenhang gelöst und ganz und gar kulturell assimiliert.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Entsprechend nähert sich Rolf Naedler diesen Exemplaren zunächst nicht auf intuitivem und sinnlichem Weg, sondern, ganz in der Tradition des abendländischen Dualismus, dem die Natur als profan gilt, mit dem analytischen Logos; er recherchiert über die Lebensweise der Tiere, die er malt, über ihre Herkunft, ihre ökologische Nische, ihre Bedeutung für das Ökosystem und schließlich auch ihre kulturelle Rezeption. Man könnte sagen, er seziert den Topos der Spezies.

Hier möchte ich einen kurzen Rückgriff auf eine kulturelle Erscheinung des Mittelpaläolithikums wagen: Aus europäischen Höhlen sind Deponierungen von Knochen des Höhlenbären bekannt, die nahelegen, dass, nachdem man die Tiere erlegt und verwertet hat, ihre Knochen in einem Ritual wieder zusammen gefügt wurden, wahrscheinlich um ihre Seele dem Naturreich der Geister zurück zu führen, damit sie erneut als Höhlenbär geboren und gejagt werden können. Identische Rituale konnten in Sibirien noch zu Beginn des 20. Jhd. beobachtet werden.
Der Mensch fühlte sich also dafür verantwortlich, dass der Kreislauf des Lebens in Gang gehalten wird, und das, was der Natur genommen wurde, auch zurückgegeben werden muss, um sich zu erneuern.

Den Arbeitsprozess, der sich an die zuvor beschriebene Recherche von Rolf Naedler anschließt, kann man durchaus mit diesem mittelpaläolithischen Versuch der Wiedergutmachung  vergleichen. Denn aus der Recherche resultiert der Versuch einer Rekontextualisierung. Die Fundstücke und Exemplare werden auf der Leinwand in Bezug zu bedeutsamen visuellen Elementen gesetzt, die sie aus der Zusammenhangslosigkeit retten sollen, in die sie zuvor geworfen wurden.
Dazu dienen vor allem besondere Malgründe oder Hintergrundmuster. So finden wir das ostasiatische Wasserreh umgeben von einem Tapetenmuster mit ebenfalls asiatischen Kranichornamenten, die einen Hinweis auf den Lebensraum des Rehs geben sollen. Das Indische Springkraut ist ebenso auf einen gemusterten Stoff gemalt, der, wie die Pflanze selbst, aus Indien stammt.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Auf anderen Bildern sind den dargestellten Vögeln kleine lexikalische Absätze beigefügt, die nicht nur Hintergrundinformationen vermitteln, sondern auch zeigen sollen, wie die aus ihrem Lebenszusammenhang gerissenen Exemplare in einen kulturellen Kontext überführt worden sind.

Man gewinnt den Eindruck, als wären die Bilder aus einer Sehnsucht entstanden, den durch die westliche Kultur verursachten Bruch zwischen Mensch und Natur und den dadurch angerichteten Schaden, wieder zu beheben, doch lediglich mit den limitierten Mitteln, die uns eine profane und analytische Weltsicht noch lässt, also lediglich mit vom Verstand zusammengetragenen kulturellen Hervorbringungen und  Nachahmungen der Natur.

Dieser Gedanke ist wiederum ironisch aufgegriffen in dem Bild einer Dose mit eingelegtem Thunfisch, die, flankiert von Messer und Gabel, ein Bild im Bild zeigt: Eine idealisierte Szene, ein Sehnsuchtsbildchen vom Meer mit Segelboot, in dem die Harmonie von Mensch und Natur perfekt scheint, während sie tatsächlich unterworfen und gezähmt in konsumerablen Häppchen in Blech eingedost vor uns steht.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Doch das Momentum der Sehnsucht nach unmittelbarem Kontakt zur Welt, nach einer frei wuchernden Wildnis, wie wir sie bei Chika Aruga erleben, tritt noch auf andere Weise in Rolf Naedlers Bildern zutage: Über die Leinwände breitet sich oft als Bildgrund jenseits der Ornamente eine Schicht von zarten, ineinander fließenden Farben aus, die in einem subtilen, aber dennoch starken Kontrast stehen zu den zeichenhaft aufeinander bezogenen Bildelementen und der analytischen Rekontextualisierung.

Vielleicht mag man diese lebendigen, ungezähmten Farbschichten lesen als eine Ahnung wirklicher Wildnis, als die Natur, die sich in uns selbst verbirgt, die aus uns hervortreten möchte, um die Grenze, die einst zwischen der wilden und der kulturellen Sphäre gezogen worden ist, schließlich doch wieder zu überwinden.

©️ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2024