Dr. Thomas J. Piesbergen
The Universal Egg
Eine Klanginstallation und Performance des Improvisationskollektivs Passierzettel im Hühnerhaus Volksdorf.Kunst.
Ist ein Hühnerhaus für Kunstausstellungen schon ein ungewöhnlicher Ort, so muß das in besonderem Maße für Musikdarbietungen gelten, die bis auf wenige Ausnahmen in eigens dafür vorgesehenen Räumen oder auf Bühnen stattfinden. Wie kommt also Musik in ein Haus, das errichtet wurde, damit Hühner ihre Eier darin legen?
In dem Ei und seiner symbolischen Bedeutung liegt allerdings schon der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage verborgen. Dazu ist es doch zunächst nötig, einen Blick auf die Schöpfungsmythen verschiedener Hochkulturen, und schließlich die moderne wissenschaftliche Vorstellung der Kosmogenese zu werfen.
Der Mythenforscher Joseph Campbell identifiziert das Ei als einen der Elementargedanken, die allen menschlichen Kulturen zugrunde liegen. Seinen Untersuchungen zufolge steht es für den Ursprung der Welt. Auch nach der Archetypenlehre C.G. Jungs steht das Ei für den Ur-Anfang, die höchste Kostbarkeit und den Beginn des Lebens. Außerdem symbolisiert es die in sich geschlossene Psyche, das Seelen-Ei.
Eine erste Bestätigung der Allgemeingültigkeit dieser Symbolik finden wir bereits in dem Osterei, das zwar aus einem „heidnisch“-germanischen Kontext übernommen wurde, nichtsdestotrotz in den christlichen Auferstehungsmythos eingewoben wurde, der nicht nur durch seine zeitliche Festlegung wiederum eng mit Wiedergeburts- und Fruchtbarkeitsmythen verbunden ist.
Die ältesten, fixierten Überlieferungen über das „Welten-Ei“ liefern die ägyptischen Schöpfungsmythen aus Hermepolis und Heliopolis. Nach dem Mythos aus Hermepolis legt ein Ibis ein Ei auf den Ur-Hügel, der aus dem Ur-Ozean ragt. Aus diesem Ei wird der Gott Re geboren, der die Welt erschafft. In dem Mythos aus Heliopolis ist der Ur-Ozean Nun selbst eiförmig. Darin schwimmt das Ei, aus dem schließlich der Schöpfungsgott Atum schlüpft. Mit der Geburt des Gottes Atum werden Raum und Zeit erschaffen, mittels derer er die Welt werden läßt.
Auch in Babylonien nimmt die Schöpfung ihren Anfang in einem Ei, das im Ur-Chaos schwimmt. In manchen Überlieferungen wird es mit der Ur-Göttin Tiamat identifiziert. Der Gott Marduk zerteilt das Ei/Tiamat und beginnt so den Schöpfungsprozess.
In einem anderen babylonischen Mythos wird von einem riesigen Ei berichtet, das der Himmel in den Euphrat legt. Der Fluß brütet es aus und ihm entsteigt die höchste Göttin Ishtar, die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und des Lebens.
In den hinduistischen Veden steht vor dem Anfang der Welt das Ur-Chaos des „Nicht-Seins“. In einem Akt der Selbstbesamung geht daraus das goldene Ei des Brahma hervor. Tausend Jahre schwimmt das goldene Ei im Ur-Chaos, bis Brahma es zerbricht, daraus hervortritt und aus seinen Resten alle Erscheinungen der Welt schafft.
In der auf dem Hinduismus aufbauenden Überlieferung des Buddhismus taucht das Ur-Ei an der Spitze der Stupas auf, die den Weltberg, die Stufen des Bewußtseins und das Dharma symbolisieren. Wir finden es in Form des Anda, das für eine Erlösung jenseits von Leben und Tod steht und der in sich geschlossenen Psyche entspricht, die C.G. Jung anführte.
Aus dem Taoismus stammt der Mythos des Riesen Pan-Ku, auch Pangu genannt. Das Ur-Chaos ist in der taoistischen Überlieferung mit dem Ei selbst identisch. In dem Ei gebiert sich Pan-Ku in eigener Gestalt. Nachdem er 18.000 Jahre in der Schale geschlummert hat, bricht er sie entzwei. Mit den Füßen verdichtet er die untere Hälfte zur Erde, dem Prinzip des Yin, die andere Schalenhälfte hebt er als Himmel empor. Sie steht für das Yang. Pan-Ku selbst stirbt nach dem großen Schaffensakt vor Erschöpfung. Sein Leib zerfällt und aus seinen Teilen entstehen alle Dinge zwischen Himmel und Erde.
In dem Orphischen Schöpfungsmythos erschafft die Ur-Gottheit Chronos, eine Personifikation des anfänglichen, dunklen Chaos (nicht zu verwechseln mit Kronos, dem Vater des Zeus), aus dem Äther das silberne Weltenei, das von dem Vogel Nyx, der Nacht, gelegt und ausgebrütet wird. Daraus entsteigt Phanes/Eros, der androgyne Gott des Lichts und der Fruchtbarkeit. In den aufgebrochenen Schalen des Eis liegen Okeanos und Thetys, die unter dem Einfluß des Phanes/Eros das Leben zeugen.
Im Pelasgischen Schöpfungsmythos hingegen gebiert die Göttin Eurynome, Mutter aller Dinge, in Gestalt einer Taube das Weltenei, das von ihrem Gatten Ophion, dem aus ihrem Tanz geborenen Nordwind, in der Gestalt einer Schlange ausgebrütet wird.
Daß die Symbolik des Eis nicht nur in den kosmogonischen Mythen der bekannten Hochkulturen eine zentrale Bedeutung hatte, belegt auch die finno-ugritische Überlieferung der Kale Vala, in der die Welt aus einem zerbrochenen Ei einer Gans hervorgeht.
Selbst die Christianisierung konnte das Ei als Symbol des Anfangs nicht auslöschen. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit gelangte die ursprüngliche Bedeutung des Eis aus Ägypten, dem „Mutterland der Zauberei“, in die Tradition der Alchimie. Es stand für die Prima Materia, also den Ur-Stoff, und das Vas Hermetis, das geschlossene Gefäß, das in sich alle künftigen Entwicklungen trägt. Die Nähe dieser Deutungen zu den Archetypen C.G. Jungs liegt auf der Hand.
Betrachtet man all diese Schöpfungsmythen, wird die Universalität der Symbolik des Eis offensichtlich. Davor liegt lediglich das Unvorstellbare, das Ur-Chaos, das oft selbst Züge des Eis trägt, wie in dem Mythos von Pan-Ku oder dem Schöpfungsmythos aus Heliopolis mit seinem eiförmigen Ur-Ozean Nun. Ebenfalls interessant ist, daß der Prime Mover, die Gottheit, die am Beginn der Schöpfung steht, fast ausnahmslos hinter ihrer Schöpfung zurücktritt und keinen oder nur einen marginalen eigenen Kult hatte. Atum, Re, Brahma, Phanes und Pan-Ku sind anderen, nachfolgenden Gottheiten mit einem differenzierten Aufgabenspektrum gewichen. Dieses Muster wiederholt sich in fast allen Religionen der Welt.
Vergleicht man nun diese mythischen Kosmogonien mit den gängigen Theorien der modernen Wissenschaft zur Entstehung des Universums, fallen überraschende Übereinstimmungen ins Auge. Sieht man von den rührenden, aber unmöglichen Versuchen ab, zu beschreiben, was war, bevor das Sein war, steht zu Beginn der Welt das Ei, das völlig in sich Geschlossene.
Es bietet sich geradezu an, dieses Bild des völlig in sich geschlossenen Eis auf die ursprüngliche Singularität, den Zustand des ungeborenen Universums vor dem Urknall zu übertragen. Erst mit dem Urknall entfalten sich, analog zum heliopolischen Schöpfungsmythos, Raum und Zeit.
Das Universum durchläuft nun verschiedene Phasen. Die erste Phase ist die sogenannte Planck-Ära, zu deren Beschreibung keines der heute bekannten Modelle hinreichend ist, da in ihr Raum und Zeit noch kein faßbares Kontinuum bilden. Man nimmt an, daß in diesem ersten Entwicklungsabschnitt alle vier bekannten Naturkräfte, die Gravitation, die schwache und die starke Wechselwirkung sowie die elektromagnetische Wechselwirkung, noch in einer einzigen Ur-Kraft zusammengefaßt waren. Es fällt nicht schwer, diese Planck-Ära mit dem mythologischen Prime Mover gleichzusetzen, der zwar die Schöpfung hervorbringt, sich selbst aber in ihr auflöst. Denn nach der Planck-Ära treten, wie die „spezialisierten“ Götter, die differenzierten Naturkräfte in Erscheinung. Zunächst spaltet sich die Gravitation ab, dann die starke Wechselwirkung und schließlich trennen sich die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung voneinander. Nach verschiedenen Entwicklungsstadien beginnt endlich, nach dem Ende der Strahlungs-Ära, die sogenannte Materie-Ära und mit ihr das Universum, wie wir es kennen.
Die Erscheinungen, die uns nun in diesem Universum entgegentreten, sind Ergebnis des Wechselspiels von Gravitationswellen, elektromagnetischen Wellen und, wie es die Quanten- und Superstringtheorie bezeichnet, von Materiewellen. Wir befinden uns also in einem Kosmos, der den Gesetzen der Wellenmechanik unterliegt, und so öffnet sich unvermittelt ein Weg in das Reich der Harmonielehre und der Musik, denn auch die Schallwellen gehorchen den gleichen physikalischen Gesetzen. Die Interferenzen von Lichtwellen oder elektromagnetischen Wellen unterscheiden sich formal in nichts von entsprechenden tonalen Ereignissen. Es ist also möglich, das erfahrbare Universum als die Musik zu begreifen, die aus dem Ur-Ei der Singularität hervorgegangen ist.
Wie fügt sich aber nun aus dem Gestaltlosen etwas Signifikantes? Wie entstehen aus dem konfusen Durcheinander verschiedenster Wellenformen z.B. Planeten, Hühnereier oder Musik?
Eines der effektivsten Modelle, um die Entstehung der Erscheinungen der Welt und die Entwicklung von Strukturen trotz zunehmender Entropie zu erklären, beschreibt der Mathematiker Hermann Haken als das Prinzip der Synergie oder auch Selbstorganisation.
Sobald in einem chaotischen Kontext von unabhängig agierenden Elementen nur zwei Elemente - durch zufällige Fluktuation - die gleiche Bewegung vollführen, ordnen sich sukzessive alle Elemente des Kontextes diesem Bewegungsmuster unter. Sie werden vom „Ordner versklavt“. Der Terminus Ordner bezeichnet jedoch nicht die Elemente, die als erste dem Bewegungsmuster folgten, sondern das Muster selbst. So entstehen aus nicht-hierarchischer Interaktion der Elemente kollektive, selbstorganisierte und geordnete Strukturen. Diese Gesetzmäßigkeiten gelten für die Bildung von Wolken und Kristallen ebenso wie für die Bewegungsmuster von Fußgängern oder für ökonomische Prozesse. Sie sind universell.
Dementsprechend illustriert dieses Modell vorbildlich die Arbeitsweise des Musikerkollektivs Passierzettel. Es beschreibt den Prozess der Kollektivimprovisation und der Spontankomposition, während der, ohne musikalisches Grundthema, ohne konkrete Absprachen und ohne individuelle Dominanz, von einem Kollektiv gleichberechtigter Elemente innerhalb eines vorher abgesteckten Feldes neue musikalische Ereignisse und kohärente Strukturen hervorgebracht werden.
Die Klanginstallation „The Universal Egg“, mit der das Hühnerhaus Volksdorf bespielt wurde, besteht, in Anlehnung an die elementare, mythische Symbolik des Eis, aus einer sich kontinuierlich wiederholenden Schleife von etwa 10 Minuten Länge, auf der das Geräusch zerbrechender Eierschalen zu hören ist. Analog zu den Entwicklungsphasen des entstehenden Universums wurde das Geräusch des aufbrechenden Eis mit verschiedenen elektronischen Effekten und Filtern bearbeitet.
Bei der darauf aufbauenden Improvisation von Passierzettel wurde einerseits das Hühnerhaus selbst als Klangkörper genutzt, andererseits wurden im Hühnerhaus aufgenommene Geräusch-Samples verwendet, sowie Samples von Objekten, die sich darin befunden haben.
Ausgehend von dem Geräusch des aufbrechenden Welteneis wurde die Schöpfung, der Prozess der Gestaltwerdung und die Entwicklung von Strukturen mit musikalischen Mitteln spontan und exemplarisch nachvollzogen.
Dr. phil Th.J. Piesbergen
September 2010
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