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Freitag, 15. Oktober 2010

Eröffnungsrede zu Intencities 5, einer Ausstellung von Adriane Steckhan

Dr. phil. Thomas J. Piesbergen

IntenCities 5: Mexico D.F.
Eine Urban Skin Installation von Adriane Steckhan


Adriane Steckhan studierte zunächst in Hamburg an der Hochschule für angewandte Wissenschaften und setzte nach dem Diplom ihr Studium in London fort. 2003 schloß sie es als Master of Arts in der Klasse des inzwischen leider verstorbenen Malers Robert Mason ab. Seitdem lebt und arbeitet sie in Hamburg.

Bereits während ihres Studiums in Hamburg setzte sie sich, damals noch mit Zeichnung, Malerei, Lithographie und verschiedenen Radiertechniken, mit dem urbanen Raum  auseinander. Er diente ihr von Anfang an nicht als bloßes Sujet, sondern als Metapher für menschliche Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse. Während ihres Studiums bei Robert Mason in London vertiefte sie diesen Ansatz. Sie gab ihm mit dem langfristigen Projekt „IntenCities“ und den von ihr entwickelten „Urban Skins“ eine hochsignifikante und präzise Form sowie einen streng konzeptionellen Rahmen.
Doch trotz der formalen Strenge ist das Projekt „IntenCities“ in einem ständigen Entwicklungs- und Verwandlungsprozess begriffen und erlebt mit jeder neuen Stadt eine neue Transformation. Bisherige Stationen auf diesem Weg waren London, Hamburg, Venedig und Addis Abeba.

Standen zu Beginn die Ideen der Situationisten wie das Umherschweifen und die Psychogeographie im Vordergrund, die die Stadt und die in ihr wahrgenommenen Strukturen als Repräsentationen einer urbanen Mentalität behandelten, gewannen in den letzten Jahren essentielle und metaphysische Größen zunehmend an Bedeutung.
Auf der formalen Ebene wählt Adriane Steckhan nach wie vor Bilder aus dem nächtlichen, urbanen Raum als metaphorische Matrix, inhaltlich beschäftigt sie sich aber inzwischen vor allem mit der Vergänglichkeit, der Ungeheuerlichkeit des Todes, und dem Echo des Ausgelöschten in der Psyche und der Wahrnehmung des Menschen.

Kaum ein Ort auf der Welt ist von diesen Aspekten deutlicher geprägt als Mexico City, oder Mexico Distrito Federale, kurz D.F., wie die Mexikaner ihre Hauptstadt nennen.


Kaum ein Land auf der Welt hat eine blutigere Geschichte und nirgendwo ist die Faszination des Todes spürbarer als Mexiko. Bereits in den ersten Hochkulturen Mesoamerikas waren Menschenopfer ein fester Bestandteil der religiösen Praxis. Ihren erschreckenden Höhepunkt erlebte diese Tradition im Reich der Azteken. Nur das „Chalchihuatl“, das „kostbare Wasser“, also menschliches Blut, war in der Vorstellung der Azteken in der Lage, den Lauf der Welt in Gang zu halten, den ständig drohenden Untergang und die ewige Finsternis abzuwenden. Man opferte dem Sonnengott Huitzilopochtli, dem uralten Regengott Tlaloc, dem Vegetationsgott Xipe Totec, den Erdgöttinnen und zahllosen anderen Lokalgottheiten. Der Tod war die Quelle des Lebens.
Dem setzten Hernando Cortez und seine Soldaten ein ebenso blutiges Ende. Die Grausamkeit, mit der sie die sonst so hochkultivierten Azteken abschlachteten, sucht in der Geschichte der Menschheit ihresgleichen. Es folgten der Terror der Kolonialzeit, die Befreiungskriege und eine unüberschaubare Zahl kleiner und großer Revolutionen, bis hin zu den Aufständen der Zapatisten in der Region Chiapas vor 16 Jahren. Auch heutzutage prägen Schauermeldungen über zehntausende Tote in dem Drogenkrieg an der Grenze zu den USA und die unkontrollierbare Kriminalität in den Barrios das mediale Bild Mexikos.
Nicht zu vergessen sind auch die Bedrohungen durch die zahlreichen Erdbeben, die regelmäßig viele Menschenleben fordern, sowie die Vulkanausbrüche des Popocatepetl, der vor den Toren Mexico Citys liegt.
Auf der anderen Seite ist der Tod von der überbordend bunten Folklore des Landes ganz und gar vereinnahmt worden. Einer der wichtigsten Feiertage ist der Dia de los Muertos, der Tag der Toten, an dem die Häuser mit Totenköpfen und Skeletten geschmückt werden und die Familien zu den Friedhöfen pilgern, um dort zu picknicken. Hier wird der Tod zu einem Freund, einem Begleiter gemacht.

Und dann gibt es wiederum die Angst vor dem Tod und der Gewalt, die den mexikanischen Alltag bestimmt. Nach Einbruch der Dunkelheit wird selbst die eigene Nachbarschaft zum Feindesland, das man aus Angst vor Überfällen nicht mehr zu Fuß zu betreten wagt. Die Häuser gleichen Festungen und in den Straßen wandeln nur noch die Projektionen und Phantome der Angst.

Und selbst tagsüber findet man Orte, in denen diese Phantome nisten: Auf einem Spaziergang durch San Luis Potosi zeigte ein Freund uns wenigstens 4 oder 5 leerstehende Häuser, von denen es hieß, dort spuke es. Auch das ominöse Nachleben der Toten ist also sichtbarer Bestandteil des Alltags.
Schon dieser kurze Überblick zeigt, das Mexiko ohne seine tief in der Geschichte wurzelnde Bezogenheit auf den Tod kaum vorstellbar wäre.

Doch nicht nur der Tod, auch die menschliche Haut hat in der präkolumbianischen Geschichte einen ganz besonderen Stellenwert. Es gab bei den Azteken einen Brauch, der dazu diente, sich einer anderen Identität zu bemächtigen. Vor allem wurde er von Priestern des Xipe Totec angewendet, die eins mit ihrer Gottheit werden wollten. Die Menschenopfer, die dem Vegetationsgott Xipe Totec gebracht wurden, verschmolzen im Tod mit der Gottheit, wurden mit ihr identisch. Nach dem Opfer wurde ihnen die Haut abgezogen, in die sich wiederum die Priester kleideten, um sich in die wiedergeborene Gottheit zu verwandeln.
Das gleiche Schicksal erlitten Kriegsgefangene. Nachdem sie im Haus ihres Bezwingers geraume Zeit als Sklaven dienen mußten, wurde sie getötet und gehäutet. Ihr Bezwinger kleidete sich anschließend in ihre Haut und übernahm auf diese Weise ihre Identität. Im kulturellen Selbstverständnis der Azteken kein Akt der Grausamkeit sondern Zeichen höchsten Respekts!
Die Haut dient also als Medium der Identität, als Mittler zwischen Sterblichen und Göttern, zwischen Leben und Tod, als sinnliche Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Welt.

In gewissem Sinne erfüllen die Häute aus Acrylpolymer, in die Adriane Steckhan ihre Bilder überträgt, ihre sogenannten „Urban Skins“, die gleichen Funktionen. Sie sind der haptisch verlockende Übergang von der Innen- zur Außenwelt, die Schnittstelle von Subjekt und Objekt, von Zeit zu Zeitlosigkeit. Wenden wir uns also, nach dem kurzen, schauerlichen Exkurs in die mexikanische Kulturgeschichte, nun diesem komplexen und meines Erachtens einmaligen Medium zu.

Ausgangsmaterial der „Urban Skins“ sind langzeitbelichtete Fotografien nächtlicher Stadtszenerien auf denen sowohl fremde, als auch eigene Bewegungen ihre Spuren zeichnen. Durch die Langzeitbelichtung nimmt Adriane Steckhan den Bewegungen ihre Chronologie. An ihre Stelle läßt sie eine eingefrorene Gleichzeitigkeit der Ereignisse treten. Den statischen Objekten gibt sie hingegen eine pulsierende zeitliche Tiefe.
Bei den großen Arbeiten ereignen sich im Prozess der Vergrößerung Aufbrüche von Farben; Details kollabieren, verschmelzen miteinander und bilden neue, abstrakte und isolierte Entitäten; die zunächst als Störung wahrgenommene Körnung der digitalen Fotografie, die bei den Arbeiten zu Mexiko erstmals zum Einsatz gekommen ist, flockt auf und bildet scheinbar autarke Muster, die sich über die Motive legen.
Die Objektivität und Unmittelbarkeit, die der Fotografie landläufig unterstellt werden, gehen durch die Übertragung des Bildes in ein transluzides, flexibles und amorph anmutendes Polymer - die sogenannte „Urban Skin“ - endgültig in prozessuale Subjektivität über.
Durch den im Polymer erhaltenen, zum Teil blasigen Pinselduktus, dessen Struktur sich wunderbar im durchschimmernden Licht abzeichnet, erhalten die Bilder eine Oberfläche, eine Topographie. Die Absolutheit des fotografischen Augenblicks mit seiner Oberflächenlosigkeit wird zugunsten einer raumzeitlich nachvollziehbaren Ausbreitung des Bildes überwunden. Dadurch gewinnt das Bild eine zeitliche Dimension, die sonst nur anderen Medien, wie etwa der Malerei, zu eigen ist.
Hinzu tritt als Novum in Adriane Steckhans Werk die Verformung der Haut durch das eigene Gewicht als Folge der freien Installation. Der schwere Faltenwurf betont einerseits die ledrige Qualität des Materials, andererseits gibt er den Arbeiten eine skulpturale Objekthaftigkeit und Schwere, die in den Raum hinein wirkt. Dadurch gewinnen die Urban Skins neben der Zeit auch noch die Räumlichkeit als Dimension hinzu.

Während der Betrachter die Motive der 4 großen Fotoabzügen, die die ausgestellten Urban Skins ergänzen, auf einen Blick erfassen kann und auch erfassen soll, sie als geschlossene Einheiten aufnimmt, kann er auf den Urban Skins von Ereignis zu Ereignis wandern. Denn das ursprüngliche fotografische Motiv ist durch seine Transformation und Übertragung, die Aufbrüche auf der Bildebene, die unregelmäßige Oberfläche und Verformung der Haut, die den Eindruck von Bewegtheit trägt, zu etwas geworden, das man als eine Landschaft bezeichnen könnte; oder eine Landkarte, wie man sie sich im Fieberwahn erträumt; etwas, das auf den ersten Blick nicht faßbar ist. Etwas, das sich in all seinen vielfältigen Details nur ganz allmählich erschließt. Etwas, das Zeit und Aufmerksamkeit verlangt.

An dieser Stelle möchte ich eine kleine Begebenheit erwähnen, die sich bei der Ausstellung „Phantomstadt 1“ ereignet hat, deren ausgesprochen beeindruckende Fortsetzung, „Phantomstadt 2“ im Rahmen der Ausstellung „Verwehte Orte“ im Landesmuseum Schleswig-Holstein auf Schloss Gottorf zu sehen ist (27. Juni - 12. September 2010). Zwei der Veranstalter äußerten zu Beginn der Vernissage, sie hielten die Arbeit für schwer zugänglich. Doch am nächsten Tag erzählten sie, sie hätten, nachdem die letzten Gäste gegangen seien, noch ganze 4 Stunden vor der Arbeit gesessen und mit zunhemender Begeisterung ihre Blicke darin umherwandern lassen. Ein lokales Ereignis nach dem nächsten zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und schließlich sahen sie nicht mehr das für sich stehende riesenhafte und enigmatische Motiv, sondern ein Bezugssystem aus zahlreichen Ereignissen, Orten und Facetten, die sich zu einem bedeutsamen Ganzen zusammenfügten.

Doch wenden wir uns wieder den Arbeiten aus Mexico D.F. zu.
Das, was uns aus diesem seltsamen und aufregenden Medium der Urban Skin entgegentritt, sind atmosphärisch bedrückende und gespenstischen Bilder. Ahnungen von ausgestorbenen, abweisenden Gebäuden, die in einer abgründigen Dunkelheit versinken, als wären sie bloß Nachbilder auf der Netzhaut. Schwärze, die sich selbst wiederum in ein schwindelerregendes Farbgeflimmer auflöst. Aufgerissene Blöcke aus Neonlicht, deren Umrisse auf irritierende Art und Weise an die Standbilder aztekischer Gottheiten gemahnen. Verwischte Eindrücke nächtlicher Taxifahrten durch eine zwielichtige, fremde und uneinschätzbare Wirklichkeit.
Oft wirken die Bilder wie Versuche der Visualisierung von Erinnerungsfragmenten, die bereits einer schleichenden Erosion unterworfen sind. Was wird bleiben, was ist bereits in ein sinistres Nachleben übergegangen?

Es liegen Dinge im Unklaren, im Unscharfen, in einer finsteren, aus dem Gestaltlosen tretenden und darin wieder versinkenden Urbanität.


Dr. phil. Th. J. Piesbergen
Hamburg, Juni 2010

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