Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Montag, 24. September 2018

Schreibwerkstatt: Neuer Kurs im Oktober 2018

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Geschwindigkeit, Oberfläche und Widerstand - Eröffnungsrede von Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Dorothea Goldschmidt - BREAK“

Die Ausstellung "BREAK" von Dorothea Goldschmidt findet statt in der Galerie des Einstellungsraum e.V., Hamburg, im Rahmen des Jahresthemas: "(Keine) Wendemöglichkeit".

Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

Mit dem Essay „Geschwindigkeit und Politik“ des französischen Philosophen Paul Virilio von 1977 ist die Beschleunigung als bedeutender Aspekt der spätkapitalistischen Gesellschaft in den philosophischen und soziologischen Diskurs eingeführt worden.
Virilio begriff die Geschwindigkeit zunächst vor allem als Kennzeichen der politischen Macht. Gleichzeitig sagte er den sog. Dromologischen Stillstand voraus, den Infarkt der Beschleunigung, den wir tagtäglich erleben, wenn eine vollmobilisierte und hochmotorisierte Gesellschaft im Stau steht oder sich die Kommunikationsgeschwindigkeit trotz immer zahlreicher werdenden Schnittstellen nicht erhöht, sondern mitunter sogar gebremst wird durch die notwendige Bewältigung technischer Mängel, die als Abfallprodukt der Entwicklungsgeschwindigkeit kommunikativer Schnittstellen ebenfalls zahlreicher werden.

Der Philosoph und Soziologe Hartmut Rosa, der heute als führender Forscher auf dem Gebiet der Beschleunigungstheorie gilt, verschob den Schwerpunkt seiner Untersuchungen von dem Verhältnis Macht und Geschwindigkeit auf die soziale Beschleunigung des Menschen, die schließlich keinen Zeitgewinn mehr hervorbringt, sondern ganz im Gegenteil Zeitnot schafft, da die Steigerungsrate der technischen Möglichkeiten die Beschleunigungsrate der Verarbeitung übersteigt.

Der Mensch wird also von der Entwicklung, die er selbst in Gang gesetzt hat, überholt, dennoch versucht er permanent, mit ihr Schritt zu halten, und müht sich, die sich vermehrenden Möglichkeiten zu überschauen, zu verstehen und ihr Potenzial für sich nutzbar zu machen, um „auf dem Laufenden“ zu bleiben. Doch da er versucht, mit einer systemischen, synergetischen Beschleunigung Schritt zu halten, die sich exponential steigert, sind seine Anstrengungen von vornherein zum Scheitern verurteilt..

Einen Aspekt der Beschleunigung, der den Erfahrungsraum des Menschen betrifft, haben beide Philosophen jedoch wenig beachtet: die Wechselwirkung von Geschwindigkeit, Oberfläche und Identität.
Dieses Zusammenspiel läßt sich am besten anhand der Karosseriegestaltung von Automobilen verbildlichen:

Zwar gab es bereits in den 20er Jahren der 20. Jhd. Ansätze, Karosserien stromlinienförmig zu gestalten, doch da es nahezu keine Untersuchungen im Windkanal gab, entsprachen die Ergebnisse eher den ästhetischen Vorstellungen von Eleganz und Schnittigkeit, als einer tatsächlichen Minimierung des Strömungswiderstands. Modelle wie der „Tropfenwagen“ von Edmund Rumpler von 1921 und der Chrysler Airflow von 1934, deren Karosserien tatsächlich stromlinienförmig waren, konnten sich auf dem Markt deshalb nicht durchsetzen.

Dementsprechend wurden Automobile vor allem unter den Gesichtspunkten der Ästhetik gestaltet, was den Designern große Freiheiten einräumte. Auch wenn die Formen natürlich gewissen Moden unterworfen waren, waren die Marken und Modelle gut von einander zu unterscheiden. Sie waren unter gewissen Gesichtspunkten individuell, und etliche Wagen wurden aufgrund ihres eigenwilligen Aussehens zu Design-Ikonen des 20. Jhds., wie der Citroen DS, der VW Käfer, der Mercedes Benz 300 SL mit den markanten Flügeltüren, die „Ente“, der Heinkel Kabinenroller, der Austin Mini, der Jaguar E Type, der Porsche 356 oder der VW-Bus T1.

Im späten 20. Jhd. wurden die Aspekte von Ökonomie und Geschwindigkeit in der Konkurrenz der Hersteller immer wichtiger und die Forschung im Windkanal zum Standard. In der heutigen Gestaltung einer Karosserie dominiert die Aerodynamik alle anderen Gestaltungsabsichten. Die Oberflächen ordnen sich dem Primat der Geschwindigkeit unter und bieten so wenig Luftwiderstand wie möglich, mit dem Ergebnis, daß sich die Gestaltung der verschiedenen Automobile bis zur Gesichtslosigkeit angleicht.

Die gleiche Entwicklung, also die Normierung der Oberfläche durch Geschwindigkeit, tritt aber auch in Lebensbereichen auf, in denen der Begriff der „Oberfläche“ nur noch von metaphorischem Charakter ist. So werden z.B. digitale Benutzeroberflächen so gestaltet, daß sie dem User so wenig Widerstand wie möglich entgegensetzen.

Um diesen „Benutzerwiderstand“ zu minimieren, werden die Navigationsgewohnheiten der Nutzer aufgegriffen. Entsprechend werden Gestaltungsschemata übernommen, die den Nutzern vertraut und deshalb schnell erfassbar sind. So kann man sich bei dem Besuch einer neuen Internetseite in der Regel in kürzester Zeit orientieren, denn die Menüleiste befindet sich fast immer in der Kopfzeile, das Impressum am Seitenende, die Eingabemasken von Benutzername und Passwort oben rechts oder links etc.
Durch diese Schematisierung wird die Geschwindigkeit erhöht, mit der der Benutzer navigieren, rezipieren und konsumieren kann, die Individualität der Oberflächengestaltung nimmt hingegen reziprok ab.

Selbst die akustischen Oberflächen in postindustriellen Kontexten werden immer mehr normiert und „stromlinienförmig“ gestaltet. Im Bereich der Popmusik liegen dazu inzwischen umfassende Untersuchungen vor, vor allem die Studie „Measuring the Evolution of Contemporary Western Popular Music“ von Joan Serra et.al. aus dem Jahr 2012.

Da die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörer immer kürzer wird, dürfen sie nicht mit Tonfolgen und Arrangements konfrontiert werden, die ihre Hörgewohnheiten durchbrechen, sondern mit Phrasen, die ihnen bereits vertraut sind, deren Reiz lediglich in minimalen Variationen eines bekannten Themas besteht.
So sind neue Produktionen bestenfalls schnell eingängig, können sofort mitgesummt werden und suggerieren dem Hörer eine gewisse Vertrautheit und Nestwärme. Diese Mechanismen werden von der Musikindustrie gezielt ausgenutzt und kulminieren in Erscheinungen wie dem „Millennial Whoop“, der wiederholten Abfolge des fünften und dritten Tones einer Dur-Tonleiter, die in nahezu jedem aktuellen Popsong genutzt wird.

Selbst in der Musik führt also die gesellschaftliche Beschleunigung zu einer Normierung der Werke und einem Verlust von Individualität.

Doch wie agiert nun der Mensch in einer Welt, in der er von immer eintönigeren, makellosen Oberflächen umgeben ist, von einem schönen Schein, der derart gestaltet ist, das die Geschwindigkeit der Rezeption und des Konsums auf Kosten markanter, origineller Anhaltspunkte permanent erhöht wird?

Begreifen wir die Identität des Menschen mit einem relationalistischen Verständnis, also als das Geflecht seiner Beziehungen zu seiner Umwelt, und beobachten wir gleichzeitig eine stetig zunehmende Normierung dieser Umwelt bis hin zur völligen Eintönigkeit, bedeutet das, daß es mit zunehmender gesellschaftlicher Beschleunigung immer schwerer fällt, eine klar abzugrenzende Individualität zu etablieren.

In der westlichen Gesellschaft, in der der Individualität jedoch ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, muß diese Entwicklung zwangsläufig eine schizophrene Identität hervorbringen, oder in ein Bedürfnis nach Widerstand münden, in einem Verlangen nach Oberflächen, an denen man sich reiben kann, in einem Hunger nach markanten und einmaligen Anhaltspunkten, zu denen man sich in Beziehung setzen und anhand derer man sich in der Wirklichkeit verorten und die eigene Identität gegenüber anderen abgrenzen kann.

Kehren wir an diesem Punkt zurück zu den Automobilen und wenden wir uns den Arbeiten Dorothea Goldschmidts zu:


Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

Auf den Bleistiftzeichnungen des aktuellen Werkkomplexes, der in der Ausstellung „BREAK“  gezeigt wird, sehen wir verschiedene Produkte der Automobilindustrie, deren Formen Ergebnis ein normierenden Gestaltung sind.
Sie sind frontal mit leichter Aufsicht abgebildet, eine Perspektive, die auch gerne in der Werbung genutzt wird, um die Wagen als besonders kraftvoll und bullig erscheinen zu lassen, also auch, um ihre Leistung und die damit erreichbare Geschwindigkeit zu betonen. Die Umgebung, in der sie zweifellos gestanden haben, ist ausgeblendet und so fokussiert sich der Blick ohne erzählerische Anhaltspunkte auf die Objekte selbst.

Doch statt der Zeugnisse hochtechnisierter Ingenieurskunst mit der üblichen Neuwagen-Hochglanz-Optik, die mit diesem Inszenierungsmuster sonst einhergeht, sehen wir auf den Bildern Zeugnisse der Zerstörung.

Keiner der gezeichneten Wagen wird aus eigener Kraft auch nur einen einzigen Zentimeter mehr fahren können. Die Maschinen, die ein Symbol der normierten, mobilisierten und beschleunigten Gesellschaft sind, sind durch ein jähes, gewalttätiges Ereignis, ein Feuer, zum endgültigen Stillstand gekommen, sind in einer metaphorischen Sackgasse gelandet.

Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

Doch trotz dieses Stillstands können wir eine zeitliche Bewegung aus den Bildern lesen. Sie geben deutlich Zeugnis von einem Davor in linearer Raserei, einem gewalttätigen Einschnitt, dem Nullpunkt, und von einem Danach.
Doch ist dieses Danach keinesfalls statisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist ebenso in einer Bewegung begriffen, wie das Davor. Die Wagen scheinen durch das Durchschreiten des Nullpunkts vielmehr in einen anderen dynamischen Zustand übergegangen zu sein, der sich jedoch auf einer vollkommen anderen zeitlichen Skala abspielt, und zudem von gänzlich anderer Qualität ist.

Die Wagen durchmessen zwar nicht mehr wie Sekundenzeiger den Raum, um die Raumzeit erfahrbar zu machen, doch die Bewegung der Wagen ist nicht vollständig zum Stehen gekommen. Sie ist nur in eine vollkommen unerwartete Richtung umgeschlagen: Die Autowracks bewegen sich nicht mehr durch die drei Dimensionen des Raums, sondern ihre Bewegung durch die Vierte Dimension, die Zeit, ist verstärkt und sichtbar gemacht worden.
Die Zeit manifestiert sich nun in ihnen selbst als Vergänglichkeit. Und diese Vergänglichkeit mit ihrem durch die Katastrophe ausgelösten Verfall gibt ihnen erstmal eine Individualität, die ihnen vorher durch die industrielle Anpassung an zunehmende Geschwindigkeit vorenthalten worden ist.

Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

Gleichzeitig ist durch die einschneidende Katastrophe, die die Linearität der Zeit unterbrochen hat, etwas enthüllt worden, was vorher durch die makellosen Oberflächen aus Lack und getöntem Glas verborgen geblieben ist: das Innere der Fahrerkabine, die Struktur der Karosserien, die Motoren, die Federungen der Sitze. Man blickt in die Wagen wie in aufgebrochene Schatzkästchen oder Uhrwerke, deren Aufgabe es nicht mehr ist, eine Funktion und einen Zweck zu erfüllen, sondern die nur noch der Anschauung dienen und damit in die Sphäre von Ästhetik und Bedeutung überführt werden.
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang durch die Zerstörung der ursprünglichen Form thematisiert wird, ist die Auflösung der Barriere von Innen und Außen. Die Isolation und Anonymisierung, die durch die weitgehende Abkapselung der Fahrerkabine entsteht, ist durchbrochen und das sich entwickelnde individuelle Innenleben des Objekts kann mit dem Außen in Dialog treten.

Damit korrespondieren auch die Bilder, auf denen ganze Landschaften aus verbranntem und abblätterndem Lack wiedergegeben werden.
Zunächst haben wir auch hier durch eine Verletzung der Oberfläche die Schwelle von der Serialität zu Individualität überschritten. Die gesichtlose Oberfläche ist durch die Einwirkung der Flammen aufgebrochen und hat eine gänzlich eigenartige und unverwechselbare Gestalt angenommen.

Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

Wie bei dem freigelegten Innenleben der Autos entfaltet sich statt der reinen, entindividualisierten Funktionalität eine intrinsische Wirklichkeit: Die Zeichnungen gleichen Satellitenbildern von einmaligen Landschaften, durch die man mit Blicken wandern kann; die keinen linearen Zeitpfeil mehr beschreiben, sondern eine unendliche Zahl von Möglichkeiten und Zeitdauern zulassen.

Und ebenso wie die ausgebrannten Automobile ihre Grenze zwischen Innen und Außen verloren haben, so sind auch diese Bilder nicht durch Rahmen begrenzt. Die der Erosion und damit der Veränderung preisgegebenen Lacklandschaften setzen sich im Geiste auch jenseits des willkürlichen Bildausschnitts fort.

So begegnet uns in allen Werken der Ausstellung die Polarität von Serialität und Individualisierung wieder, das Spannungsverhältnis von makelloser, funktionaler und zeitloser Oberfläche und deren Zerstörung, die die jeweilige intrinsische Wirklichkeit freilegt und sie der Vergänglichkeit preisgibt, unter deren Einfluß sich Anhaltspunkte individueller Sinngebung und Bedeutungszuweisung und damit Anhaltspunkte der Identitätskonstruktion entwickeln können.

Dorothea Goldschmidt, "Break", Ausstellungsansicht, 2018

"And there ain't no use: no one can stop them now.
Give them an inch, they take a yard;
Give them a yard, they take a mile;
Once a man and twice a child
And everything is just for a while.
It seems like: total destruction the only solution."

(Bob Marley, Real Situation)


© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2018



Mittwoch, 19. September 2018

Die Archäologie des Exils - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Lior Eshel: Kenopsia" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung „Kenopsia“ von Lior Eshel wurde gezeigt im Einstellungsraum e.V. im Rahmen des Jahresthemas "(Keine) Wendemöglichkeit"

Lior Eshel, Studie zu "Kenopsia", 2018

Die Gegenwart ist, wie viele Zeitalter vor ihr, gekennzeichnet durch das Phänomen der Migration. Menschen sind entweder durch global verursachte Krisen dazu gezwungen, ihre räumlichen und kulturellen Kontexte zu verlassen, oder es wird ihnen durch die voranschreitende Globalisierung ermöglicht, in anderen Ländern zu studieren und zu arbeiten. Das Leben im Exil ist durch diese gegebenen Umständen heute zu etwas Allgegenwärtigem und Alltäglichem geworden. Ein Blick in die Nachbarschaft des Einstellungsraums, in der sich Europa, der Nahe Osten, Afrika und Ostasien auf dichtestem Raum drängen, genügt, um sich diese Tatsache vor Augen zu führen.

Durch diese Migrationsbewegungen verschiebt sich der Schwerpunkt eines der großen Themen des 20. Jahrhunderts: Die Identität.
Den Auftakt zur Bearbeitung dieses Themenfeldes bildete Sigmund Freuds frühes Hauptwerk „Die Traumdeutung“, vordatiert auf das Jahr 1900, als wollte er damit ganz bewußt dem aufziehenden neuen Jahrhundert das gundlegende Motiv geben.
Vor allem in der Literatur kann man deutlich ablesen, wie sich die „Identität“ gegen die anderen zwei grundlegenden menschlichen Themen, „Liebe“ und „Tod“, in zunehmendem Maße durchsetzt, oft, bedingt durch die politischen Verwerfungen des 20. Jhds, in Form der daraus abgeleiteten Polarität von Individuum und Masse, und den damit in Zusammenhang stehenden Fragen nach Autonomie und Verantwortung.

Nun, im 21. Jhd. sehen wir, wie sich der Schwerpunkt von der individuellen Identität zu der Frage nach kultureller Identität verschiebt. Denn das Individuum definiert sich nicht nur über die Fragen nach dem Gewissen und der Verantwortlichkeit oder über die von der Gesellschaft gewährten Entfaltungsmöglichkeiten. Es definiert sich auch über seinen kulturellen Kontext und die aus diesem Kontext erlernten Verhaltensmuster, für die man solange blind bleibt, solange man sich innerhalb ihrer Routinen bewegt und innerhalb ihres Rahmens wahrnimmt und agiert. Dieser Rahmen jedoch wird in Zeiten globaler Migration ständig transzendiert und transformiert und unsere Identität dadurch in Frage gestellt.
Doch ist das Set kultureller Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster tatsächlich gleichzusetzen mit unserer Identität? Und kann die Summe dieser Muster zu etwas gebündelt werden, was man eine „nationale“ oder „kulturelle“ Identität nennen könnte?

Nach den Konzepten der Existentialphilosophie und der Handlungstheorie entsteht die Identität des Menschen erst durch seine Handlung. Identität wäre also nichts, das per se gegeben ist, wie z.B. das Betriebssystem eines Computers, das sich zwar mit stets neuen oder sich wandelnden Inhalten beschäftigt, aber selbst dennoch unwandelbar bleibt.
Der Handlungstheorie zufolge tritt die Identität erst in Erscheinung, wenn akut gehandelt wird und ist erst als Muster zu erkennen, wenn fortdauernd gehandelt wird und diese Handlung sich dabei durch einen spezifischen Handlungsstil auszeichnet. Der französische Ethnologe und Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnete das Fortdauernde der Handlung als „Durée“, und den Handlungsstil, aus dem die akute kulturelle Praxis emergent hervorgeht, als „Habitus“.

Kultur, und damit kulturelle Identität, ist also nichts klar Umrissenes, Messbares oder konkret Benennbares, sondern wird immer erst durch die akute Handlung erschaffen, existiert also nur auf der Ebene der Handlung.
Der indianische Schriftsteller und Aktivist Jack D. Forbes schrieb in seinem Buch Columbus und andere Kannibalen dem entsprechend: „Die Religion eines Mannes ist nicht das, was er glaubt, sondern das, was er tut.“

Was aber ist die Handlung nun selbst? Sie ist ein Interagieren des Individuums mit seiner Umwelt. Dabei nimmt das Individuum Reize aus der Umwelt auf, ordnet sie, weist ihnen Bedeutung zu, und leitet daraus Impulse ab, mit denen das Individuum nun seinerseits auf die Umwelt einwirkt. Beide Aspekte dieses Handelns, die Rezeption und die Aktion, weisen sowohl bewußte wie unbewußte Anteile auf.

Indem das Individuum auf seine Umwelt einwirkt, erzeugt es eine gewisse Ordnung, und da der Mensch auch auf einer materiellen Ebene agiert, ordnet er folgerichtig auch Material und ordnet Dinge. Die vom Menschen geschaffene Ordnung der Dinge wiederum ist einer der entscheidenden Impulse, dem Raum Ordnung zu geben.
Der so geordnete dingliche und räumliche Kontext trägt nun in einer Art Feedbackschleife rückwirkend dazu bei, den Handlungsstil zu entwickeln und damit Handlungs- und Ordnungsmuster zu reproduzieren. Da diese Reproduktion sich aber immer nur auf der Ebene des akut handelnden Individuum abspielt, geschieht sie auf eine jeweils spontane individuelle Weise, wodurch sich auch die kollektiven Kontexte schließlich langsam wandeln.

Verpflanzt man ein Individuum in einen neuen Kontext bedeutet das, der Handlungstheorie zufolge, daß sich auch die Identität des Menschen notgedrungen verändern muß, da er innerhalb anderer räumlicher und dinglicher Muster agiert und seine Handlungs-weise sich entsprechend verändert.
Das kann zunächst nur durch Improvisation geschehen, bis sich durch fortdauerndes Handeln die habituellen Muster unter den neuen Gegebenheiten soweit verändert haben, daß sie neue konsistente Muster und Routinen hervorbringen, eine neue kulturelle Praxis, mit der sich das Individuum eine neue Ordnung der Dinge und einen neuen räumlichen Bezug erarbeitet hat: eine neue und stabile individuelle Identität.

Das akute Wechselspiel zwischen Mensch, Identität, Material und Raum hat Lior Eshel bereits vor ihrem Umzug von Tel Aviv nach Hamburg beschäftigt, es war also naheliegend, daß sie dieses Thema in ihrem freiwilligen Exil nun weiter vertieft, natürlich auch im Bewußtsein der gegenwärtigen Bedeutung des Exildaseins als globale Erscheinung.
Dementsprechend hat sie ihren Fokus nicht auf kulturelle Stereotypen und andere Aspekte vordergründig postulierter kultureller Identität gerichtet, die sie in Beziehung zueinander setzt, sondern sie fragt nach dem grundsätzlichen akuten Agieren in einem fremden Kontext, nach dem Handlungsspielraum, dem Raum, den z.T. fremden Materialien und ihrer Verfügbarkeit und der Konstruktion von Identität unter liminalen Bedingungen.

Ausgangspunkt für ihr künstlerisches Agieren ist zunächst die Erkundung der neuen Umgebung durch das Verfahren des Umherschweifens, das „Dérive“. Diese Strategie wurde schon von den Mitgliedern der Situationistischen Internationalen, allen voran Guy-Ernest Debord, entwickelt, und steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Psychogeographie, die dem meist urbanen Kontext eine psychische Dimension zuschreibt und danach fragt, wie Raum erlebt wird und welche individuelle, psychologische Bedeutung er dadurch gewinnt.

Der Umherschweifende bewegt sich ziellos und intuitiv durch den Raum, läßt sich von den Bewegungen der Umgebung und ihren Zufälligkeiten leiten und setzt das Erlebte ganz bewußt mit dem wahrnehmenden Subjekt, also der eigenen psychischen Disposition in Beziehung.
So entsteht ein Verfahren, in dem sich die Hingabe an den räumlichen Zusammenhang und ein entsprechendes Sich-passiv-darin-Lösen verbindet mit einer aktiven Erforschung eines unbekannten Zusammenhangs und der Positionierung des Selbst in diesem Zusammenhang. Das Umherschweifen stellt also die Reinform des ergebnisoffenen Reisens dar und dient gleichzeitig der Konstruktion von Identität.

In einem ersten Schritt dokumentierte Lior Eshel ihre Streifzüge mit einfachen Handy-Photos.
Da sie gezwungen ist, zunächst unter prekären Umständen zu arbeiten, entschied sie sich in einem zweiten Schritt dazu, mit Materialien und Gegenständen zu arbeiten, die sie auf ihren Erkundungsgängen gefunden hat, die also von dem neuen Kontext, in dem sie sich bewegt, abgesondert werden.
Dieses Verfahren, mit spontan gefundenen Materialien zu arbeiten und sie zu etwas Neuem zusammen zu fügen, wurde von dem Ethnologen Claude Levi-Strauss als „Bricolage“ bezeichnet und soll eine klare Abgrenzung zur Praxis des planenden Ingenieurs darstellen, der zur Bewältigung von Problemen auf vorgefertigte, hochspezialisierte Werkzeuge zurückgreift.
Der Ingenieur agiert immer innerhalb eines stabilen Systems, das Planung und routinierten Rückgriff auf erprobte Mittel zuläßt, der Bricoleur hingegen bewegt sich in instabilen Zusammenhängen, und die Ressourcen, die sich ihm anbieten, werden vom Zufall bestimmt.


Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze

Durch diese Entscheidung für eine künstlerische Strategie wird die kulturspezifische Zugänglichkeit zum Material, für die wir im Alltag blind sind, offenkundig. Denn die Ressourcen, die für uns selbstverständlich und zugänglich erscheinen, bleiben dem prekären Exilanten in der Regel verwehrt.
Andererseits können wir eine überraschende metaphorische Entsprechung zwischen einem Großteil des gefundenen Materials und dem Vorgang der Konstruktion von Identität und Neudefinierung des individuellen Raums finden, denn die Materialien, z.B. Dämmstoffe, Schaumfolien und Bauschutznetze, stammen überwiegend von Baustellen, entspringt also einem Zusammenhang, in dem gezielt Raum konstruiert wird.

Ein anderes Material, das immer wieder auftritt, ist der universelle Werkstoff Holz, mal in natürlicher Form, mal als Artefakt, der aufgrund seines Verfalls seine ursprüngliche Funktion eingebüßt hat und damit in unserem kulturellen Verständnis zu „Abfall“ umgewertet wird.

Diese Materialien werden entweder bearbeitet und zu Objekten und räumlichen Ensembles zusammengefügt, die mitunter auch als kleine Modelllandschaften gelesen werden können, oder sie umhüllen oder bedecken einen Raum.

Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze

Hier wäre zunächst auf eine Installation hinzuweisen, die Lior Eshel mit rosafarbener Stretch-Folie erstellt hat. Mit dieser Folie waren die Koffer umwickelt, mit denen sie aus Israel nach Deutschland gekommen ist. Die Folie, selbst noch ein Bestandteil des Transfers, zudem das unter den gegebenen Umständen bescheidenste und naheliegendste Mittel zur Interaktion mit der Umgebung, wird verwendet, um die eigene Anwesenheit zu markieren und gleichzeitig einen Ort in Anspruch zu nehmen, einen Raum, den die in Transformation befindliche Identität  einmal ausfüllen soll.
So wird die von der Folie bedeckte Fläche nicht nur zu einem Claim, sondern die Folie wird gleichzeitig zu einer schützenden Hülle, einer ephemeren Abschirmung, einem Kokon für die liminale, sich entwickelnde Identität.

Eine andere Arbeit zeigt auf einer blauen Scheibe ein kleines Ensemble von Funden, die zu einer Art Miniaturlandschaft zusammen gestellt sind. Fetzen von Bauschutznetzen und andere Kleinigkeiten könnten flüchtige Schutzunterkünfte darstellen, oder auch Fischernetze am Strand, während der blaue Untergrund so bearbeitet ist, daß er an eine aufgebrochene Eislandschaft erinnert.
Das Ensemble rotiert wiederum auf einer Scheibe, es dreht sich auf der Stelle und gibt dem Objekt einen Nimbus der Vergeblichkeit.


Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze

Eine kleine, fast unscheinbare Papierarbeit zeigt eine eingeprägte Form. Sie stammt von der Fotografie eines zusammen-gebrochenen Pavillonzelts. In dieser Arbeit begegnen sich einerseits Reminiszenzen an die provisorischen und instabilen Notunterkünfte, in denen weltweit Abermillionen von Flüchtlingen leben müssen, andererseits können wir in der Einprägung auf einem weißen Blatt Papier eine Metapher dafür sehen, wie sich die neue Umgebung des Exils in die unberührte Matrix der Wahrnehmung einschreibt.

Eine weitere Arbeit, die vor allem aus einem verrotteten Holzpoller besteht, den Lior Eshel ebenfalls auf der Straße gefunden hat, erinnert an ein morsches Boot, das in einem auseinandergelaufenen Lehmklumpen steckt, als wäre es am Ufer einer kleinen Insel gestrandet. Hier finden wir, neben der Zurschaustellung der Methode der Bricolage, eine Reminiszenz an die Fluchtwege, auf die die derzeitigen Flüchtlingsströme angewiesen sind, und die sich, aufgrund der fehlenden technischen Ressourcen und des Zwangs zur Inprovisation, oft als Todesfallen erweisen.

Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze


Die Verletzungen und Brüche der Lebenslinien kann man auch aus einer anderen Arbeit herauslesen: Ein großer Ast, der zum Teil eingegipst ist und auf Sockeln aus schmelzendem Eis ruht. Er ist gerichtet auf die Dia-Projektion einer sumpfigen, bewaldeten Uferlandschaft. Es scheint, als sei er aus ihr entnommen worden und strebe zu ihr zurück. Das abschmelzende Eis bildet auf dem Boden eine Pfütze. Fast gewinnt man den Eindruck, als wäre es eine Blutlache, die aus einer nicht heilenden Wunde unter dem Gips hervorquillt. Auf der Oberfläche der Pfütze spiegelt sich wiederum die Uferlandschaft, als spiegele sich der Ort der Herkunft in dem Trennungsschmerz.
In dieser beziehungsreichen Arbeit begegnen wir der Vergeblichkeit auf mehreren Ebenen wieder: So wie das scheinbare Recken des Astes nach dem Bild seines Ursprungs vergeblich ist, ist es auch weder sinnvoll, einer toten Pflanze Wasser zu geben, dazu in dieser Form, noch ist es sinnvoll, einen bereits abgestorbenen Ast zu gipsen, in der Hoffnung, er wüchse vielleicht doch wieder zusammen. Denn so wie es Bertolt Brecht über eine vergangene Liebe schrieb, so verhält es sich auch mit einer unterbrochenen Lebenslinie:

„Der abgerissene Strick
kann wieder geknotet werden
er hält wieder, aber
er ist zerrissen
…“

Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze


Zudem können die Eisblöcke auch als ein Fundament gelesen werden, dessen Stabilität trügerisch und vergänglich ist. Zwar trägt das Eis zunächst den Ast, doch über kurz oder lang wird es geschmolzen sein und der Ast wird auf dem nackten Boden endgültig zur Ruhe kommen.
Das Motiv des Wassers ist auch in einem anderen Zusammenhang bedeutsam: es wird weiter abschmelzen, vorübergehend in einen anderen, instabilen Zustand übergehen und sich schließlich verflüchtigenden. Auch hier begegnet uns also die Liminalität wieder, der unsichere Überganszustand.


Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze

Tatsächlich verbreiten die Materialien in ihrer Gesamtheit den Eindruck von Strandgut, als seien sie angespült worden, als wären es die Abfälle oder die zerschlagenen Reste, die von der Zentrifugalkraft der Zivilisation über deren Rand geschleudert wurden, die nun von einem Bricoleur, der sich selbst in einem prekären Übergangszustand befindet, verwendet werden, um neue Muster zu generieren, neue bedeutungsvolle Ordnungen, um den eigenen Platz in der Wirklichkeit zu definieren - und damit eine neue, eigene und konsistente Identität.

In der Archäologie gibt es ein methodisches Verfahren mit der Bezeichnung activity area analysis, das maßgeblich von Susan Kent entwickelt worden ist. Durch eine Untersuchung der Verteilung von Funden in einem Befundzusammenhang wird versucht, spezifische Aktivitäten räumlich zu isolieren bzw. zuzuordnen. Dadurch wiederum werden Muster der Raumnutzung ablesbar, die als kulturspezifisch gedeutet werden können. Ebenfalls relevant sind natürlich nicht nur die Verteilungsmuster der Dinge, sondern auch die Dinge selbst, die als erste Merkmale kultureller Zuweisung herangezogen werden.

Die Arbeiten von Lior Eshel könnte man als ein analoges Verfahren verstehen, eine Archäologie der handlungsorientierten Identitätskonstruktion in der liminalen Eintrittsphase des Exils.

Ihr ist dabei ein vielfältiger Werkkomplex gelungen, der sich nicht darin erschöpft, aktuelle weltpolitische Bezüge und kulturelle Diskrepanzen zu behandeln, sondern der sich selbstreflexiv und allgemeingültig mit den Handlungsbedingungen im Exil befasst.

Lior Eshel, Ausstellungsansicht "Kenopsia", Einstellungsraum 2018, Foto: Jörg Martin Schulze

Daß durch diese künstlerische Handlungsweise zahlreiche Assoziationen zu der gegenwärtigen, dramatischen Situation der Flüchtlinge in aller Welt geweckt werden, offenbart weniger eine vordergründige politische Gestaltungsabsicht, als vielmehr den holistischen, fraktalen Charakter unserer Welt, der sich wie von selbst offenbart, wenn man nur ergebnisoffen und aufmerksam genug die Bedingungen und Konsequenzen unserer Handlungen, den Raum und seine Zugänglichkeit und damit die Zugänglichkeit der Ressourcen erforscht.

© Thomas Piesbergen / VGWort,  Juni 2018