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Donnerstag, 10. Dezember 2020

Diesseits und Jenseits der Grenzen - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Gehäuse" von Jeannette Fabis


Die Ausstellung „Gehäuse“ von Jeanette Fabis  im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit" ist noch bis zum 18.12. 2020 in der Galerie des Einstellungsraum e.V. zu sehen.

Jeannette Fabis, ohne Titel, aus einer fortlaufenden Serie von Modellen (seit 2013),
Pappe und Papier, Maße ca. 11,3 x 17,9 x 2 cm  (Detailaufnahme J. Fabis)
  


Die Kategorien des „Innen“ und „Außen“ und ihr essentieller Zusammenhang mit der kulturellen Identität des Menschen sind wahrscheinlich so alt wie die menschliche Kultur selbst.

Noch in den heute beobachtbaren archaischen Kulturen, in denen Mensch und umgebende Natur als in einem kontinuierlichen Kreislauf befindlich gedacht werden, wie z.B. bei den Buschmännern, gibt es trotz der Vorstellung einer kosmischen Einheit eine räumliche Ordnung, die das Innen vom Außen, wenigstens als vorübergehende Erscheinungen, unterscheidet.
Der innere, von Hütten umgebene Kreis der Buschmann-Siedlungen ist dem Feuer und der sozialen Interaktion vorbehalten. Er wird umgeben von einem Ring, in dem gröbere Arbeiten verrichtet werden und Aktivitäten stattfinden, die nicht die ganze Gruppe einbeziehen. Jenseits dieses Rings, außerhalb der Siedlung, erstreckt sich die Welt der „anderen“ Buschmänner, die keinen menschlichen Körper haben, wie z.B. Bäume, Tiere und diverse Naturerscheinungen. Das „Innen“ ist die Welt des Menschen, das „Außen“ die nichtmenschliche Sphäre. Der Bereich dazwischen ist eine Übergangszone.

Kennzeichnend für das Innere ist einerseits das Feuer, eine ursprünglich besonders bedrohliche Erscheinung, die in ihrer gezähmten Form das mächtigste Werkzeug des Menschen darstellt. Entsprechend wird, nach Claude Levi-Strauss, die innere Sphäre des Menschen auch mit dem „Gekochten“ assoziiert, während die äußere, wilde Sphäre mit dem „Rohen“ verbunden wird.
Andererseits ist die innere Sphäre gekennzeichnet durch die Kommunikation, mittels der die Gruppenidentität gestiftet wird. Wer an dieser Kommunikation Teil hat, ist Mensch. So bedeutet auch häufig die Eigenbezeichnung vieler Ethnien schlicht und ergreifend „Mensch“, ein Status, der Zugehörigen anderer Ethnien abgesprochen werden kann.  

Da trotz der Trennung in Innen und Außen die Welt als Einheit verstanden wird, gibt es in archaischen Gesellschaften auch immer eine Methode, um die beiden Sphären zusammenzuführen, und zwar durch eine Passage durch das Zentrum des Inneren, den „Nabel der Welt“. In der Regel sind es Schamanen, die sich in ihr eigenes Inneres versenken, in Trance geraten und so Zugang zu den unsichtbaren Kräften haben, die sich in der äußeren Welt verbergen. Diese Transitionen finden an einem symbolischen Mittelpunkt entweder im Zentrum der Siedlung oder des Hauses statt, seltener in der Wildnis, niemals aber in der Übergangszone.
Die Sphäre des Menschen wird also durch zwei Grenzen eingefasst, eine äußere und eine innere, doch im Zentrum des Innenraums berühren sich Innen- und Außenraum und erweisen sich schließlich als identisch.

Mit dem Beginn dessen, was wir Zivilisation nennen, also mit dem Neolithikum, ist die Bedeutung der inneren, ideellen Grenze zum „Unsichtbaren“ zusehends geringer geworden, zugunsten einer zunehmend essentiellen räumlichen Abgrenzung vom Außen. Sie spiegelt sich einerseits in der Wirtschaftsweise wider, mit der sich der Mensch begann, von der Natur zu emanzipieren, in dem er Pflanzen und Tiere domestizierte und sie damit aus der Sphäre der Wildnis in die des Menschen überführte. Andererseits spiegelt sich diese Trennung von „gezähmt“ und „wild“, die gleichbedeutend mit „Innen“ und „Außen“ ist, in den religiösen Vorstellungen wider, wie sie z.B. auf den Wandmalereien von Catal Hüyük repräsentiert sind. Die noch kleine Welt des Menschen mußte gegen das Wilde, Ungezähmte und Todbringende um ihn herum geschützt werden, ebenso wie die domestizierten Tiere und Pflanzen, in die sich keine Wildformen einkreuzen durften. Gleichzeitig definierte sich die menschliche Sphäre durch eben diese Abgrenzung.
In diese Zeit datieren auch die ersten belegten kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheit, bei denen sich offenbar die wenigen wehrhaften Großsiedlungen und nomadisierende Gruppen gegenüberstanden: die zivilisierten „Menschen“ und die „Wilden“.
In den frühen Hochkulturen schließlich waren die Mauern der Stadt die Grenze zwischen der Welt des Menschen und der fremden Wildnis, wie im über 4000 Jahre alten Gilgamesch-Epos eindrucksvoll dargestellt. Alles, was innerhalb der Mauern stattfand, war zivilisiert und menschlich, alles, was außerhalb der Mauern stattfand, war wild und konnte abqualifiziert werden.
Diese Haltung hat sich fortgesetzt bis in die Neuzeit und ist noch bei großen Denkern wie Montesquieu oder Hegel zu finden, die beide davon überzeugt waren, Afrikaner hätten keine Seele.

In der westlichen Welt kehrte die Inversion des Blickes, also die Besinnung auf die Grenze in uns selbst sowie eine Einheit von Innen und Außen zwischenzeitlich mit den griechischen Mysterien zurück, am bekanntesten in der Aufforderung „Erkenne dich selbst!“, die im Giebel des delphischen Orakeltempels eingemeißelt war. Das Unsichtbare und Unerkannte, das Numinose wurde als etwas gedacht, das allem innewohnt, nicht als etwas ausschließlich Jenseitiges.
Christentum, Judentum und Islam wiesen diese Vorstellung und den damit verbundenen Erkenntnisweg jedoch wieder weit von sich, da er einer pantheistischen und deshalb heidnischen Haltung entsprang. Für die drei großen Buchreligionen gilt Gott als etwas unbedingt Jenseitiges, das nicht der Welt innewohnt. Eine Offenbarung des Göttlichen wurde nur den Propheten zugebilligt, und in seltenen Fällen einzelnen privilegierten Würdenträgern, denen jedoch immer drohte, der Ketzerei bezichtigt zu werden, wie es z.B. Meister Eckhart widerfuhr.

Erst im Laufe des 19. Jhd., während die Wildnis und das Unbekannte der Welt unwiderruflich verschwanden, kehrte das Bewußtsein für die innere Grenze, das Unbekannte in uns wieder. Zunächst war es kaum mehr als eine Ahnung, ein poetischer Entwurf, eine Sehnsucht nach dem Verhüllten und Geheimnisvollen, die vor allem von den Romantikern kultiviert wurde, schließlich nahm das Konzept in den Schauergeschichten von R.L. Stevenson und E.A. Poe in Form von Doppelgängern und gespaltenen Persönlichkeiten immer konkretere Formen an, bis schließlich Sigmund Freud zur Jahrhundertwende seine Theorie vom Unterbewußten formulierte.

Heute ist in der aufgeklärten Welt allgemein anerkannt, daß die Angst vor dem Fremden lediglich eine Projektion ist, mit der wir die Angst vor unseren eigenen, verdrängten Trieben auslagern. Gleichzeitig ist die bedrohliche Wildnis verschwunden. Fast alle essentiellen Bedrohungen stammen aus der menschlichen Sphäre, und die Wendung homo homini lupus trifft mehr denn je zu. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, denn Wölfe jenseits einer äußeren Grenze gibt es nicht mehr.
Im Originalzitat des römischen Dichters Maccius Plautus wird die Aussage ergänzt durch den Zusatz „solange er nicht weiß, von welcher Art der andere ist.“  Diese Haltung greift Sartre in Geschlossene Gesellschaft auf, wenn er Garcin sagen läßt: „Die Hölle, das sind die anderen.“ , denn im Gegensatz zu Plautus lebt Sartre in einer Welt, die von dem verborgenen Unterbewußten weiß.  Und wie sollte man die anderen kennen, wenn man sich nicht einmal selbst kennen kann, da der Mensch oft gegen seinen Willen von den dunklen Trieben seiner eigenen inneren Wildnis gesteuert wird? So muß, nach Sartre, der Mensch dem Menschen ein Wolf bleiben.
Nach Georg Simmel, Walther Benjamin und Byun Chul Han ist aber gerade dieses Nicht-Erkennbare, Dunkle auch essentiell für die sinnhafte Erfahrung der Lebendigkeit. Han schreibt dazu: „Das ´Es` bleibt dem Ich weitgehend verborgen. Durch die menschliche Psyche geht also ein Riss, der das Ich nicht mit sich selbst übereinstimmen läßt. Dieser fundamentale Riss macht die Selbsttransparenz unmöglich. Auch zwischen Personen klafft ein Riss. So läßt sich unmöglich eine interpersonale Transparenz herstellen. Sie ist auch nicht erstrebenswert. Gerade die fehlende Transparenz des anderen erhält die Beziehung lebendig.“ (Byun Chul Han, Transparenzgesellschaft, 2013)

In der Philosophiegeschichte wiederum hat Descartes im frühen 17. Jhd. die Grenze zur Außenwelt um das wahrnehmende Subjekt gezogen. Das Innen sind die res cogitans, die Dinge des Denkens, das Außen die res extensa, das Darüber-Hinausgehende. Er betonte: „Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.“
Diese Auffassung, die seit dem immer wieder als metaphysischer Solipsismus aufgetaucht ist, hat im Kontext der neurologischen und erkenntnistheoretischen Forschung des 20. Jhds. als radikaler Konstruktivismus neue Gestalt angenommen. Laut dieser Position konstruiert sich jedes Individuum aus einem eng begrenzten Ausschnitt äußerer Impulse ein inneres Bild der Welt, das niemals deckungsgleich sein kann mit den Bildern, die sich andere machen, geschweige denn, daß es die tatsächliche Wirklichkeit repräsentieren kann. Unser Bewußtsein entspräche nach dieser Auffassung auf Gedeih und Verderb der Höhle Platons, in der wir nur die Schatten einer Wirklichkeit betrachten können, die sich hinter uns abspielt, und wir diese Schatten mit der äußeren Wirklichkeit verwechseln.

Inzwischen haben die aktuellen Forschungen auf dem Gebiet der evolutionären Erkenntnistheorie und der Neurologie zwar überzeugende Modelle dafür geschaffen, auf welche Weise die Welt in unserem Inneren repräsentiert wird und sogar die Entstehung der Subjektivität und des Bewußtseins nachvollziehen können, doch bleiben es immer nur Beschreibungen der Prozesse, nicht der Inhalte und deren Qualität, die im Dunkel des subjektiven Empfindens verborgen bleiben.
Andererseits ist es gelungen, die sog. cartesianische Grenze, die zwischen Welt und Bewußtsein postuliert worden ist, die den Körper vom Geist trennen soll, als unzureichendes Modell zu erkennen. Vielmehr kann man von einem kontinuierlichen Übergang sprechen, einer Zone der Transformation von äußeren Dingen zur inneren Repräsentationen der Dinge, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Materie zum Geist, womit die Trennung überwunden und die Einheit von Bewußtsein und Welt, von Innen und Außen trotz ihrer Opposition wieder hergestellt wäre.
Das Innen definiert sich durch das Außen, das Außen durch das Innen, sie gehen ineinander über, wie die scheinbar einander gegenüber liegende Seiten eines Möbiusbandes oder wie die zwei Schlaufen des Unendlichkeitszeichens.

Nachdem sich Jeannette Fabis in ihrem bisherigen Werk intensiv mit den Schnittstellen von Innen- und Außenraum und deren Durchlässigkeit beschäftigt hat, vertieft sie dieses künstlerische Untersuchungsfeld in ihrer Installation „Gehäuse“ unter den Aspekten der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020

Der Ort ist ein Schaufenster, das explizit dazu dient, etwas sichtbar zu machen. Gleichzeitig stellt das Glas eine Grenze dar, die vorläufige Eigentumsrechte markiert. Allerdings kann diese Grenze mit entsprechenden finanziellen Mitteln durchlässig gemacht werden. Das besondere an dieser Grenze ist jedoch, daß sie nicht zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten liegt, dem wir mittels unserer Vorstellung eine Gestalt verleihen, die unseren verborgenen Ängsten oder Sehnsüchten entspricht, und wir uns so wiederum durch das, was wir jenseits der Grenze wähnen, selbst definieren.
Im Gegenteil: Das bestmöglich Sichtbar-Gemachte widersetzt sich solch einer Aneignung, da es keine Leerstellen für unsere Projektionen läßt und nicht umformbar ist. Es verliert, so Byun Chul Han, seine hermeneutische Tiefenstruktur und errichtet eine „Tyrannei der Sichtbarkeit“. Es wirkt sogar umgekehrt auf unsere verborgenen Ängste und Sehnsüchte ein und formt sie so um, daß wir glauben, das so gestaltete Begehren entspräche unseren primären Sehnsüchten, und wir überzeugt sind, wir bräuchten das Gesehene, um unser Selbst zu definieren.

Durch die Reduktion auf Oberfläche und ihre Sichtbarkeit kann das, was jenseits der äußeren Grenze im grellen Licht liegt, nicht dem entsprechen, was im Dunkel jenseits der inneren Grenze liegt. Solange beides im Verborgenen bleibt und wir die Inhalte des dunklen Unterbewußtseins jenseits der inneren Grenze auf das Fremde, Ungestaltete jenseits der äußeren Grenze projizieren können, ist es möglich, die unsichtbaren Inhalte des Inneren und Äußeren in Deckung zu bringen. Zwingt die Sichtbarkeit jedoch zu einer Umkehr der Projektion, und erhebt das sich selbst Projizierende Anspruch auf totale Objektivität, kann es nur eine vermeintliche Übereinstimmung geben, da nicht wir es sind, die den nur erahnten res extenses eine Form geben, die uns entspricht, sondern es die grell ausgeleuchteten res extenses sind, die sich von außerhalb den res cogitans aufdrängen, sie an sich binden und vorübergehend eine Gestalt aufzwingen, die eine Übereinstimmung von Innen und Außen suggeriert. Diese kann jedoch nur solange erhalten bleiben, bis sie sich, durch faktische Aneignung und Überschreitung der Grenze, als Illusion erweist.

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020


Das, was Jeannette Fabis hingegen ausstellt, ist kein Objekt, kein Ding, das auf diesem Wege unser kurzfristiges Begehren wecken soll, wie es sonst Dinge in Schaufenster tun. Denn sie stellt jenseits der sichtbar machenden Grenze eine unsichtbar machende Grenze aus. Sie lenkt den Blick explizit auf eine Trennung zwischen unserem Raum und dem, der jenseits des Schaufensters verborgen bleibt. So wie das Schaufenster durchlässig ist, ist auch die ausgestellte und sichtbar gemachte Grenze durchlässig, doch ist ihre Durchlässigkeit subtil. Das einzige, was von der einen zur anderen Seite dringt, sind Lichtpunkte, die jeweils den Raum dahinter erahnen lassen, ihn aber nicht zeigen. Der Raum jenseits der Grenze ist wieder ein Raum des Ungestalteten, offen für unsere Projektionen, womit die Migration der Bilder, die sich sonst vor einem Schaufenster ereignet, in ihrer Richtung umgekehrt wird. Das aus dem Raum dringende Licht, das nichts über den Raum verrät, läßt eine Repräsentation des Raums in unserem Inneren entstehen, die vor allem dem entspricht, was sich jenseits der inneren Grenze, also in unserem Unterbewußtsein abspielt. Nur so ist es möglich, unser Inneres wieder in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was uns umgibt, bzw.  daß wir uns über das, was wir nicht sind, was wir in unser Unterbewußtsein verdrängen und in die äußere Welt projizieren, definieren.
 

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020

Erst wenn dieser Austausch von Innerem und Äußerem, dieses Zusammenfallen von den dunklen Bereichen jenseits der inneren und der äußeren Grenze stattfindet, kann der Mensch seine Identität schließlich wieder an der Grenze vom Sichtbaren zum Unsichtbaren entlang modellieren und sich in der Welt beheimatet fühlen, dank des Unsichtbaren, Ungestalteten und Fremden, das uns erst ermöglicht, wirkliche Lebendigkeit zu erfahren.


© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2020






Mittwoch, 2. Dezember 2020

Warnhinweis: "Die Psychologie des Geschichtenerzählens" von Tobias C. Breiner

Für meine Tätigkeit als Hochschuldozent für kreatives Schreiben bin ich immer auf der Suche nach neuem Input. So stieß ich in einer Bachelorarbeit auf die Publikation „Die Psychologie des Geschichtenerzählens“ (2019) von Tobias C. Breiner, einem mehrfach ausgezeichneten Professor für Computergraphik und Gamedesign. 

Aufgrund des Titels hatte ich berechtigte große Erwartungen, schließlich entpuppte sich das Buch aber als eine einzige große Entäuschung. Da diese Publikation - offenbar wegen Breiners Renomee - regelmäßig von Graphik- und Illustrationsdozenten empfohlen und von Studenten als Leitfaden aufgenommen wird, fühle ich mich bemüßigt, auf deren erhelbliche narratologische Mängel hinzuweisen. 

Ein sehr viel angemessenerer Titel wäre gewesen: „Die Heldenreise optimiert für Game-Design“, denn vom Denken in literarischen Kategorien ist Breiner soweit entfernt wie die Erde vom Mond.

Er identifiziert als Gerüst jeder Narration eine Kombination von Archetypen mit der Heldenreise, und da beide notgedrungen ihre Wurzeln in der menschlichen Psyche haben, reicht es Breiner offenbar aus, von der „Psychologie“ des Geschichtenerzählens zu schreiben.

Er beginnt mit der „Beschreibung“ der Hauptfiguren, die auf eine reichlich lange Checkliste hinausläuft, auf der unter anderem Dinge aufgelistet werden wie Wertpapierbesitz oder Blutgruppe. Der „innere Konflikt“, also das zentrale Momentum einer jeden literarischen Figur, ist lediglich als einer von gut 60 gleichwertigen Punkten aufgeführt und spielt auch im weiteren Verlauf keine Rolle!
Er empfiehlt zudem, jeder Geschichte eine kurze Beschreibung der wichtigsten Charaktere voran zu stellen, wie es z.B. bei Asterix und Obelix der Fall ist. Das geht vielleicht noch an für Kinderbuchreihen, aber in der Literatur?  Man stelle sich vor: „Lieber Leser, dieser Roman handelt von einem hübschen, verträumten Mädchen namens Emma, die behütet in einer Klosterschule aufgewachsen ist und glaubt, auf der Welt ginge es zu wie in den vielen Liebesromanen, die sie gelesen hat. Sie hat dunkle Locken und Blutgruppe A. Ihr späterer Mann, Charles Bovary, ist ein liebenswürdiger, aber sehr biederer Mann mit einem eher bescheidenen Portfolio an Wertpapieren und Schuhgröße 44…“ Um Gottes Willen!

Es folgt ein langes Kapitel über Archetypen, in dem Breiner sich zwar lang und breit darüber ausläßt, welche Haarfarbe sie haben, welche Waffen sie üblicherweise tragen, ob sie schmal oder muskulös gebaut sind und insbesondere, ob sie einen Bart tragen - aber er verliert kaum ein Wort darüber, welche dramaturgische Funktion sie haben!
Den Bärten der Helden und Mentoren widmet er besonders viel Aufmerksamkeit, dabei bringt er aber Fiktion und Realität mit einer erschreckenden Naivität durcheinander. Er stellt Gandalf, den Weihnachtsmann und Merlin neben Karl Marx, Darwin und Osama bin Laden ohne zu begreifen, daß die einen den Bart tragen, weil er ihnen wegen der damit verbundenen Aura von Alter und Weisheit angedichtet worden ist, die anderen hingegen, weil es lediglich eine zeit- oder kulturspezifische Konvention ist! So wie Breiner es darstellt, hätte aber z.B. Charles Darwin sich den Bart stehen lassen, um die Rolle des Mentoren besser zu verkörpern. Das ist schlicht und ergreifend Unsinn und wissenschaftlich betrachtet eine haarsträubender Zirkelschluss, der die mediale Überlieferung, die Charles Darwin schließlich stilisiert hat, vollkommen außer Acht läßt.

Dann geht Breiner mit beispielloser Hemdsärmeligkeit daran, die Herkunft der Archetypen zu erklären. Da stoßen wir auf groteske Verknüpfungen wie: Der Held wird assoziiert mit der Sonne, der Körper erzeugt im Sonnenlicht Vitamin D, Vitamin D läßt Haare stärker sprießen, deshalb haben Helden Bärte. Wo bleibt die Psychologie? Warum gibt es hier nicht den schlichten Hinweis auf den Bart als offensichtlichstes Kennzeichen der Maskulinität? Und warum sind Bärte überhaupt so wichtig für das Erzählen von Geschichten?
Ebenfalls wird klar, daß sich Breiner nur äußerst oberflächlich mit Campbells Werk auseinander gesetzt hat, in dem die weltweite Übereinstimmung mythischer Symbole sehr einleuchtend und ausführlich durch kulturelle Diffusion erklärt wird. Davon scheint Breiner noch nie gehört zu haben.

In seiner folgenden Klassifikation verwechselt er ohne mit der Wimper zu zucken Archetypen mit kulturspezifischen Stereotypen, die er dann "kulturelle" und "zivilisatorische Archetypen" nennt. Darunter sind solche sog. „Archetypen“ wie der „Gamer“ der „Nerd“ oder der „Nazi“. C.G. Jung würde sich im Grabe umdrehen.

Das anschließende Kapitel über Stereotypen ist hingegen interessant und erläutert einen  simplen Trick mittels dessen man die Algorithmen von Suchmaschinen benutzen kann, um statistisch untermauerte ländertypische Vorurteile zu ermitteln. Wie das hingegen beim Erzählen von Geschichten helfen soll, bleibt offen.

In einem Kapitel über Narratologie und Ludologie werden munter die Begriffe „narrativ“ und „narratologisch“ sowie „ludisch“ und „ludologisch“ durcheinandergewürfelt, obwohl das eine sich auf Geschichten oder Spiele an sich bezieht, das andere auf die Wissenschaft vom Geschichtenerzählen oder Spielen. Er schreibt u.a. von „ludologischen Spielen“, was genau genommen Spiele sein müßten, die einen selbstreflexiven wissenschaftlichen Inhalt hätten, während er aber eigentlich Spiele meint, die nur ludischen, also spielerischen, aber keinen narrativen Inhalt haben.

Schließlich kommt sein vermeintlich großer Wurf: Eine Überarbeitung der Campbell´schen Heldenreise. Hier zeigt sich endgültig, daß Breiner literarisch unbeleckt ist. Seine Beispiele scheinen oft fast mit Gewalt in sein zwölfteiliges Schema gepresst zu sein und die Transformation des Helden findet einfach nicht statt. Denn zentral für jede Geschichte ist und bleibt genau diese Transformation. Statt dessen bezieht er die Transformation auf das Umfeld des Helden bei seiner Rückkehr, was einfach nur Unsinn ist. Hier wird klar: Breiner begreift gerade das wichtigste psychologische Momentum des Geschichtenerzählens nicht!
Ebenfalls ein grober Schnitzer in diesem Abschnitt: Die fortlaufende Verwechslung von „Drama“ mit „Tragödie“.

Schließlich wird dem Ganzen die Krone aufgesetzt mit seinen abschließenden Argumenten, weshalb sein „dodekazyklischer“ Entwurf mehr Substanz habe, als das Modell von Campbell. Als Argumente führt er an, sein Modell könne als Kreis bzw. als Quadrat dargestellt werden und es enthalte zudem sechs und achteckige geometrische Ordnungen, die überdies einem von ihm selbst entwickelten Farbsystem entsprechen. Und das sollen literaturwissenschaftlich belastbare Argumente sein?

Auf diesem Weg ist es dem Informatiker Breiner vielleicht gelungen, sich auf der Basis der Heldenreise einen graphisch darstellbaren Algorithmus zusammen zu basteln, der in Computerspielen als narratives Gerüst nützlich sein mag, der Literatur hat er hingegen einen Bärendienst erwiesen.