Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
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Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Montag, 30. September 2024

Dem Menschen zugewandt - Dr. Thomas Piesbergen über eine Ausstellung aus dem Nachlass von Fritz Fleer in der Hauptkirche St. Nicolai, Hamburg

Kunstwerke sind ein Mittel der Kommunikation. Und so wie es in jeder Art der Kommunikation der Fall ist, wollen auch Kunstwerke verstanden sein. Denn sie sind bis auf wenige Ausnahmen, für eine Öffentlichkeit geschaffen. Doch so wie es verschiedenste Positionen in der Kunst gibt, gibt es auch sehr verschiedene Arten von Öffentlichkeit, denen die Kunstwerke jeweils zugedacht sind.

Da gibt es z.B. die überschaubare Öffentlichkeit der Galerien. Hier wird auf ein Publikum zugearbeitet, das vornehmlich aus gut orientierten Sammlern besteht.
Dann gibt es die Öffentlichkeit der Off-Galerien, Anlaufpunkt der Kunstszene, in denen viel experimentiert wird, um neue Ausdrucksformen auszuprobieren, um auf sich aufmerksam zu machen und sich zu vernetzen.
Es gibt die Öffentlichkeit der Museen, für die, wenn gezielt für sie produziert wird, auch Großformatiges, Spektakuläres geschaffen werden kann, das vielleicht sogar den Anspruch erhebt, zu einer Touristenattraktion zu werden.
Und schließlich gibt es die Kunst im öffentlichen Raum, die dem Menschen auch außerhalb ausgewiesener Kunstorte in seinem Alltag begegnet, die man nicht aufsuchen muss, sondern die uns unvermittelt trifft und Orientierungspunkt sein kann.

So wie man im Gespräch darauf achtet, dass man auf eine Art und Weise spricht, die dem Gesprächspartner verständlich ist, so hat auch jede Art der Öffentlichkeit, der man sich mitteilen möchte, einen starken Einfluss darauf, wie ein Kunstwerk gestaltet wird. Denn auch wenn Künstler*innen den Anspruch haben im eigenen Schaffen autark zu bleiben, versuchen sie dennoch das von ihnen anvisierte Publikum zu erreichen, und das hat, bewusst oder unbewusst, Einfluss auf ihre Arbeit.

Der Bildhauer Fritz Fleer war nie ein Künstler, dem es darum ging, zur Avantgarde zu gehören. Er hatte kein Interesse daran eine kleine Elite von Sammlern, Kuratoren und Kritikern zu beeindrucken. Ebenso wenig hatte er Interesse daran, mit seiner Arbeit die künstlerische Formensprache  zu revolutionieren, oder das Establishment durch spektakuläre Inszenierungen zu provozieren und so politisch wirksam zu werden.

Sein Interesse war es immer, die Menschen unmittelbar zu erreichen, und zwar alle Menschen, nicht nur eine Teilöffentlichkeit. Deshalb hat er sich dafür entschieden, vor allem Kunst für den öffentlichen Raum zu schaffen.
Doch mit welcher Haltung ist er auf diese Öffentlichkeit zugegangen? Um mich dem zu nähern, möchte ich ein Zitat des Schriftstellers Alan Moore einschieben. Moore sagte in einem Interview: „Das Publikum weiß, was es will, es weiß aber nicht, was es braucht. Der Künstler weiß, was es braucht. Wüsste das Publikum, was es braucht, wäre es nicht länger ein Publikum, sondern selbst Künstler.“
Natürlich gibt es Künstler*innen, die dem jeweiligen Publikum, für das sie arbeiten, genau das geben, was dieses Publikum will.
Fritz Fleer hingegen war davon überzeugt, dass man für eine breite Öffentlichkeit Skulpturen schaffen müsse, die diese Öffentlichkeit braucht. Ihm ging es nie darum, gefällig zu sein oder in einem intellektuellen Diskurs Schritt zu halten, sein Anliegen war es vielmehr, etwas zu vermitteln, das den Menschen jeden Tag aufs neue Kraft und Zuversicht gibt, etwas, dass die Menschenliebe in ihnen weckt und ihnen Innere Haltung und Würde gibt - Dinge die nicht nur nach dem Grauen der Nazidiktatur und dem zweiten Weltkrieg bitter nötig waren, sondern deren Bedeutung auch heute noch ungebrochen ist.

Diese Einstellung, diese Werte und die Anforderung für eine breite Öffentlichkeit verständlich zu sein, haben ihn zu einem klaren Ausdruck, elementarer Komposition und einer zwar unzeitgemäßen, aber zugänglichen Gegenständlichkeit geführt.
Doch darf man Fritz Fleer nicht missverstehen als naturalistischen Künstler. Denn seine Skulpturen sind immer Ergebnis einer Reduktion auf das Wesentliche, auf die Idee einer inneren Einstellung, eines Selbstbildes. Es wäre aber ebenso ein Fehler, die Figuren Idealbilder zu verstehen. Dieses Konzept, wurzelnd im antiken Erbe der platonischen Ideenlehre, war lange Zeit maßgeblich für die Bildhauerei, hat aber schließlich auch zu den schrecklichen Irrtümern der faschistischen Kunst und ihrem Ideal des Herrenmenschen geführt.

Fritz Fleer wollte niemals zeigen, wie der Mensch sein müsse. Seine Figuren sollten vielmehr durch ihre Wirkung im Raum unmittelbar auf die Selbstwahrnehmung der Betrachter*innen wirken. Heute ist dieser Mechanismus wissenschaftlich beschreibbar geworden. Mittels der sogenannten Spiegelneuronen können wir Gestik und Mimik anderer Menschen innerlich nachvollziehen und uns in sie hineinversetzen. Die Haltung anderer Körper erzeugt in uns emotive Reaktionen.
Um diese gewünschte emotive Wirkung zu erzielen, hat Fritz Fleer seine Figuren so schlicht wie möglich gestaltet und auf alle überflüssigen Details, auf alles Pompöse oder Einschüchternde verzichtet. Ihre schlichte Botschaft sollte durch nichts überlagert werden.
Wenn wir also einer solchen Figur gegenüber stehen, die sich aufrecht hält, ohne uns mit dieser Haltung zu beherrschen, so können auch wir uns an ihr aufrichten.
Exemplarisch dafür sind Fleers Kruzifixe. Niemals hat er Jesus als Schmerzensmann dargestellt, als einen gequälten diesseitigen Leib. Für ihn war der Gedanke der Erlösung wichtig. Und die fand er nicht in der Darstellung des Leids, einer imposanten Inszenierung des Himmelreichs oder einer Auferstehung mit Gloriole und Engelschören, sondern in der schlichten Erhabenheit eines aufrechten, in sich ruhenden menschlichen Körpers, dessen Zuversicht und Gelassenheit unmittelbar auf uns übergeht.

So hat Fritz Fleer sein Leben lang mit seinen Skulpturen Orte ausgestattet und mitgestaltet, denen eine Aura der Würde, der Klarheit, Gelassenheit und Selbstachtung zu eigen ist. Und nicht nur seine Figuren strahlen diese innere Haltung aus, auch die von ihm gestalteten Altäre, Sockel oder Taufbecken sind davon getragen. Einerseits ruhen sie fest auf dem Boden, andererseits streben sie in die Höhe, wirken, als wären sie frei von aller Last.

So liegt es nur nahe, dass er auch ein feines Empfinden für sein eigenes Lebens- und Arbeitsumfeld hatte. In den frühen 60er Jahren engagierte er für den Bau seines eigenen Hauses in Wohldorf-Ohlstedt Otto Andersen, den wohl wichtigsten Kirchenarchitekten der 50er und 60er Jahre in Norddeutschland. Gemeinsam gestalteten sie Räume, die, wie auch Fleers Skulpturen, ein positives Raum- und Selbstgefühl vermitteln. Sie entwarfen ein Haus, das nicht repräsentativ in die Nachbarschaft hinaus protzt, sondern seinen Bewohnern Raum, Licht und Luft bietet, um sich in schlichter menschlicher Größe und Würde aufzurichten und sich zu entfalten. Dasselbe gilt für die Möbel, von denen Fleer etliche selbst gestaltete.

Inzwischen sind Fritz Fleer und seine Frau, die Fotografin Erika Fleer, gestorben und der Nachlass, das Haus mit dem Atelier, mit seinem Lager und einem großer Garten voller Statuen, in die Hände der Fleer Stiftung übergegangen.
Wie geht man nun mit so einem Nachlass um? Die Stiftung hat sich für das Naheliegendste entschieden:
Nachdem Fritz Fleer sein Leben lang Kunst für den öffentlichen Raum geschaffen hat, haben sie den Ort, an dem seine Kunst entstanden ist und der, seit seinem Entstehungsjahr, bis ins Detail nahezu unverändert geblieben ist, selbst zu einem öffentlichen Raum gemacht.

Vor allem Jugendlichen bietet sich nun die Gelegenheit, einen Ort zu erleben, an dem sie nicht nur den Skulpturen Fritz Fleers begegnen, sondern auch ein Gefühl für einen Ort entwickeln können, an dem einem solchen, dem Menschen zugewandten kreativen Schaffen ein idealer Rahmen geboten wird.  Sie können einen Raum erfahren, der von dieser inneren Haltung durchdrungen ist, einen Ort, an dem sie wachsen und sich aufrichten können, so wie wir es tun können, umgeben von den Skulpturen und Reliefen dieser Ausstellung, die uns einen Einblick in die dem Menschen zugewandte Kunst Fritz Fleers eröffnet.

©️ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2024

Donnerstag, 26. September 2024

Von der Zähmung der Wildnis - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Die Stunde der Wildnis“ von Chika Agura und Rolf Naedler im Künstlerhaus Bergedorf

 

Chika Aruga, Rolf Naedler "Die Stunde der Wildnis", Einladungskarte, 2024
 

Zu den markantesten Aspekten der menschlichen Kultur und demzufolge auch zu den wichtigsten Schritten auf dem Weg zur Menschwerdung, zählt die Selbstwahrnehmung des Menschen als etwas von der Natur Abgespaltenes. Sowohl in der Archäologie als auch in der Ethnologie begegnet uns die Natur immer wieder als die maßgebliche antagonistische Kraft.

Schon von den steinzeitlichen Höhlenmalereien kennen wir den Komplex von Natur, Tod und Fruchtbarkeit, als eine Macht, die dem Menschen gegenübersteht und auf die er einwirken muss. Über Jahrtausende und bis in die historische Zeit hat sich dieser Komplex nur in seiner Erscheinungsform, nicht aber in seiner inneren Struktur verändert.

Aus dem ethnologischen Strukturalismus wiederum kennen wir die Kategorien von Innen und Außen, von der menschlichen und der natürlichen Sphäre, die in einem Spektrum einander gegenüberstehen und entscheidend für die Selbstbeschreibung nahezu aller beobachtbaren Ethnien sind.
Dabei ist das „Innen“ immer die eigene spezifische Kultur, wobei häufig nur die Mitglieder derselben als Menschen gelten. Je weiter wir uns in das „Außen“ bewegen, desto wilder, barbarischer und unmenschlicher werden die Zuschreibungen, bis wir schließlich die kulturelle Sphäre gänzlich verlassen und die ungezähmte Wildnis betreten.

Doch indem der Mensch eine Grenze zieht zwischen sich und der Natur, aus der er ursprünglich hervorgegangen ist, schafft er zugleich die Notwendigkeit der Überwindung dieser Grenze, er schafft die Notwendigkeit eines Austausches zwischen den beiden Sphären. Denn die ihn umgebende Natur birgt nicht nur tödliche Bedrohung, genauso ist er auf sie angewiesen um zu überleben. Zudem erkennt er in seinem eigenen Leben den Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der sich ebenso in der Sphäre der Natur abspielt. Er begreift sich also als von ihr getrennt, ist sich aber zugleich bewusst, untrennbar mit ihr verbunden zu sein.

Um diesen Widerspruch zu überwinden, waren religiöse Konzepte und Riten ein ideales Medium, denn hinter der lebensspendenden und zugleich todbringenden Kraft der Natur wähnte der Mensch das Walten numinoser Mächte. Er beseelte die Natur mit Geistern, Göttern und Kräften, von denen der Mensch zwar gegenwärtig getrennt war, von deren Wohlwollen er aber abhängig blieb. Eine solche nur minimal strukturierte animistische Weltsicht bildet mit großer Wahrscheinlichkeit den Ursprung allen religiösen Denkens. Sie begegnet uns noch heute z.B. bei den südafrikanischen San oder, in höchst sublimierter Form, im japanischen Shintoismus. In beiden Fällen umgibt den Menschen eine allgegenwärtig beseelte Natur.

Doch, wie schon erwähnt, wird diese Trennung vom Menschen und den numinosen Kräften der Natur nur als vorübergehend verstanden. Besonders für die San ist gut beschrieben, dass die Menschen nach ihrem Tod wieder in die Geisterwelt der umgebenden Natur übergehen, wodurch eine enge Verbindung zwischen den Lebenden, den Ahnengeistern und dem Land hergestellt wird. Dieser unmittelbare Kontakt kann vorübergehend auch in Trancezuständen gesucht werden. Bei den San geschieht das z.B. spontan, im Shintoismus wird diese Erfahrung durch eine mit rituellem Tanz eingeleitete Naturschau herbeigeführt. Über Jahrtausende galt so die Natur, und mit ihr auch die menschliche Natur, als etwas unmittelbar erfahbar Heiliges.

Erst im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrtausends ereignete sich im vorderasiatischen und mediterranen Bereich ein massiver Bruch dieser Entwicklungslinie. Mit den Offenbarungsreligionen einerseits und der Weltsicht der Pythagoreer andererseits vollzog sich ein Paradigmenwechsel, den man als Dualismus bezeichnet, und der die europäische Geistesgeschichte bis heute grundlegend geprägt hat.

Denn dem dualistischen Konzept zufolge, ganz gleich ob in den drei großen Buchreligionen, bei den Manichäern, ob im Mithraskult, in der Gnosis oder bei Platon und allen ihm folgenden philosophischen Schulen, gelten die Welt und Gott als strikt voneinander getrennt. Wo es zuvor jedem Individuum zugebilligt wurde, mit dem Numinosen in der Natur in Kontakt zu treten, gesteht die dualistische Vorstellung dieses Privileg nur noch ihren wenigen Propheten zu, denen in ihren Visionen sehr spezifische göttliche Gesetze offenbart werden. Dem gewöhnlichen Menschen ist es unmöglich, diese nun endgültig gezogene Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen zu überschreiten. Ihm bleibt lediglich übrig, sich den Gesetzen zu unterwerfen, die ihm die Propheten verkünden.

Damit wurde auch die Natur, in der es zuvor noch heilige Quellen, heilige Haine, Bäume und Berge gegeben hatte, zu einem unbeseelten, profanen Objekt, das man sich im göttlichen Auftrag zu unterwerfen hatte, wie es im Alten Testament beschrieben wird. Genau das gleiche Schicksal widerfuhr dem menschlichen Körper, dem „sündigen Fleisch“, dessen Bedürfnisse von nun an größenteils als teuflische Versuchungen denunziert wurden. Diese Entwicklung erlebte ihren grotesken Höhepunkt in dem Glaubenssystem der Katharer.

Die östliche Hemisphäre blieb von dieser Abspaltung des Heiligen von Natur und Körper weitgehend verschont. Zwar gibt es auch in den östlichen Religionen den Topos der Weltabkehr und den Gedanken, der Mensch lebe in einer Welt des Scheins, dennoch bleibt immer die Vorstellung einer Allgegenwart des Göttlichen bestehen. So gibt es im Buddhismus die Vorstellung der Buddha-Natur, die in allem gegenwärtig ist. Im Hinduismus gibt es zwar ein strenges Kastensystem, dass den Priesterdienst auf die Brahmanen beschränkt, es steht aber jedem frei, ein Sadhu, ein asketischer Heiliger zu werden. Denn der menschliche Körper gilt dort als ein Medium, das imstande ist, zur unmittelbaren Begegnung mit dem Heiligen zu führen.

In der abendländischen Kultur wurde die Natur erst mit der Romantik wieder entdeckt als ein Ort an dem, ohne die sonst notwendige Vermittlung einer kirchlichen Autorität, eine unmittelbare Erfahrung mit einem tieferen Geheimnis des Seins möglich ist.

Allen voran formulierte Novalis, inspiriert von Johann Gottlieb Fichte, diese neue Sicht auf die Natur. Fichte, in dem man einen Vorläufer des radikalen Konstruktivismus sehen kann, ging von einem Ich aus, das sich einem Nicht-Ich handelnd stellt und dadurch die Wirklichkeit erschafft.

Novalis verstand unter dem Nicht-Ich vor allem die der Menschheit gegenübergestellte Natur, in der er aber gleichzeitig einen Spiegel für das menschliche Miteinander sah. So heißt es in den Lehrlingen zu Sais (Kap. II, Natur): „Man steht mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen Verhältnissen so wie mit den Menschen.“
Er glaubte jedoch, dieses Unbegreifliche, dem der Mensch in der wilden Natur begegnet, könne man überwinden, indem man die Natur bis zu einem gewissen Grad zähmt, sie künstlerisch-poetisch überformt und sie in einen sog. „Geheimniszustand“ überführt, in dem der Mensch sein Inneres wieder erkennen kann. Die Natur sollte auf diese Weise Spiegel des menschlichen Seelenlebens werden.

Diese von Novalis geforderte Zähmung der Natur, die nicht deren natürliche Gestalt auslöscht, wie es im symmetrischen Barockgarten geschieht, sondern sie lediglich an die menschlichen Maßstäbe anpasst, entspricht dem Konzept des japanischen Gartens, der vor allem der Kontemplation dient, denn er ist untrennbar mit der Gedankenwelt des Zen-Buddhismus verbunden, der seinerseits das Naturverständnis aus dem Shintoismus übernommen hat. Der Japanische Garten, insbesondere der Zen-Garten, ist also ein Ort, an dem es ermöglicht werden soll, durch die Anschauung einer gezähmten Natur eine Verbindung mit dem Numinosen herzustellen.

Im europäischen Zusammenhang hat das romantische Naturverständnis den englischen Landschaftsgarten hervorgebracht, der kurz nach Novalis’ Tod von Fürst Pückler-Muskau in Deutschland eingeführt worden ist. Auch hier wird versucht, eine möglichst natürliche Landschaft nachzugestalten, durch die der Mensch lustwandeln kann, ohne dem Fremdartigen, den Unannehmlichkeiten und Gefahren ausgesetzt zu sein, die in einer ungezähmten Wildnis lauern.
Doch bleibt die poetische Begegnung mit dem Numinosen in der Natur nur eine poetische Randnotiz der westlichen Kultur. Denn immer maßgeblicher wird dort die wissenschaftliche Erfassung der Wildnis, ihre Zähmung durch den ordnenden, vermessenden und kategorisierenden Logos, so wie er durch Carl von Linné oder Alexander von Humboldt personifiziert wird. Trotz des romantischen Intermezzos bleibt die Wildnis also etwas, das es zu unterwerfen gilt, das der Mensch, ganz dem göttlichen Gebot folgend, sich Untertan machen soll.

Diese zwei gegensätzlichen Perspektiven auf die Welt - einerseits die Natur als Schnittstelle zum Numinosen, andererseits die von uns unterworfene und geordnete Natur - haben bis heute das Verhältnis von Mensch und Umwelt in der westlichen und östlichen Hemisphäre geprägt und treten uns in der Ausstellung „Die Stunde der Wildnis“ von Chika Aruga und Rolf Naedler nahezu exemplarisch entgegen.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024


Chika Aruga lässt sich unmittelbar von der Natur inspirieren. Vor allem in den Nationalparks der Präfektur Nagano im zentralen Hochland der japanischen Insel Honshū, fertigt Chika Aruga Zeichnungen und Fotos an, die all ihren Arbeiten zugrunde liegen.
Im weiteren künstlerischen Prozess wird dieses Ausgangsmaterial ergänzt durch Bildern aus verschiedenen medialen Kontexten, wie z.B. Zeitschriften. Die verschiedenen zusammengetragenen Fragmente werden nun Schicht um Schicht übereinander gelegt.

Dabei setzt Chika Aruga auch moderne Technik ein. Mittels Photoshop experimentiert sie mit verschiedenen Möglichkeiten der Überlagerung und des Farbauftrags, bevor sie zum eigentlichen Akt des Malens kommt. In diesem Zwischenschritt ereignet sich ganz konkret eine Zähmung der zuvor rezipierten Wildnis mittels digitaler Technik, die vielleicht mit der hochentwickelten Technik des japanischen Gartenbaus verglichen werden kann, der wir die Kunst des Bonsais oder des Zen-Gartens zu verdanken haben.
 

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Nach dieser Domestizierung der Natureindrücke, beginnt die eigentlich Bildgenese mit dem faktischen Farbauftrag auf der Leinwand. Nun entfaltet sich wiederum die Eigendynamik der nicht gegenständlichen Malerei. Wie in einem Wald Dinge wachsen, absterben, überwuchert werden und den Boden für neues Wachstum bieten, so wachsen auch die Bilder nach ihren eigenen, innewohnenden Gesetzen, bis sie schließlich zu einer endgültige Form gefunden haben.
Vor uns sehen wir eine Durchdringung mikro- und makroskopischer Erscheinungen: Wasserbläschen, Blätter und Blüten, die abstrahierten Muster weit verzweigten Geästs, die blauen Schattierungen der Bergkämme, das Zusammenspiel von dem unablässigen Werden und Vergehen im Kleinen und der unvergänglich anmutenden, ewig sich gleichenden Landschaft im Großen. Wir erleben also den Versuch, die Totalität einer ganzheitlichen Naturerfahrung umzusetzen, den Versuch, das Erlebnis einer völligen Immersion, einer unmittelbaren Begegnung zu reproduzieren.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Eine besondere Bedeutung haben dabei die Leerräume, die in den Malereien durch gezielte, meist blaue Übermalung gesetzt werden und in den Aquarellen ausgespart bleiben. Aruga bezieht sich dabei auf eine Idee klassischer japanischer Malerei, in der die dort meist vergoldeten Leerflächen Denkräume für den Betrachter öffnen sollen.
So sehen wir im Arbeitsprozess zwar einen Zwischenschritt, in dem die Wildnis gezähmt wird, doch geht der ganze Vorgang von einer unmittelbaren und ganzheitlichen Naturschau aus und wuchert schließlich, wie die Natur selbst, mit steten Revisionen und Übermalungen von der Leinwand bis in die Vorstellungsräume der Betrachter*innen hinein.

Chika Aruga, Ausstellungsansicht, "Die Stunde der Wildnis", 2024


Ganz anders ist der Ansatz von Rolf Naedler. Während sich Chika Aruga dem unteilbaren Ganzen eines Natureindrucks öffnet und versucht ihn wiederzugeben, sind für Rolf Naedlers Arbeitsprozess Einzelstücke impulsgebend.

Manchmal sind es Fundstücke, die er auf einem Waldspaziergang findet; oft sucht er aber auch gezielt die Sammlungen zoologischer Institute oder Museen auf und nimmt sich Tierpräparate zum Modell. Immer sind es Exemplare, die aus ihrem natürlichen Kontext gelöst sind und, im Falle der Stücke aus Sammlungen, von einem wissenschaftlichen Forschungsapparat erfasst wurden. Im Gegensatz zu Arugas Motiven sind sie aus dem wilden Zusammenhang gelöst und ganz und gar kulturell assimiliert.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Entsprechend nähert sich Rolf Naedler diesen Exemplaren zunächst nicht auf intuitivem und sinnlichem Weg, sondern, ganz in der Tradition des abendländischen Dualismus, dem die Natur als profan gilt, mit dem analytischen Logos; er recherchiert über die Lebensweise der Tiere, die er malt, über ihre Herkunft, ihre ökologische Nische, ihre Bedeutung für das Ökosystem und schließlich auch ihre kulturelle Rezeption. Man könnte sagen, er seziert den Topos der Spezies.

Hier möchte ich einen kurzen Rückgriff auf eine kulturelle Erscheinung des Mittelpaläolithikums wagen: Aus europäischen Höhlen sind Deponierungen von Knochen des Höhlenbären bekannt, die nahelegen, dass, nachdem man die Tiere erlegt und verwertet hat, ihre Knochen in einem Ritual wieder zusammen gefügt wurden, wahrscheinlich um ihre Seele dem Naturreich der Geister zurück zu führen, damit sie erneut als Höhlenbär geboren und gejagt werden können. Identische Rituale konnten in Sibirien noch zu Beginn des 20. Jhd. beobachtet werden.
Der Mensch fühlte sich also dafür verantwortlich, dass der Kreislauf des Lebens in Gang gehalten wird, und das, was der Natur genommen wurde, auch zurückgegeben werden muss, um sich zu erneuern.

Den Arbeitsprozess, der sich an die zuvor beschriebene Recherche von Rolf Naedler anschließt, kann man durchaus mit diesem mittelpaläolithischen Versuch der Wiedergutmachung  vergleichen. Denn aus der Recherche resultiert der Versuch einer Rekontextualisierung. Die Fundstücke und Exemplare werden auf der Leinwand in Bezug zu bedeutsamen visuellen Elementen gesetzt, die sie aus der Zusammenhangslosigkeit retten sollen, in die sie zuvor geworfen wurden.
Dazu dienen vor allem besondere Malgründe oder Hintergrundmuster. So finden wir das ostasiatische Wasserreh umgeben von einem Tapetenmuster mit ebenfalls asiatischen Kranichornamenten, die einen Hinweis auf den Lebensraum des Rehs geben sollen. Das Indische Springkraut ist ebenso auf einen gemusterten Stoff gemalt, der, wie die Pflanze selbst, aus Indien stammt.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Auf anderen Bildern sind den dargestellten Vögeln kleine lexikalische Absätze beigefügt, die nicht nur Hintergrundinformationen vermitteln, sondern auch zeigen sollen, wie die aus ihrem Lebenszusammenhang gerissenen Exemplare in einen kulturellen Kontext überführt worden sind.

Man gewinnt den Eindruck, als wären die Bilder aus einer Sehnsucht entstanden, den durch die westliche Kultur verursachten Bruch zwischen Mensch und Natur und den dadurch angerichteten Schaden, wieder zu beheben, doch lediglich mit den limitierten Mitteln, die uns eine profane und analytische Weltsicht noch lässt, also lediglich mit vom Verstand zusammengetragenen kulturellen Hervorbringungen und  Nachahmungen der Natur.

Dieser Gedanke ist wiederum ironisch aufgegriffen in dem Bild einer Dose mit eingelegtem Thunfisch, die, flankiert von Messer und Gabel, ein Bild im Bild zeigt: Eine idealisierte Szene, ein Sehnsuchtsbildchen vom Meer mit Segelboot, in dem die Harmonie von Mensch und Natur perfekt scheint, während sie tatsächlich unterworfen und gezähmt in konsumerablen Häppchen in Blech eingedost vor uns steht.

Rolf Naedler, Ausstellungsansich, "Die Stunde der Wildnis", 2024

Doch das Momentum der Sehnsucht nach unmittelbarem Kontakt zur Welt, nach einer frei wuchernden Wildnis, wie wir sie bei Chika Aruga erleben, tritt noch auf andere Weise in Rolf Naedlers Bildern zutage: Über die Leinwände breitet sich oft als Bildgrund jenseits der Ornamente eine Schicht von zarten, ineinander fließenden Farben aus, die in einem subtilen, aber dennoch starken Kontrast stehen zu den zeichenhaft aufeinander bezogenen Bildelementen und der analytischen Rekontextualisierung.

Vielleicht mag man diese lebendigen, ungezähmten Farbschichten lesen als eine Ahnung wirklicher Wildnis, als die Natur, die sich in uns selbst verbirgt, die aus uns hervortreten möchte, um die Grenze, die einst zwischen der wilden und der kulturellen Sphäre gezogen worden ist, schließlich doch wieder zu überwinden.

©️ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2024

 





Montag, 10. Juni 2024

Die Membrane zwischen Leben und Tod - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Kerne tanzen – Planeten kreisen – Katzen queren“ und "Hades 2" von Maria Fisahn

„Kerne tanzen – Planeten kreisen – Katzen queren“ Maria Fisahn, Freie Akademie der Künste, Hamburg, Juni / Juli 2024

Einladungskarte, Maria Fisahn, FAdK, Juni 2024

 

1611 schrieb William Shakespeare in seinem Schauspiel „Der Sturm“ die berühmt gewordene Zeile „Wir sind von solchem Stoff wie Traumgebild, und unser kleines Leben umgibt ein Schlaf.“
Auf den ersten Blick erscheint dieser Satz eine poetische Hinwendung zum Leben zu sein, das in seiner Schönheit und Flüchtigkeit einem Traum gleicht. Doch den Schlussakkord des Satzes, der in uns nachklingt und der Shakespeares gedankliche Tiefe offenbart, bildet der Schlaf, der vor unserem Leben gewesen ist, und der auch noch danach sein wird. Es ist der poetische Hinweis auf den Tod, der nicht nur alles mit seiner Präsenz umgibt, sondern in dessen Schlaf der Traum erst entstehen kann; vor uns haben wir die dunkle Aussage, es sei der Tod, der das Leben erschafft und es unentrinnbar einschließt.

Blicken wir zurück auf die Menschheits- und Kulturgeschichte und ihre formierenden Kräfte können wir bald erkennen, wie zentral das Bewusstsein der Sterblichkeit für das Menschsein ist. In der Urgeschichte gelten die Grabstätten in den israelischen Qafzeh- und Skhul-Höhlen sowie im irakischen Shanidar  nicht nur als die ältesten Bestattungen der Menschheit, sondern vor allem als Beweis für das Aufdämmern einer ideellen Sphäre, die, verursacht durch die Erkenntnis der individuellen Endlichkeit, als wichtiges Kennzeichen der vollzogenen Menschwerdung verstanden wird.

Am Beginn der Kulturgeschichte steht also das Bewusstsein der Sterblichkeit - und die erste fassbare rein kulturelle Handlung, nach aktuellem Kenntnisstand - ist eine Bestattung. Hier findet die These des Psychohistorikers und Analytikers Luigi de Marchie ihre Bestätigung, nach der alle kulturellen Hervorbringungen und alles menschliche Tun der Todesangst und ihrer Kompensation entspringen. Diese Kompensation besteht vor allem in der Bildung verschiedener Konzepte, die ein Nachleben postulieren. Dies Leben nach dem Tod mag in Form einer Wiedergeburt im Diesseits stattfinden, oder nach einem Übergang der Seele in ein jenseitiges Reich, das von der menschlichen Welt geschieden ist.

Wie unterschiedlich diese Vorstellungen zur Todesabwehr auch gestaltet sein mögen, sie alle wirken sich auf unser Handeln und Denken im Diesseits aus.

Denn hält man sich die eigene Sterblichkeit vor Augen und sieht sich dem großen Unbekannten jenseits des Todes gegenüber, stellt sich die Frage nach dem Sinn unserer Handlungen im Leben und auf welche Weise sie das, was uns jenseits der Schwelle des Todes erwartet, beeinflussen.

Entsprechend begegnet uns in allen Religionen der Übergang zum Tod als ein Scheidepunkt, an dem über die Summe des Lebens geurteilt wird, an dem entschieden wird, ob jenseits der Membran zwischen Leben und Tod eine Welt der Freude, des Schreckens oder der bloßen Schatten liegt.

In der alt-ägyptischen Mythologie wird das Herz der Toten gewogen. Wenn es leichter ist, als eine Feder, darf die Seele mit dem Sonnengott Re nach Westen reisen; ist das Herz zu schwer, wird die Seele von einem Ungeheuer verschlungen und ausgelöscht.
Auch in der orphischen Mystik, die einen  großen Einfluß auf die Antike hatte, gilt es, ein Leben zu führen, das eine Wiedergeburt als Gott unter Göttern bewirken soll, das ist jedoch nur möglich, wenn die Verstorbenen von der Quelle Mnemosyne trinken, die eine vollständige Erinnerung an das Leben gewährleistet. Die Summe des Lebens ist es also, die ins Elysium führt. Das Vergessen führt nur in die Schatten.
In den semitischen Buchreligionen gibt es die Vorstellung der Auferstehung in der „kommenden Welt“, in Christentum und Islam differenzierter als Eingang in das Paradies oder Abstieg in die Hölle, je nach der Art, wie fromm man sein Leben gestaltet hat.
Im asiatischen Religionskomplex hingegen bestimmt das Leben durch das Karma die Art der diesseitigen Wiedergeburt.
In jedem dieser Fälle bestimmt die Erwartung des Todes und eines antizipierten Nachlebens unsere Lebensführung, und der Tod ist in erster Linie die Membran zwischen beiden Sphären, die sie beide in Resonanz bringt.
 
Auch in unserer profanisierten Welt, in der jegliche mythologischen Jenseitsvorstellungen ihre Gültigkeit eingebüßt haben, begegnet uns der Tod, wie z.B. in der Existenzialphilosophie, noch immer als Hochgericht über das Leben.
Am plastischsten wurde diese Gegegnüberstellung in dem Drama „Das Spiel ist aus“ von Jean Paul Sartre inszeniert, in dem die Toten sich in einem schäbigen Hotelzimmer versammeln, um über ihr Leben zu urteilen und sich zu fragen, ob sie angesichts ihres Todes im Leben anders gehandelt hätten.

Doch auch wenn die Existenzialphilosophie die Endlichkeit als Prüfstein wählt, ist sie, da sie ein Nachleben leugnet, nicht imstande Trost zu spenden und die Todesangst zu kompensieren. Darin sieht de Marchi den Grund, aus dem sich viele Menschen heilsversprechenden Ideologien zuwenden, die wenigstens das Verschmelzen mit einem utopischen Kollektiv versprechen, das Aufgehen des Individuums in einer größeren Idee, wie z.B. in einem nationalistischen oder kommunistischen Paradies.
Heute scheinen uns solch radikale Utopien angesichts der Katastrophen, die sie ausgelöst haben, meist genauso sinnlos wie die Rückkehr in eine traditionelle Religiosität.

Denn während die alten mythologischen Systeme, in denen eine individuelle Erfahrung mit dem Numinosen noch möglich schien und sie deshalb noch imstande waren Trost zu stiften, sind die heutigen Religionen nach der vollzogenen Dissoziation von Gott und Welt entweder zu bloßen Ritualen und Regelwerken geronnen, aus deren formelhafter Starre uns die Sinnlosigkeit des Materialismus entgegen gähnt, wie T.S. Elliot in seinem großen Gedicht „Das Wüste Land“ beschrieb, oder sie sind eine verwaschene, von Konventionen und Zweifel gekennzeichnete Privatsache geworden, die bestenfalls eine gewisse Ethik hervorzubringen vermag.

So scheint schließlich eine der wenigen Möglichkeiten, sich mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit auseinander zu setzen, eine subjektive Spurensuche in dem metaphorischen und symbolischen Kosmos zu sein, den sich die Menschheit während ihrer Geschichte geschaffen hat; eine Suche, die sich emanzipiert von kulturellen Konventionen, ohne, wie Blaise Pascal schrieb, „in den Abgrund zu rennen, nachdem wir irgendetwas vor uns hingestellt haben, das uns daran hindern soll, ihn zu sehen.“

Auf diese Suche hat sich Maria Fisahn mit ihrem Projekt Hades 2 begeben, einem Künstlerbuch, in dem sie die vielfältigen Vorstellungsräume erforscht, die der Mensch an der Schwelle des Todes in das Jenseits projiziert.

Maria Fisahn, Schwarzes Buch Hades 2, Foto: Maria Fisahn

Schon mit der Art, wie sie das Papier des Buches behandelt, verweist sie auf dessen Funktion als eine Grenze - jedoch eine Grenze, die durchlässig ist. Denn bei der Gestaltung setzte Maria Fisahn ganz bewusst das Durchschlagen von Farbe und Tinte ein. Ein Malakt diesseits des Papiers zeitigt einen Effekt jenseits des Papiers, der die Gestaltung der folgenden Seite beeinflusst und sich dergestalt weiter von Seite zu Seite durch das ganze Buch fortträgt. Die vorherrschende Farbe ist Schwarz, eng verbunden mit der antiken Vorstellung des Totenreichs als einem Reich der Schatten und der Dunkelheit.

Auf den Bildern selbst finden wir, dem Titel entsprechend, Elemente, die dem hellenistischen Jenseitsglauben entspringen: Es gibt Boote, die uns an den Nachen des Charon denken lassen, sowie metallische Kreise, die als Obolus gelesen werden können, als Fährgeld, das den Toten unter die Zunge gelegt wurde. Doch neben diese Symbole treten bald zahlreiche andere Elemente, die aus den verschiedensten kulturellen Zusammenhängen stammen, alle jedoch mit dem Tod und dem Übergang in das Jenseits verbunden sind, mit der Transformation einer hiesigen zu einer jenseitigen Existenz.

Maria Fisahn, Schwarzes Buch Hades 2, Foto: Maria Fisahn

Uns begegnen Spiralen und Labyrinthe, auch Trojaburgen oder Jungfrauentanz genannt,  die vom antiken Griechenland über Etrurien bis hinauf nach Norwegen und Finnland verbreitet sind. Sie werden meist gedeutet als rituelle Pfade auf denen in Prozessionen der winterliche Abstieg ins Totenreich und der neuerliche Aufstieg im Frühling nachvollzogen worden sind, analog der Erzählung von Persephone, die von Hades geraubt und als seine Gemahlin in die Unterwelt verschleppt worden ist.
Dort herrschte sie wider Willen als Totengöttin, bis es Demeter, ihrer Mutter, schließlich gelang, die olympischen Götter zu erpressen und zu bewirken, dass Persephone als Kore, das Mädchen, Sinnbild des Frühlings, für jeweils die Hälfte des Jahres in die Welt der Lebenden zurückkehren darf. Persephone entspricht damit in ihrer Doppelnatur der hinduistischen Göttin Kali, die in ihrer Eigenschaft als Göttin des Todes auch als die Schwarze Kali bezeichnet wird, und zugleich die lebensspendende Mahadevi Shakti ist.
Wie den Labyrinthen wird auch den Spiralen, die bereits aus der europäischen Megalithzeit bekannt sind, derselbe Bedeutungszusammenhang von Abstieg und Rückkehr aus dem Totenreich zugeschrieben.

Maria Fisahn, Großes Bewegungsbild, Foto: Maria Fisahn

Auch begegnen uns andere Symbole aus der Vorgeschichte, die eng mit dem Thema des Todes und der Transformation verbunden sind.
Schon aus dem neolithischen Catal Höyük sind stark stilisierte menschliche Gestalten bekannt, die Arme und Beine gespreizt halten. Diese Haltung lässt sich zurückführen auf die Haltung der Großen Muttergöttin während der Geburt. Doch steht die Große Mutter der anatolischen Jungsteinzeit nicht nur für Fruchtbarkeit, sie ist auch die Herrin der Tiere, der Skorpione und Leoparden, also der todbringenden Aspekte der Natur. Wie Kali und Persephone schenkt sie nicht nur das Leben, sondern herrscht auch über den Tod.
Ebenso universell als Symbol der Wiedergeburt ist die Schlange, als Ouroboros oder Uräus-Schlange in Ägypten und Griechenland oder als Zhulong (豬龍) in der Hongshan-Kultur des chinesischen Neolithikums. Tatsächlich ist die Schlange auch weltweit mit verschiedenen Fruchtbarkeitsgöttinnen assoziiert, wie mit den sumerischen Göttinnen Tiamat und Ereškigal, der ägyptischen Ashera, der kretischen Schlangengöttin, der griechischen Demeter oder der aztekischen Ixchel.

Aus schamanistischen Kontexten hingegen stammen die Leitern, die einen Aufstieg der Seele in das Reich der Geister ermöglichen sollen und im Kontext der Buchreligionen wiederkehren als die Himmelsleiter.

Maria Fisahn, Großes Bewegungsbild, Foto: Fred Dott

Ein weiteres Element, das in dem Werk Maria Fisahns immer wiederkehrt, sind Augen. Im alten Ägypten war das (linke) Horus-Auge mit dem Mond assoziiert, der mit seinen Phasen ein universelles Symbol für den Zyklus von Tod und Wiedergeburt ist. Das Horus-Auge diente im Neuen Reich entsprechend als magisches Symbol, mit dem Sarkophage und Grabbeigaben verziert wurden.
Auch das (rechte) Auge des Re lässt sich in einen analogen Zusammenhang bringen. Im „Mythos vom Sonnenauge“, auch als „Die Heimkehr der Göttin“ bekannt, zieht sich die Trägerin des Auges von Re, die Göttin Sopdet, später auch Tefnut genannt, die mit dem Sirius gleichgesetzt wird, nach einem Streit mit anderen Göttern aus Ägypten zurück. Sie bleibt 70 Tage verborgen im östlichen Land Utenet, bis sie von den Göttern zu einer Rückkehr überredet werden kann. Mit sich bringt sie die Nilschwemme und damit die Fruchtbarkeit. Die Parallelen zum Mythos von Persephone, Hades und Demeter liegen auf der Hand.

Maria Fisahn, Ausstellungsansicht FAdK, 2024, Foto: Fred Dott

Das Symbol des Auges bleibt im Werk von Maria Fisahn jedoch nicht klar abgegrenzt. Deutlich findet ein Spiel mit dessen stilisierter Form statt, die einerseits der Gestalt der bereits genannten Boote ähnelt, andererseits wie ein Samenkorn oder ein Kern anmutet.

Mit dem Samenkorn berühren wir wiederum einen Symbolzusammenhang, der seit dem neolithischen Kontext bis zum Christentum Bestand hat: Das Korn, das der Erde und dem Tode überantwortet wird, um schließlich auszutreiben und neues Leben hervorzubringen. So heißt es im ersten Korintherbrief des Paulus: „Was du sähst, wird nicht lebendig, wenn es nicht zuvor stirbt.“ (1. Korinther, 15,36). Der Tod wird hier ganz konkret genannt als Vorbedingung des Lebens.

Maria Fisahn bringt auch noch eine weitere Lesbarkeit der Form des Samenkorns ins Spiel: Die offenkundige Ähnlichkeit von Samenkorn und Vulva, die schon Jahrtausende vor Gustave Courbet als Ursprung der Welt begriffen wurde und zu den ältesten Motiven der paläolithischen Höhlenkunst zählt, wie z.B. in der Höhle von Chauvet, in der ein solches Relief auf 45.000 - 35.000 v. Chr datiert wird.

Maria Fisahn, Pigmentmembrane, Foto: Maria Fisahn

Vor dem Hintergrund dieser sich vielfältig überschneidenden Symbole werden auch die komplexen Bedeutungszusammenhänge der Arbeiten sichtbar, die Maria Fisahn auf Membranen entstehen lässt. In Performances werden auf den Objekten, die stark an schamanistische Rahmentrommeln erinnern, Kerne und Samenkörner, die zuvor mit Farbpigmenten bestäubt wurden, durch Schläge zum Tanzen gebracht. So entstehen durch eine Umsetzung der kinetischen Schwingungen der Schläge auf das Trommelfell Farbspuren und Felder, die anmuten wie ein ursprüngliches Chaos, eine entfesselte, noch nicht gestaltete, oder eine sich gerade erst selbst formierende Energie, ein neu geborener, durch Resonanz geformter Kosmos.

Maria Fisahn, Planet Blues, Foto: Maria Fisahn

Eine andere Werkgruppe scheint nur auf den ersten Blick aus diesem großen thematischen Feld auszuscheren: Maria Fisahns Kunstgeld. Doch denkt man über Geld unter energetischen Gesichtspunkten nach, sehen wir auch hier einen Transformationsprozess, an dessen Beginn eine reale Handlung steht, deren energetisches Potenzial sich durch ein Stück Papier in einen völlig anderen Zusammenhang übertragen lässt. Wir haben ein Diesseits und ein Jenseits des Geldscheins, die jedoch miteinander verknüpft sind. Das Geld wird zu einer Übergangsmetapher; es wird zu der Idee eines energetischen Übertragungsprozesses, der analog zum Konzept der Wiedergeburt gedacht werden kann.
Eine andere, noch konkretere Verknüpfung des Kunstgeldes mit dem Thema Tod und Nachleben stellt die große Ähnlichkeit mit chinesischem Totengeld dar, das bei Gedenkzeremonien verbrannt wird, um den Verstorbenen im Totenreich ein gutes Leben zu ermöglichen.

In der Summe führt die künstlerische Meditation über den Zusammenhang von Leben und Tod, den Maria Fisahn in ihren Arbeiten erforscht hat, zu der Vorstellung, die auf metaphysischer Ebene mit dem Energie- und Informationserhaltungssatz der Physik korrespondiert. Jede Handlung bewirkt einen energetischen Impuls mit einer spezifischen Signatur, die durch ein Medium fortwirkt und zu neuen Formierungsprozessen führt. Nichts geht verloren, alles hinterlässt eine Spur, alles erzeugt Resonanz, nur die Form, in der die Materie auf diesem Weg vorübergehend geordnet wird, ist vergänglich.

Maria Fisahn, Großes Bewegungsbild, Foto: Fred Dott

So sehen wir im Kern eines vielfältigen Werkzusammenhangs eine grundlegende Erkenntnis aufscheinen, die die Grenzen herkömmlicher religiöser Modelle transzendiert und dennoch die Todesangst zu lindern vermag:
Die Idee des Todes lediglich als transformative Durchgangsstation in einem Kosmos der Verschränkung, der Wechselwirkung und Resonanz.

©️Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, Hamburg, Juni 2024































Freitag, 24. Mai 2024

Neuer Kurs der Schreibwerkstatt in Hamburg ab dem 10. Juni 2024

Liebe Literaturfreund*innen!

Am Montag, den 10. Juni 2024, startet die Schreibwerkstatt Das Textprojekt mit einem neuen Kursabschnitt: „Modul 2 - Die Textarbeit:  Eine Geschichte wird lebendig“. 
Neueinsteiger und Schreibanfänger sind ausdrücklich willkommen!

Wir werden uns damit beschäftigen, wie man eine Geschichte am angemessensten und effektvollsten in einen Text umsetzt, aus welchen Elementen ein Textkörper bestehen kann und wie man ihn formal zu einem dramaturgisch kohärenten Ganzen zusammenfügt.

Die kursbegleitenden Hausaufgaben bestehen vor allem aus akuten Schreibaufgaben, in denen die verschiedenen Erzähltechniken mit ihren spezifischen Effekten ausprobiert und verglichen werden können.

Die Themen im Einzelnen:
• Textkörper und Textarten • Triggern • Beschreibung • Narrative Schilderung • Narrative Zusammenfassung • Akute Handlung • Dialoge • Innenschau • Überleitungen • die verschiedenen Erzählperspektiven • Szenendramaturgie • Handlungschronologie • Rückblenden • Narratives Tempus • Erzähltempo • Intellektuelle und sinnliche Resonanz • Originalität der Beobachtung


Kursdauer: 2 Monate (8 Doppelstunden)
Termin: Montag 19:30 - 21:30
Teilnahmegebühr: 240,- / 200,- € ermäßigt
Teilnehmerzahl: max. 10

ACHTUNG - Neuer Ort:

DFI - Design Factory International / Kampstraße 15 / Schanzenviertel

Ich freue mich auf Eure Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de 

Mit herzlichen Grüßen,
Thomas Piesbergen
 

 

Donnerstag, 14. März 2024

Neuer Kurs der Schreibwerkstatt ab dem 8. April 2024

Liebe Literaturfreunde*innen!

Am 8. April 2024 beginnt ein neuer Kursabschnitt 1 der Schreibwerkstatt "Das Textprojekt".

Der Kursabschnitt 1 "Von der Idee zum ersten Entwurf" wendet sich vor allem an Schreibanfänger*innen, aber auch an Schreibende, die ihre handwerklichen Fertigkeiten verbessern wollen.

Inhaltlich werden wir uns mit literarischen Grundkonflikten beschäftigen, mit der Gestaltung lebendiger Charaktere, dem Entwurf überzeugender und packender Handlungsverläufe und deren Struktur sowie allgemeinen dramaturgischen und handwerklichen Problemen.

Die Unterrichtseinheiten werden begleitet von Hausaufgaben, in denen die Teilnehmer*innen die erlernten Techniken ausprobieren können - gerne auch im Rahmen eigener, bereits vorhandener Projekte. Die so entstandenen Texte werden in der Gruppe besprochen. Alles darf, nichts muss...

ANMELDUNG per E-Mail: thomas.piesbergen (at) gmx.de

Die Themen im Einzelnen:

• Schreibmotivationen
• Authentizität und Fiktion
• Schreibmethoden
• Literarische Reduktion: Themen und Prämissen
• Konflikte und Transformation
• Charaktere: Protagonist und Antagonist
• Charaktere: Nebenfiguren und Dritte Kraft
• Charaktertiefe
• Charakterisierung
• A-, B- und C-Story
• Konflikte und ihre Entwicklung
• Akute Konfrontationen und verdeckte Konflikte
• Entwurf des Handlungsverlaufs: „Schicksalskurven“
• Gliederungsschemata: Dreiakter, Heldenreise, Regeldrama u.a.
• Struktur: Szenen, Schwellen, Spiegelungen, Motive
• Mechanismen der Eskalation
• Plot und Gegenplot
• Spannung erzeugen
• Das Setting
• Schauplätze
• Schreibhemmungen


Ort: Atelierhaus Breite Straße 70
Kursdauer: 2 Monate (8 x 2 Stunden)
Teilnahmegebühr: 200,- € / ermäßigt 160,- €
Zeit: Montags 19:30 - 21:30



Montag, 22. Januar 2024

Die Verflechtungen des Noch-Nicht-Gewordenen - Einführung in die Jahresaustellung "Andere Verhältnisse" des BBK Hamburg von Dr. Thomas Piesbergen


 

Für die diesjährige Ausstellung des BBK unter dem Titel „Andere Verhältnisse“ haben sich die Kurator*innen, angesichts einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät und erfüllt ist von dystopischen Narrationen, von dem Philosophen Ernst Bloch und seinem Begriff der Utopie inspirieren lassen.

Nach Bloch ist der Mensch ausgestattet mit einem Überschuss an nicht realisierten Möglichkeiten, die ihn als „Bedeutungshof“ umgeben. Er selbst befindet sich hingegen in dem „Noch-Nicht-Gewordenen“, das er als Mangel empfindet.
Das Empfinden dieses Mangels im Kontrast zu dem utopischen „Bedeutungshof“ des Möglichen bringt den Menschen jedoch, in Blochs Worten, „auf den Weg“. Diesen Weg bezeichnet er als „Tertium“, als ein Drittes Element zwischen dem Nicht-Mehr-Sein und dem Noch-Nicht-Sein. Das Tertium kann also nur verstanden werden als ein Prozess, der für Bloch, ausgehend von seinem marxistischen Hintergrund, immer mit der Idee des Fortschritts verbunden ist.
Mensch und Gesellschaft sind also „noch nicht bei sich angekommen“ und bewegen sich unentwegt auf einen Möglichkeitsraum zu, der sich in verschiedenen utopischen Gesellschaftsentwürfen, in der Musik, der Kunst und den Tagträumen abbildet. Diese antizipierten Möglichkeiten, die in Handlung überführen, nennt Bloch „konkrete Utopien“, die sich schließlich in einem „breiten, elastischen, völlig dynamischen Multiversum“ realisieren sollen.

Doch wenn Bloch dieses Tertium als einen Prozess des Werdens bezeichnet, ist es notwendig, sich mit der Bedingtheit und der Natur gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse eingehender zu beschäftigen.

Das hat vor allem der Soziologe Norbert Elias mit seinem Werk „Der Prozess der Zivilisation“ getan. Nach ihm verlaufen alle Bewegungen der menschlichen Kultur in Form sogenannter „Figurationen“. Darunter versteht er komplexe, prozessuale Geflechte von Beziehungen und Abhängigkeiten, die kulturelle Erscheinungen in einem Kontinuum von der individuellen Psychologie bis hin zu Staatsgefügen formieren.  Die gesellschaftlichen Manifestationen können niemals unabhängig vom Individuum gedacht werden, noch als statische Erscheinungen, sondern sie gehen hervor aus der Summe der Handlungen voneinander abhängiger Individuen. Weder ist es nach Elias möglich, sich Institutionen oder Staaten als eigenständige Strukturen, noch Individuen als isolierte Entitäten zu denken, denn der Einzelne, unabhängig von seinen Beziehungen zu anderen Individuen, ist für Norbert Elias nicht denkbar. Die Individuen konstituieren sich einzig und allein durch ihre dynamischen Beziehungen zueinander, ihre sog. Interdependenzen, und bilden so vernetzte Ensembles aus Selbstwahrnehmung und Menschenbild, Verhaltensregeln, Zeitgeist, Religionen, Hierarchien und sozio-ökonomischen Organisationsformen.Thomas Mann schrieb dazu in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen: „Die Persönlichkeit, nicht die Masse, ist die eigentliche Trägerin des Allgemeinen.“

So wie gesellschaftliche Institutionen formierend auf das individuelle Handeln wirken, ist der gesellschaftliche Kontext auch immer an dem originären individuellen Handeln ablesbar.
Dementsprechend bilden sich Figurationen sowohl auf der kulturellen Mikro- wie auf der Makro-Ebene ab, sowohl in der individuellen Psychologie und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten als auch in der Staatsform und können auf all diesen Ebenen beobachtet werden.

Hier offenbart sich nun die zeitgenössische Kunst als ideales Mittel, um sich den Figurationen unserer Gesellschaft und den darin verlaufenden, dynamischen Prozessen zu nähern. Denn die Kunst hat schon lange aufgehört bloß abbildend zu sein. Schon lange reflektiert sie das ganze Spektrum von ihren formalen und materiellen Bedingungen, ihrer eigenen Medialität und ihrem gesellschaftlichen Kontext, den Prozessen ihrer Aneignung und Verwertung, bis hin zu dem individual-psychologischen Blinden Fleck der Künstler*innen, der ihr Ausgangspunkt ist. All dies überführt sie in konkrete Handlung
So ist sie nicht nur ein idealer Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch das, was Ernst Bloch als „Heimat“ bezeichnet, denn für ihn ist Heimat kein Ort ist, sondern eine Perspektive, die Zielrichtung der Hoffnung. „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause.“.

Vor diesem theoretischen Hintergrund möchte ich nun die einzelnen künstlerischen Positionen dieser Ausstellung kurz beleuchten.

 

Jadranko Rebec, "Painted Puzzle"

Mit seiner Arbeit „Painted Puzzle“ verwirft Jadranko Rebec gleich mehrere der traditionellen Vorstellungen, was Kunst sei. Zunächst kehrt er sich ab von der Vorstellung des vollendeten Kunstwerks. Das „Painted Puzzle“ befindet sich seit 2019 in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess, es ist ein Stück Work-in-Progress und die Interaktion von Künstler und Werk kann präzise mit dem Nicht-Mehr-Sein und dem Noch-Nicht-Sein der Bloch’schen Terminologie bezeichnet werden. Doch es ist nicht nur auf dieser Ebene unvollendet. Das Noch-Nicht-Gewordenen setzt sich fort auf der Ebene der Rezeption, denn durch die Möglichkeit, die einzelnen Bildelemente zu bewegen, ist das Werk nicht nur für den Künstler stets unvollendet, sondern auch für die Rezipient*innen, die selbst die Beziehungen der einzelnen Bildelemente ändern können - und sollen. Erst wenn die unbegrenzten Möglichkeiten der Anordnung des Painted Puzzles aktiv erforscht werden, tritt das Werk in einem stetigen Formierungsprozess ganz zutage.
Diese Beziehung zwischen Betrachter*innen und Werk stellen zugleich die grundlegenden Figurationen kulturellen Konsums und dessen Hierarchie in Frage. Die Betrachter*innen, denen üblicherweise verboten ist, Ausstellungsstücke zu berühren, werden hier konkret dazu aufgefordert, und überwinden dadurch ihre hierarchische Position als bloße Konsument*innen. Sie selbst werden schöpferisch aktiv und vervollständigen das Werk durch ihre Beteiligung. Dadurch relativieren sie die hierarchiegenerierende Urheberschaft des Künstlers. Wir erleben eine utopische Demokratisierung der Kunst.


Jaques Sehy, "Alles Banane"

Auch Jaques Sehy bricht mit seiner Arbeit „Alles Banane“ aus dem traditionellen Bezugsrahmen der Kunst aus, in dem er alte Bananenschalen als Material nutzt. Dabei entstehen Kompositionen, die an Kalligrafien oder abstrakte Tuschzeichnungen erinnern.
In dem er den Bezugsrahmen ändert, führt er eine kulturelle Umdeutung herbei. Etwas, das sonst lediglich als Abfall wahrgenommen wird, wird einzig und alleine durch den Umstand der Ausstellung zu einem Kunstwerk. In der Bloch’schen Terminologie könnte man sagen, dass Sehy durch die Präsentation der Bananenschalen deren sonst unsichtbaren Bedeutungshof konkretisiert und sichtbar gemacht hat, sowie den Prozess, der dazu notwendig war.


Martin Conrad, "Wie sie die offene Ebene / Der schlafende Apoll"

Für Martin Conrad wiederum steht der intuitive Werkprozess, in dem sich die konkrete Utopie offenbart, im Vordergrund. Er lässt sich nach einem ersten, vom Unbewussten ausgelösten Gestaltungsimpuls leiten, von den Leerstellen zwischen den Bildelementen, und entwickelt seine Arbeiten in einem ergebnisoffenen Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion. Für die Arbeit „Wie sie die offene Ebene / Der schlafende Apoll“ ließ er sich inspirieren von dem Bild „Der schlafende Apoll“ des Renaissancemalers Lorenzo Lotto. Während der Gott im Wald träumt, tanzen die nackten Musen auf einer Wiese im Hintergrund. Zu seinen Füßen sind deren farbige Kleider ausgebreitet.
Im Sinne Blochs, der auch den Tagtraum zu den konkreten Utopien zählt, können wir die umgedrehte Leinwand, die das Zentrum der Arbeit bildet, als den von Apoll herbeigeträumten Möglichkeitsraum lesen, aus dem die Arbeit suksessive hervorgegangen ist und der sich auch in der Vorstellung der Betrachter*innen öffnet, die sich fragen mögen, was sich auf der Vorderseite der Leinwand verbirgt.


Lena Oehmsen, "Winterlandschaft"

Lena Oehmsen, "Waldlandschaft mit See"


Lena Oehmsen hingegen setzt sich ganz konkret mit den Interdependenzen ihrer persönlichen Lebenssituation und den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs auseinander, sie weist auf einen faktischen Mangel hin, also auf etwas Noch-Nicht-Gewordenes, und setzt die daraus erwachsende konkrete Utopie in ihrem künstlerischen Prozess um, mit dem sie schließlich durch Sichtbarmachung des Mangels dazu beitragen will, denselben in einem möglichen künftigen, untopischen Szenario zu überwinden. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes musste sie mit der Tatsache umgehen, dass, wie Larissa Kikol schrieb, einem alkoholkranken Künstler immer noch mehr zugetraut wird, als einer gesunden Künstlerin mit Kind.
Anstatt, wie oft üblich, ihre Elternschaft möglichst unsichtbar zu machen, rückt sie sie ins Zentrum ihres Kunstschaffens. So basieren die Graphen ihrer „Winterlandschaft in Berlin“ auf den Fieberkurven ihres Sohnes im Verlauf eines Winters.
Die „Waldlandschaft mit See“ wiederum entstand aus der Aufzeichnung ihrer nun dramatisch fragmentierten Arbeitszeiten. Für diesen isolierten Werkzusammenhang scheint die Verwirklichung der konkreten Utopie geglückt, doch für die Figuration des noch immer patriarchalisch geprägten Kunstbetriebes, in den das künstlerische Konzept hinein wirken soll, muß leider nach wie vor gelten, dass er vorwiegend im Noch-Nicht-Gewordenen steckt.

Während Ernst Bloch die Realisierung der konkreten Utopien immer als einen zielgerichteten Fortschritt begreift, lehnt Norbert Elias diese Idee ab, ebenso wie der von ihm beeinflusste Soziologe Anthony Giddens. Beide gehen vielmehr davon aus, dass die Handlungen der Vielen auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene Interdependenzgeflechte und damit kulturelle Erscheinungen und Strukturen hervorbringen, die nichts mit den Absichten der Individuen zu tun haben müssen. In diesem Sinne kann man die „Erfindungen für eine bessere Welt“ von Stefan Oppermann lesen.
Auf seinen Zeichnungen sehen verschiedene Figuren, die durch ihre schematische Darstellung als über-persönlich verstanden werden können. Sie sind jeweils mit irritierenden, fremdartigen Objekten verstrickt, deren Funktion, Sinn und Unsinn obskur bleibt. Deutlich wird nur: Die hinter ihnen stehende Absicht, mit ihnen eine bessere Welt zu gestalten, ist offenkundig gescheitert. Mittels einer hochkomplexen Technik wurden hier Dinge erschaffen, die sich vollständig von den eigentlichen menschlichen Bedürfnissen gelöst haben, den Menschen aber dennoch in ihre Strukturen zwängen. Sie stehen für die gut gemeinte Utopie, die sich durch Entfremdung vom Menschen in eine höchst unbequeme Dystopie gewandelt hat.

 

Kai Brüninghaus, "Diffusionisten: A time capsule beyond reality"

Das Projekt „Diffusionisten: A time capsule beyond reality“ von Kai Brüninghaus greift ein derzeit virulentes Thema auf: das Generieren von Bildern mit KI. Im Internet frei zugängliche Bildgeneratoren vermitteln zahllosen Menschen erstmals das Gefühl, ihren visuellen Möglichkeitsraum aktiv erkunden zu können, Noch-Nicht-Gewordenes werden zu lassen und die Utopie künstlerischen Schaffens realisieren zu können. Zugleich wird die dystopische Seite dieser Entwicklung aufgezeigt, in dem die KI-generierten Bilder des Künstlers vermeintlich authentische Fotografien von technischen Errungenschaften in einer alternativen Vergangenheit zeigen. Die mediale Selbstreferenz wird unterstrichen durch die Präsentation der Bilder in einem altmodischen Fotoalbum. In diesem Zusammenhang erscheint die bildgenerierende KI selbst wie eine „Erfindung für eine bessere Welt“, die nicht nur eine Demokratisierung der Bildproduktion hervorbringt, sondern die zugleich tiefe Löcher in unser Verhältnis zu Bild und Wirklichkeit reissen wird.


Ursula Steuler, Hatun Demir, "Suche: Weises bettuch"


In der Arbeit „Suche: Weises bettuch“ von Ursula Steuler, die sie in Kooperation mit der Kurdin Hatun Demir erstellt hat, wird eine ganz konkrete Figuration behandelt, die Norbert Elias die Figuration von Etablierten und Aussenseitern nennt. Hatun Demir fertigt schon seit Jahren Näh- und Stickarbeiten für Ursula Steuler aus. Die traditionelle Handarbeit, die zudem weiblich konnotiert ist, wird ganz nach der Logik der genannten Figuration der Aussenseiter, von ihr selbst aber als minderwertig angesehen und im Privaten verborgen, da sie nicht aus dem Kontext der deutschen Kultur entstammt, an den sie sich anpassen möchte. Zugleich ist die Rolle der Aussenseiterin nicht frei gewählt. Dieser Ist-Zustand der Selbstabwertung, des Bloch’schen Noch-nicht-bei-sichAngekommenen“, nutzt Ursula Steuler, um mit dem mehrdeutigen Satzfragment „Ich würde“ die Frage nach einer individuellen Utopie zu stellen und damit den Möglichkeitsraum dessen, der den Satz vervollständigt, Gestalt annehmen zu lassen. Damit korreliert auch die formale Ebene. Etwas, das zuvor privat und unsichtbar war, nämlich eine abgewertete Handarbeit, wird öffentlich und findet zu einer Stimme.

Denselben Weg schlägt auch Bojana Fuzinato mit der Arbeit „Privat und /oder öffentlich“ ein. Bei ihr übertritt ein Stück Stoff, das ihre Großmutter gewebt hat, die Schwelle vom Privaten zum Öffentlichen. Hier betont die Wahl des Materials aber noch einen anderen Bedeutungsraum. Webarbeit ist traditionell eine häusliche, und deshalb in den meisten Kulturen eine weibliche Tätigkeit. Noch in Kontexten, in denen wir die progressiven Bestrebungen der Moderne beheimatet sehen, wie z.B. im Bauhaus, wurden Künstlerinnen wie Anni Albers, Gunta Stölzl oder Otti Berger in die sog. „Frauenklasse“ verbannt, in der uasschließlich gewebt wurde. Die Ergebnisse wurden nicht als Kunst betrachtet, sondern als dekorative Vorlage für die industrielle Produktion.
Indem Bojana Fuzinato Fetzen des als weiblich und privat gewerteten Materials mit Kunstharz fixiert und so zum Objekt werden lässt, behauptet sie dessen Wertigkeit als Kunstwerk und macht, durch den eingestickten Verweis auf ihre Großmutter, auf die Verhältnisse aufmerksam, die dem weiblichen Kunstschaffen die gerechtfertigte Anerkennung generell verweigern und dadurch Figurationen schafen, in denen die Frauen selbst die Bedeutung ihrer Arbeit oft nicht wertzuschätzen wissen.

Anna Bochkova richtet ihre künstlerische Befragung an das Verhältnis zwischen Mensch und Raum, das sich, in der Terminologie Pierre Bordieus als „strukturierende Struktur“ manifestiert, als ein rückgekoppelter Prozess, in dem der Mensch seine Umwelt gestaltet und von ihre gestaltet wird. Werkinhärent wählt sie für ihre Arbeit „Alien Commitment“ dabei nicht den Blick Blochs auf das Individuum, das Veränderungen herbeiführt, in dem es seine persönliche konkrete Utopie ausagiert, sondern sie bricht den gleichförmigen kulturellen Reproduktionsprozess, in dem sie Modelle eines spekulativen Raums schafft, der den Menschen dazu nötigt, andere, noch-nicht-gewordene Handlungsroutinen und Beziehungsgeflechte zu entwickeln. Da der Raum auch immer ein Teil non-verbaler Kommunikation ist und Beziehungen und damit die Figurationen der erlebten Wirklichkeit nur in der Kommunikationn in Erscheinung treten, erwirkt ein neuer räumlicher und materieller Kontext auch immer eine Veränderung der menschlichen Verhältnisse. Doch ob diese Verhältnisse schließlich utopischen oder dystopischen Charakter haben werden, lässt Anna Bochkova durch die Fremdartigkeit der Modelle ihres spekulativen Raums bewusst offen.


Anna Goldmund, „Homo absconditus"

Auch Anna Goldmund beschäftigt sich mit der Interdependenz von Mensch und Raum, wobei der Raum sowohl konkreter Handlungsanlass wie auch Metapher ist. Der Titel der Arbeit „Homo absconditus“, ist der Terminologie des Philosophen Helmuth Plessners entlehnt und bedeutet „der unergründliche“ oder „der verborgene Mensch“. Sie besteht aus einem hellen, perforierten Stoffkubus, der sowohl die Anmutung eines Kokons hat, als auch, seiner provisorischen Bauart wegen, an Notunterkünfte in Flüchtlingscamps denken lässt. Performativ bespielt durch die Künstlerin wird er zu einem Ort des Transits und der Transformation. Dabei kommt der Heimatbegriff Ernst Blochs ins Spiel, für den Heimat kein Ort ist, sondern die Zielrichtung der Hoffnung. „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause.“
Der Kubus wird zum ephemeren, durchlässigen Gehäuse des auf die utopische Heimat zudenkenden Menschen, der sich zugleich, stets im Werden befindlich, allen Fremdzuweisungen und statischen Definitionen entzieht.


Janine Gerber, "Papier Raumkörper"

Mit der Performance „Papier Raumkörper“ setzt Janine Gerber den Prozess zwischen Nicht-Mehr- und Noch-Nicht-Sein ganz konkret in Szene. Indem sie eine große Papierbahn entrollt, sich mit ihr bewegt und dadurch einen sich stetig wandelnden Raumkörper schafft, der im Sinne einer strukturierenden Struktur wieder auf ihren Körper und die gestaltenden Bewegungsabläufe zurückwirkt, entwirft sie nicht nur ein Bild des Menschen, der den eigenen Möglichkeitsraum erforscht. Sie veranschaulicht auch den Umstand, dass das handelnde Individuum in diesem Prozess zwar im Rahmen seiner Verhältnisse einer konkreten Utopie folgen kann und die Verhältnisse dadurch zu Nicht-Mehr-Seienden und Noch-Nicht-Gewordenen wandelt, dennoch aber in größerem Zusammenhang Erscheinungen und Strukturen hervorbringt, die von den ursprünglichen Absichten des Individuums entkoppelt sein können, wie Norbert Elias und Anthony Giddens es beschreiben. So vollzieht ihr Körper im subjektiven Erfahrungsraum gestische Abläufe im unmittelbar erlebten Raumkörper aus Papier; die Gesamtheit des Prozesses und dessen Ergebnis bleiben ihr aber, solange sie sich im performativen Vollzug befindet, verborgen. So entsteht ein Ganzes, das jenseits ihrer individuellen Absicht liegt.

Eine ganz ähnliche Bewegung dokumentiert die Arbeit „on-and-on“ von Anne Dingkuhn. Ihre Medien jedoch sind nicht Körper und Papier, sondern das nach Orientierung suchende Bewusstsein und die es umgebenden Zeichen- und Symbolsysteme, die Norbert Elias als das „Sozio-Symbolische Universum“ bezeichnet, das als fünfte Dimension die vier Dimensionen der Raumzeit ergänzt. Bei der Erkundung des Möglichkeitsraums dieser Sphäre geht Anne Dingkuhn nicht rational-analytisch vor, sondern fängt die Symbolströme in der intuitiven Zone des Tagtraums ein, in der sich nach Bloch ebenfalls die konkreten Utopien abbilden. Mit der Installation zwei sich stetig drehender Erlenäste, die auf neurale Dendriten anspielen, erleben wir, wie sich diverse Zeichen aus dem sozio-symbolischen Universum in immer neuen, zufälligen Konstellationen anordnen und sich vielleicht zu bedeutsamen Mustern verbinden, die neue Perspektiven öffnen können und vielleicht auch jenseits des subjektiven Denkraums in die konkrete Aushandlung einer neuen Utopie führen können.


Vivi Linnemann, "Seeing Green"

Vivi Linnemann wiederum beschäftigt sich in ihrer Arbeit „Thinking Green“ mit dem Phänomen der Formierung utopischer Denk- und Handlungsmuster auf gesellschaftlicher Ebene. Einerseits sind viele Handlungsweisen, die noch vor 40 oder 50 Jahren als utopisch galten, wie die Anerkennung queerer Identität oder umweltbewusstes Handeln, inzwischen von vielen Menschen informalisiert worden, also jenseits eines Reglements erfolgreich in die Sphäre persönlicher Verantwortlichkeit übertragen worden, oder, um in Blochs Terminologie zu bleiben, zu einer Heimat im Sinne einer zielgerichteten Hoffnung geworden; andererseits zeitigen diese Veränderungen auch eine Instrumentalisierung dieser neuen Mindsets. Unternehmen spiegeln vor, verantwortlich zu handeln und dem Individuum einen Teil der Verantwortungslast abzunehmen, wie z.B. bei der Praxis des Greenwashings. Trotz dieser gezielten Täuschung tragen auch sie dazu bei, unserer Sicht auf die Welt einen neuen Rahmen zu geben, auch wenn unsere Handlungsweisen oft noch in Kontexten verstrickt sind, die wir bereits als obsolet erkannt haben.
So bietet uns auch Vivi Linnemann einen Rahmen an: Er ist Grün wie die Hoffnung, dennoch stammt er offenkundig aus einer Welt, in der Plastik allgegenwärtig ist. Aber immerhin ist es recyceltes Plastik, das uns ein Fenster zu dem Noch-Nicht-Gewordenen öffnen möchte.

Nach der Prozesstheorie Elias’ korreliert ein Wandel der Verhältnisse auch immer mit einem Wandel des Individuums, da sich beide gegenseitig konstituieren. Folgerichtig werden Fragen zu der Rolle des Individuums in sich wandelnden Verhältnissen aufgeworfen: Wie weit kann der Mensch sich ändern? Ist diese Wandlungsfähigkeit Schwäche oder Stärke? Wann deuten wir die menschliche Anpassung als Sieg, wann als Niederlage? Kann sie Ergebnis des freien Willens sein, oder ist sie immer ein Sich-Fügen unter Zwang? Jared Bartz stellt dazu ein Ready-Made aus, einen Ast, der in einem unnatürlich anmutenden Winkel von nahezu 90° seine Wachstumsrichtung geändert hat. Und natürlich fragen wir uns: Welche Umstände haben zu diesem Wachstum geführt? Sehen wir vor uns ein Opfer dieser Umstände oder ein Zeichen der Hoffnung, dass ein Richtungswechsel ohne Verlust der eigenen Stärke möglich ist?

In den Graphitzeichnungen der Serie „Zwischenleben“ von Christiane Brey zeigt sich der diffuse Zustand menschlichen Selbstverständnisses auf der Suche nach einer neuen, utopischen und ganzheitlichen Beziehung zur Welt. Denn das Individuum versucht nicht nur sich in seinen persönlichen Beziehungen, seinen ökonomischen oder politischen Verhältnissen zu manifestieren, sondern es sucht auch nach einer ganzheitlichen und unmittelbaren Verbindung mit dem Sein, mit der Welt. So sehen wir ihre Figuren, durchdrungen von Himmel und Wolken, sich mal in das eigentlich Unerreichbare recken, mal von der Erdanziehungskraft gebeugt. Wir sehen die Füße fest auf dem Boden ruhen. Die Körper, selbst wenn sie sich im Ephemeren aufzulösen scheinen, sind von einer überraschenden Massigkeit. Diese Polarität gemahnt an das Menschenbild des Thomas von Aquin, der uns Menschen als im Wandel befindliche Wesen begreift, die sich, auf dem Weg zur christlichen Utopie des Paradieses, auf einer Stufe zwischen Tier und Engel befinden.

 

Miriam Breig, o.T.

Auch Miriam Breig wendet sich auf ihren „Tableaus des Anderen“ der Unsicherheit zu, die hervorgerufen wird durch ein wachsendes Bewusstsein für die nahezu unüberschaubaren Interdependenzen, in die wir verstrickt sind. Die Illusion der Kontrolle unserer Verhältnisse scheint schon zu scheitern an der Übermacht des Unterbewussten, das unseren Alltag mit seinen Bildern überformt und, wenn schon nicht dem Verstand, so doch dem Gefühl vermittelt, das Mensch und Welt ein Noch-Nicht-Gewordenes, ein Noch-Nicht-Bei-Sich-Angekommenes sind.

Während Ernst Bloch dem Menschen einen „Bedeutungshof“ der Möglichkeiten zuschreibt, geht der tschechische Literaturtheoretiker Lubomír Doležel, von dem sich Simone Kesting hat inspirieren lassen, von der Vorstellung aus, nicht nur wir, sondern unsere ganze Welt sei von unendlich vielen möglichen Welten umgeben.
Simone Kesting erforscht diese alternativen Welten zunächst zeichnerisch und sucht nach Spezies, die sich dort entwickelt haben könnten. Wären auch menschenartige Wesen die beherrschende Spezies, oder wären es Hohltiere, Stachelhäuter, Gliederfüßer oder Kolonien von Mehrzellern? Die Ergebnisse ihrer gezeichneten alternativen Evolution werden in Skulpturen umgesetzt, die bewusst mit irritierender Materialität spielen, um ihre Andersartigkeit zu betonen. Sie treten in den Rahmen der Ausstellung wie Botschafter aus einer Parallelwelt, die uns durch ihre bloße Anwesenheit verkünden: eine andere Welt ist möglich.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, Hamburg, Januar, 2024