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Freitag, 9. Juni 2017

Der Plural von "Jetzt" - Einführungsrede zur Ausstellung "Jessica Leinen - Dort könnte eine Minute gezählt werden" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Dort könnte eine Minute gezählt werden“ von Jessica Leinen findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment", Einstellungsraum e.V., Juni 2017

Ausstellungsansicht, Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Einstellungsraum 2017

Eine der ewigen Fragen der Philosophie, der Gesellschaftstheorie und der Psychologie ist die Frage nach Beschaffenheit der Lebenswirklichkeit des Menschen und nach ihrem Zustandekommen. Und da diese Frage immer wieder von neuem gestellt wird, gibt es darauf eine nahezu unüberschaubare Masse von Antworten.

Auffällig dabei ist, daß in allen Modellen und Hypothesen dem Verhältnis von Masse und Individuum eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird und sich die Modelle in vielen Fällen auf eine Beschreibung dieses Verhältnisses beschränken.
Entsprechend der 2. Antinomie der reinen Vernunft von Immanuel Kant sehen wir auf der einen Seite die Vorstellung der Realität als soziale Konstruktion, als das Produkt einer normativen Ordnungsmacht; dem entgegengehalten wird auf der anderen Seite das Primat individueller Freiheit, nach der die Realität das Ergebnis eines fortlaufenden autonomen Entscheidungsprozesses ist.

Je nach der subjektiven Haltung ihrer Schöpfer tendieren die Hypothesen mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung, aber immer versuchen sie, die beiden entgegengesetzten Pole, idiosynkratische Freiheit und regulierenden Konses, und ihren Einfluß auf das Zustandekommen unserer Lebenswirklichkeit gegeneinander auszuspielen oder miteinander abzugleichen.

Verlässt man jedoch diesen Diskurs und begibt sich auf die Ebene der Phänomenologie, in den Bereich des tatsächlichen Erlebens, stellt sich zunächst die Frage, wo und vor allem wann ereignet sich denn eigentlich diese Realität?

Nach der Newton´schen Auffassung, die bis heute den tradierten Konsens über das Wesen der Zeit bestimmt, wurzelt die Realität in den stetig anwachsenden Fakten einer auf immer entschwundenen Vergangenheit, die durch den verschwindend winzigen Brennpunkt der Gegenwart die noch nicht existente Zukunft terminiert. So sehen wir die Realität als einen stetig in der Zeit gleitenden, faktischen Prozess, der sich in einer unauslotbaren Tiefe der Vergangenheit verliert und sich in eine unerreichbare Zukunft erstreckt.
Wenigstens erscheint so der Fluß der Realität und die entsprechende Beschreibung der Gegenwart, wenn man sie von außen betrachtet.

Nehmen wir aber die phänomenologische Innenperspektive ein, müssen wir uns der grenzenlosen Unmittelbarkeit der Gegenwart stellen, dem singulären „Jetzt“, in dem alle Vergangenheit und alle Erinnerungen enthalten sind. Ihre Gegenwärtigkeit wirkt unmittelbar auf unser Tun ein. Das wiederum zielt zwar auf etwas Zukünftiges ab, doch auch dieses Zukünftige ist nichts anderes als eine Ausgestaltung gegenwärtiger Begierden, Ängste und Hoffnungen.
In „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ schreibt Marcel Proust über diese Gegenwärtigkeit der Realität: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein Krug, der mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt ist. Was wir Realität nennen, ist ein gewisser Zusammenhang zwischen diesen Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.

Wenn wir in unserer akuten Gegenwart wahrnehmen, erinnern, reagieren, planen und handeln, erleben wir es aus der Innenperspektive, unserem privaten literarischen „Ich“. Wir erleben es nicht bloß als ein stetes Gegenspiel von Norm und Autonomie, da wir, sofern wir uns nur anhand unserer individuellen Abgrenzung von der Gesellschaft definierten, unsere tatsächliche Individualität vollständig aufgeben würden.

Denn unsere Individualität wird nicht dadurch konstituiert, daß wir uns von der normativen Gesellschaft abgrenzen, und wie wir es tun, sondern dadurch was wir von ihr abgrenzen und warum, welche Handlungsimpulse uns dabei leiten. Autonomie ist nur eine leere Form, die erst durch ihren Inhalt relevant wird, durch die von uns erlebte reale Gegenwart, gesponnen aus Empfindungen und Erinnerungen.

Was sich in dieser erlebten Gegenwart verdichtet, plötzlich an die Oberfläche des Bewußtseins tretende Erinnerungsartefakte und ihre bedeutsame Wechselwirkung mit dem Wahrgenommenen, ist unsere Realität. Als Prousts Ich-Erzähler in das mit Tee vollgesogene Madeleine biss, fühlte er sich plötzlich vom Glück wie von einer köstlichen Substanz erfüllt, aber „diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.
Die Realität und die Identität fallen im akuten Erleben in einer alle Existenz umschließenden Einheit, unserer eigenen unermeßlichen Unmittelbarkeit der Gegenwart zusammen. So wie Raum und Zeit nicht zu trennen sind, sind auch Realität und Identität im Erfahrungskontinuum nicht voneinander zu trennen. Im Zen-Buddhismus wird dieses Zusammenfallen von Zeit, Realität und Identität als „Sein-Zeit“ bezeichnet.

Für Prousts literarisches „Ich“ war das süße, mit Tee vollgesogene Gebäck der Trigger, der die akute Erfahrung dieser „Sein-Zeit“ mit all ihrer vielschichtig präsenten Erinnerung ausgelöst hat.

Für uns kann  es eine sich bauschende Gardine im Wind sein; eine Höhlung am Fuße eines Baumes, der bereits lange abgesägt worden ist; der Geruch eines staubigen Dachbodens; das Gefühl von einem Seifenrest in einem nassen Waschlappen; die Form, die abgeplatzter Holzlack auf einem Regal in unserer Kindheit hinterlassen hat; ein bestimmtes Rumoren der Wasserleitung; der Schritt eines Menschen auf der Treppe, den wir unter tausend anderen heraushören könnten; die Hände unserer Eltern; der Traum der letzten Nacht, in den die Erinnerung an einen Traum tritt, den wir vor 20 Jahren geträumt haben.

Und in all das, in diese, durch akut Wahrgenommenes angetriggerte, unermeßlich komplexe Vernetzung von vergangenen Bildern, Empfindungen und Gefühlen, strömen die Eindrücke des jetzt Wahrgenommen ein und vermischen sich mit ihnen zu einem nur uns eigenen, uns konstituierenden, grenzenlosen, allumfassenden „Jetzt“.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

Doch dieses „Jetzt“, das unsere Lebenswirklichkeit und alle Erscheinungen darin umfasst, das hinausgreift und das ganze für uns erfahrbare und vorgestellte Universum umschließt, ist gleichzeitig etwas, das nur für uns existiert, das nicht mitteilbar ist und uns deshalb von allen anderen existenten Dingen isoliert.
Es ist dies unsere Individualität und das, was der Dichter Kurt Drawert als das „Unaussprechliche“ bezeichnet.

Wir erleben Dinge in einer Art, die uns einmalig und nicht mitteilbar erscheint. Doch da der Mensch ein kommunikatives und soziales Wesen ist, will und muß er dieses Unausprechliche in eine begriffliche Form bringen, um es sich selbst fassbar und anderen mitteilbar zu machen. Aus den Versuchen das Unaussprechliche auszusprechen entstand, in der Kluft zwischen den subjektiven Wirklichkeiten, die Poesie.

Mit der Poesie allerdings finden wir uns paradoxerweise wieder in einem normativen System: der Sprache. Denn erst die Sprache macht ein Überwinden der individuellen Isolation möglich durch ihre Eigenschaft zu generalisieren und einen Konsens zu begründen.

Mit ihren Mitteln wird aber nicht nur die Isolation der Individuen überbrückt, sondern auch die Zeit. Und damit treten wir gezwungenermaßen aus der unmittelbaren Innenperspektive des „Jetzt“ heraus. Wir abstrahieren, verallgemeinern, entwickeln objektive, auch jenseits des „Jetzt“ gültige empirische Systeme, und in dem wir unsere Erinnerungen und Erwartungen in eine newton´sche lineare Zeit projizieren, ordnen wir die Wirklichkeit in das  Davor und Danach der Kausalverkettungen.

Mit der Entwicklung von Schriftsystemen in den frühen Hochkulturen, mit denen der systematisierte Konsens schließlich auch physisch und damit unwandelbar tradiert werden konnte, wurde diese Außenansicht von Zeit und Realität endgültig manifest und konnte sich fortentwickeln bis hin zu den modernen Wissenschaften und ihrer Beschreibung der Wirklichkeit. Da diese Außenansicht unsere Kultur seit nunmehr fast 6000 Jahren begleitet und geprägt hat, haben wir gelernt. unser Ich und die Welt getrennt voneinander zu denken. Und wenn wir wahrnehmen, filtern und kategorisieren wir dem Konsens entsprechend.

Aber die unmittelbare Wirklichkeit, die bewußte und unaussprechliche Erfahrung des „Jetzt“ ist damit nicht verschwunden, sie ist nur verdrängt worden. Sie begleitet uns weiter, färbt unsere Wahrnehmungen vorbewußt ein, irritiert uns oder tritt in seltenen Momenten mit einer so plötzlichen Heftigkeit und Totalität hervor, daß James Joyce für diese Bewußtseinsereignisse den theologischen Begriff der Epiphanie gebrauchte.

Jessica Leinen hat den Versuch unternommen, diese Innenansicht des „Jetzt“ und die Bedingungen der identitären Wirklichkeit mit ihrer Arbeit zu untersuchen. Doch sie tut es nicht nach der Methode von Proust oder Joyce, die sich der Innenwelt mit einer radikal subjektiven Erzählhaltung bemächtigt haben. Sie arbeitet vielmehr auktorial, also als „allwissende Erzählerin“. (Ich erlaube mir bei dieser literarischen Terminologie zu bleiben, da sie selbst im Bezug auf ihre Arbeit von einer Narration spricht.)

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

Jessica Leinen übertritt die ideosynkratische Grenze des in dem eigenen „Jetzt“ isolierten Individuums, in dem sich Proust und Joyce ergehen, und wagt die Aufsicht, wagt die Vorstellung des Plurals von „Jetzt“, der Ballung zahlloser gleichberechtigter Unmittelbarkeiten. 
Genausowenig, wie sie den radikal subjektiven Weg gewählt hat, geht sie den generalisierenden Weg und verdichtet, wie es in der Kultur- und Gesellschaftstheorie sonst üblich ist, die einzelnen „Jetztheiten“ zu einer soziologischen Masse, die wiederum als eigendynamische Entität angesprochen werden könnte. 

Sie versucht weder einzelne, ideosynkratische Bezugssysteme kontrastierend nebeneinander zu stellen, wie die Vision des perfekten Schrebergartens neben die Studentenbuden-Idylle oder das Wohnatelier des Künstlers, noch zeichnet sie die großen Bewegungen nach, die sich aus dem Zusammenwirken der vielen individuellen Zuckungen ergeben.

Statt dessen läßt sie die isolierten „Jetztheiten“ nebeneinander stehen, fügt sie ein in kleine Häuser, in Rahmen aus Metall oder ausgehöhlte Schwämme, und versucht die Bedingungen, die die Individuen in ihrer Isolation teilen, und ihre Versuche, sich in einem idiosynkratischen „Jetzt“ zu orientieren und es mitteilbar zu machen, metaphorisch zu fassen.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

Ein Element, das dabei immer wieder auftaucht, sind kleine lackierte Bohnen, auf denen wir minimalistische Symbole erkennen können. Diese Bohnen sind oft mit dünnen schwarzen Drähten oder Garn miteinander verbunden, gern in Anordnungen, die an einen Stammbaum erinnern. Die Assoziation dieser Kennzeichnungen und Vernetzungen mit den Aufzeichnungen Mendels zur Erbsenzucht, aus der sich schließlich die modernen Genetik abgeleitet hat, sind gewollt.

Natürlich entbehren Jessica Leinens Netzwerke der wissenschaftlichen Systematik, vielmehr können sie gelesen werden als die privaten Versuche mit den sprachlichen, objektiven und logisch-wissenschaftlichen Methoden, die sich in unsere Kultur eingeschrieben haben, in die unmittelbare, subjektive und unausprechliche Welterfahrung eine objektive und mitteilbare Ordnung zu bringen, die Phänomene einer ewigen Gegenwart in die Logik der Kausalverkettungen eines Newton`schen Zeit- und Realitätsverständnisses zu überführen und damit in den zwischenmenschlichen, mitteilbaren Konsens.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

In anderen Gehäusen sehen wir Papierstrukturen und Zeichnungen, die an Balkendiagramme erinnern. Doch auch bei ihnen fehlt die Lesbarkeit, die Möglichkeit logisch nachzuvollziehen, welche individuelle Sein-Zeit sich hinter ihnen verbirgt. Es bleiben unzureichende Versuche der Objektivierung des Unaussprechlichen.

Eine weitere Gruppe von Arbeiten besteht aus filigranen skulpturalen Objekten, die sich auf kleinen Sockeln, in denen Uhrwerke verborgen sind, im Kreis drehen und mit jeder Sekunde zusammenzucken, als erwachten sie in jedes neue „Jetzt“ mit einem Erschauern. Jede Sekunde erscheint hier als Epiphanie.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

Die Versuche, den eigenen Ort zu bestimmen, um wenigstens mit der räumlichen Eingrenzung der identitären Gegenwart die erfahrene Unaussprechlichkeit einzugrenzen und sich so der eigenen Identität objektiv zu nähern, finden ihre Entsprechung in auf Folien kopierten Karten und Linienmustern, die sich in verschiedenen Schichten auf der Suche nach einem Abgleich überlagern. Doch ist ihre zweidimensionale Logik bereits durch eine mit Hitze herbeigeführte Deformation in die Dreidimensionalität dysfunktional geworden.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017

Die Vielzahl kleiner verschiedenartiger Existenzen, das Zittern der Individuen beim Gewahrwerden des Jetzt, die konzentrierten, aber ergebnislosen Versuche, mittels objektiver, generalisierender und zeitlich linear zu denkender Symbolsysteme die subjektive Unmittelbarkeit der Realität zu erfassen, endet jedoch nicht mit der räumlichen und zeitlichen Terminierung der Ausstellung.

Wir sehen hier nur einen kleinen Ausschnitt dieser individuellen „Jetztheiten“, nur einige Exemplare eines Projekts ohne definierte Ränder. Denn so wie der Ursprung der Raumzeit, der Mittelpunkt des Universums, der Ort der ersten Quantenfluktuation, die im Urknall alle Wirklichkeit geschaffen hat, überall liegt, so gibt es immer noch ein nächstes, ein weiteres „Jetzt“,  nur einen Schritt oder nur eine handbreit von uns entfernt, ein weiteres „Jetzt“, das der Mittelpunkt ist, das das ganze Universum hervorgebracht hat und in sich schließt und dennoch nur für sich selbst existiert.

Jessica Leinen, "Dort könnte eine Minute gezählt werden", Detail, 2017
Und mit dieser Einsicht betreten wir selbst einen poetischen, grenzenlosen Denkraum, in dem wir teilhaben können an der phänomenologischen Innenansicht und dem Versuch ihrer poetischen Objektivierung, an einer Epiphanie der Künstlerin Jessica Leinen, einem Moment bewußt erfahrener „Sein-Zeit“, einem „Jetzt“, in dem sie dessen Plural gewahr wird, in dem sie in die Welt hinausgreift und das Universum einer ewigen Gegenwart und ungezählter Vielheit in sich schließt.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2017

















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