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Sonntag, 18. Juni 2017

Im Spiegel der gespiegelten Welt - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Twins", Galerie in der Wassermühle Trittau von Thomas Piesbergen

TWINS - Motiv der Einladungskarte, Siobhan Tarr, 2017
Eine der großen Fragen, vielleicht die größte aller Fragen in der Philosophie und der Spiritualität, ist die Frage nach dem Selbst, nach dem Zustandekommen und der Beschaffenheit des individuellen Bewußtseins, der subjektiven Welterfahrung und des Ich-Gefühls, die Frage nach der Identität.

Schon bei dem Vorsokratiker Heraklit heißt es: Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken. Die Selbsterkenntnis wird als etwas explizit Menschliches begriffen, als ein natürliches Charakteristikum.
Doch daß die Fähigkeit, den Blick auf sich selbst zu richten, noch lange nicht bedeutet, sich selbst auch erkennen zu können, wird deutlich durch die Aufforderung „Gnothi seauton“: Erkenne Dich selbst!, die im 5. Jhd. v. Chr. als Inschrift in der Vorhalle des Tempels von Delphi angebracht worden war.
In der Überlieferung heißt es, Chilon von Sparta, einer der Sieben Weisen der Antike, habe das Orakel befragt, was die Menschen am ehesten lernen sollten, und von Apoll durch den Mund der Pythia habe er eben diese Aufforderung erhalten: Erkenne dich selbst!

Die Aufgabe der Selbsterkenntnis ist spätestens seitdem ein zentrales Element der verschiedensten philosophischen Schulen, der Mysterien und esoterischen Bewegungen. Auch in der spirituellen und philosophischen Praxis der östlichen Hemisphäre, vor allem im Buddhismus, ist die Erkenntnis und die dadurch mögliche Überwindung des Ichs das wichtigste Anliegen.

Doch was erkennt der Mensch, wenn er sich selbst erkennt?
Seit der Antike gibt es die Überlieferung des verschleierten Bildes von Saïs, das die Göttin Isis zeigen soll, die göttliche Verkörperung der Natur. In seiner Abhandlung Vom Erhabenen erwähnt Friedrich Schiller die Inschrift, die sich über der Tempeltür befunden haben soll: „Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein Sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.“ Novalis greift dieses Motiv in seinem Romanfragment Die Lehrlinge zu Saïs auf. Dort heißt es: „Einem gelang es,- er hob den Schleier der Göttin zu Sais - Aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders - sich selbst.
Es scheint also, als liege in der Selbsterkenntnis einer der Schlüssel zur Welterkenntnis.

Doch warum ist die Selbsterkenntnis, die Heraklit als etwas selbstverständliches galt, so schwierig zu erlangen? Es ist eine Frage der Perspektive. Denn wenn wir schauen, tun wir es von unserem Standpunkt aus, unser Selbst sieht hinaus in die Welt und es definiert sich durch die Grenze, die es zwischen sich und der Welt zieht. Es sieht die Dinge jenseits der Grenze, doch was dieseits der Grenze liegt, kann es nicht sehen. Dabei steht es sich selbst im Weg. Um zu uns selbst zu gelangen und uns selbst zu erkennen, ist also ein Umweg notwendig.

In seinem Indikationen-Kalkül hat der Mathematiker John Spencer-Brown dargelegt, daß das, worauf wir zeigen, das, was wir als etwas von uns Getrenntes erleben, von uns nur erkannt und angezeigt werden kann, weil wir es vorher in uns erfahren haben. Wir veräußern also etwas Inneres und erklären es dann zu etwas Äußerem. Zur Erklärung dieses Zusammenhangs der so simpel wie schwer verständlich ist, bediente er sich einerseits des Bildes von Yin und Yang, andererseits verwendete er den Begriff des Blinden Flecks.

Es ist dieser Blinde Fleck, der unsere Identität ausmacht, und bestimmt, auf welche Art wir die Welt wahrnehmen können. So schreibt Michel des Montaigne: „Diese große Welt ist der Spiegel, in den wir hineinschauen müssen, um uns von Grund auf kennen zu lernen.
Unsere Weltsicht ist also Spiegel unserer Identität, genauso wie wir selbst ein Spiegel der Welt sind. In seiner Farbenlehre umschrieb Johann Wolfgang von Goethe diese Einsicht mit den Worten: „Im Auge spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.

Will man also über die Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis gelangen, ist es notwendig, diesen Blinden Fleck zu ergründen, der uns die Welt auf eine nur uns selbst eigene Weise erkennen läßt.

Diese Aufgabe erfüllt in unserer gegenwärtigen Kultur vor allem die Kunst. Denn sie befragt unsere subjektiven Wahrnehmungserlebnisse, unsere kulturellen Muster und Routinen, die den Rahmen unserer Wahrnehmungen bestimmen, und schließlich die Medien selbst, mit denen wir unser Bild der Welt wiedergeben. All dies sind Versuche auf verschiedenen Ebenen, den Blinden Fleck zu ergründen - den einer ganzen Kulturgruppe, den einer Schule oder Strömung, den des lokalen Zeitgeistes oder den ganz individuellen Blinden Fleck.

Doch wenn der Künstler im Spiegel der Welt sich selbst sucht, und in sich selbst wiederum nach dem Spiegelbild der Welt, und diese Spiegelung wiederum in seinen Kunstwerken spiegelt, um darin seine Weltsicht zu ergründen, die wiederum seine Kunstwerke hervorgebracht hat, droht immer die Gefahr, im Spiegellabyrinth dieser paradoxen Schleifen die Distanz zu verlieren und im eigenen Werk verloren zu gehen.

Ein befreundeter Künstler erzählte mir einmal, er habe viele Stunden über einer großformatigen Bleistiftzeichnung eines Menschen verbracht. Als er in einer kurzen Pause zufällig einen Blick in den Spiegel warf, traf es ihn wie ein Schock, daß er dort nicht das gezeichnete Bild sah, sondern sich selbst. Das Bild war im Prozess des Zeichnens identisch geworden mit seinem Selbstbild.
So kann es also auch geschehen, daß der Prozeß, der dazu dienen soll, den Blinden Fleck zu ergründen, wenn er zu beharrlich verfolgt wird, selbst zu einer Blindheit führt, wie ein Bild, das sich selbst auslöscht, wenn wir es zu lange unbewegten Auges anstarren.

Um diese sekundäre Blindheit zu überwinden ist kein anderes Mittel besser geeignet, als eine weitere Spiegelung, die Suche nach einem Gegenüber, anhand dessen man sich selbst und den eigenen Arbeitsprozess beobachten kann. Und wie die Spiegel in einer Umkleidekabine eine verschobene Sichtachse haben müssen, damit man sich beim Blick in den Spiegel nicht nur von vorne, sondern von der Seite sehen, und sich auch beim Blick in die eigenen Augen wie ein Außenstehender beobachten kann, muß der Blickwinkel ein verschobener sein.

In der Ausstellung „Twins“ sind wir mit 12 solchen Spiegelungen im Werk des anderen konfrontiert und mit einer ganzen Reihe von möglichen Verschiebungen.

Bei den Paarungen Magens / Schlimbach und Both / Kiessner sind die Verschiebungen von so feiner Natur, daß man fast meinen könnte, die Arbeiten stammen von den gleichen Künstler.
In den Arbeiten von Katrin Magens und Hans Schlimbach, die tatsächlich in einem gemeinsamen Werkprozess entstanden sind, begegnen wir, eingebunden in menschliche Handlungsprozesse, der konkreten toten Kreatur als Memento Mori.
Waltraut Kiessner und Heinke Both setzen sich mit nahezu identischer Ästhetik und einer erschütternden Intensität mit dem menschlichen Körper auseinander, einmal stellvertreten durch die Hand, als Werkzeug des Künstlers, einmal durch Leib und Gesicht. Hier erleben wir die Suche nach der eigenen Position im anderen; einen Versuch, zur Deckung zu kommen.

Auch die Paarungen Heilwig Duwe-Ploog/ Tobias Duwe und Waltraut Stalbohm / Julian Stalbohm weisen eine ausgesprochen große Nähe zueinander auf, nicht nur weil es sich jeweils um Mutter-Sohn-Konstellationen handelt.
Die Duwes bearbeiten zudem mit der gleichen Technik die gleichen Sujets, sodaß hier Abgrenzung und Autonomie, die in jeder Familie essentiell ist, nur in feinen, aber entschiedenen Unterschieden beobachtet werden kann.
Die Stalbohms hingegen nähern sich dem gleichen Phänomen von unterschiedlichen Seiten und mit diametralen Mitteln: Einmal wird verhüllt, das andere mal wird eine bereits vorgenommene Verhüllung partiell wieder durchbrochen.

Tobias Duwe, Am Fluss, 2017

Heilwig Duwe-Ploog, Am Fluß, 1985/2012
Julian Stalbohm, Laudanum, 2016

Waltraut Stalbohm, Desaparecido, 2017

Auch Mareile Stancke und Jacek Wesolowski bearbeiten thematisch ähnliche Felder. Mit den zeitgenössischen Mitteln Video und Internet-Tagebuch versuchen sie sich dem Spannungsfeld des überzeitlichen, metaphorischen Kindes und der realen, vom Alterungsprozess gezeichneten Biographie zu nähern, und suchen darin den Abgleich mit der Haltung und Welterfahrung des jeweils anderen.

Mereile Stancke, Erzählung, Gedankenströme (Video-Stills), 2017

Die Paarungen Schoop / Schürmeyer und  Ammermann / Preusz bewegen sich beide in zeitkritischen Kontexten und in beiden Fällen scheint es, als stünden sie auf dem selben Aussichtspunkt, schauten aber in unterschiedliche Richtungen.
In der Paarung Eva Ammermann und Angela Preusz stehen sich Verschwendung und Verzicht dialektisch gegenüber: auf der einen Seite sehen wir einen Verweis auf die Vergeudung von sog. virtuellem Wasser, auf der anderen Seite steht die Erinnerung an die gesellschaftlich nahezu irrelevant aber dafür umso notwendiger gewordene  Tugend der Enthaltsamkeit, repräsentiert durch einen Fastenbrezelteig.
Bei Lucia Schoop und Renate Schürmeyer entsteht durch die Gegenüberstellung sogar etwas, wie eine Narration. Die eine Arbeit rückt die sich stets wiederholenden Flüchtlingskatastrophen in den Fokus,  die andere verweist auf die verantwortungslose Abwertung essentieller Resourcen als mögliche Fluchtursache.

Renate Schürmeyer, Golden Peanuts, 2017 & Lucia Schoop, Visionen, 2012-2017 (Foto: J. Schürmeyer)

Die Paarungen Gerber / Taylar und Tarr / Schneider suchen ihren Abgleich über die Ebene der Technik.
So beschäftigen sich Janine Gerber und Will Taylar beide nicht so sehr mit dem Bild, als vielmehr mit dem Prozess des Farbauftrags. Und obwohl sehr unterschiedliche Techniken zum Einsatz kommen - einmal ein kontrolliertes Spiel mit dem Zufall, das andere mal eine Kombination von industriellen und digitalen Prozesse - weisen die Ergebnisse eine große ästhetische Nähe auf.
Siobhan Tarr und Eva Schneider hingegen haben sich beide Arbeitsweisen angeeignet, die in der Regel in künstlerisch abgewertete Kontexte eingeordnet werden: Stickerei, Collage und Mosaik, die man gerne dem Kunsthandwerk, der Beschäftigungstherapie oder dem Kunstunterricht der Mittelstufe zuordnet, werden gezielt rekontextualisiert, unter anderem durch die konsequente Wahl enigmatischer oder verstörender Motive, die der Volkskunst fremd sind.

Eva Schneider, Der kleine Blaue Tod kommt ungelegen, 2011

Siobhan Tarr, Back to the Craft, 2017

Das Paar Jutta Weimann und Dorothea Goldschmidt andererseits begegnet sich auf der Ebene des Bildfindungsprozesses, der von der Technik unabhängig ist und weniger die Art zu arbeiten, als vielmehr die Art zu sehen deutlich macht: Denn beide finden ihre Motive auf dem Wege der Verfremdung von Alltagsgegenständen durch ein Spiel mit Licht und Farbe.

Jutta Weimann, o.T., 2016

Dorothea Goldschmidt, F#4, 2016


Walther Kunau und Thomas Helbing hingegen begegnen sich durch den Blick auf das gleiche Motiv: die Traveniederung. Doch während Kunau sich einen für ihn bedeutsamen Landschaftsabschnitt malerisch aneignet, arbeitet Helbing mit  den Mittel der Abstraktion über den Prozess der faktischen Aneignung des Landschaftsraums durch menschliche Besiedlung. Durch die gegensätzlichen Perspektiven auf den gleichen Ort werden die beiden Positionen jedoch nicht gegeneinander ausgespielt, sondern betonen ihre jeweiligen Charakteristika und damit die verschiedenen Möglichkeiten der Weltwahrnehmung.

Jutta Konjer und Christine Carstens schließlich wenden sich beide dem großen Gegenüber des Menschen per se zu: Der Natur; doch tun sie es unter wiederum diametral entgegengesetzten Vorzeichen. Während Christine Carstens uns die Natur als etwas präsentiert, daß entweder vom Menschen durch Transformation vollständig denaturiert wird oder sich ihm hartnäckig verschließt und für ihn nur in einem blauen Sehnsuchtsraum vorstellbar ist, nähert sich Jutta Konjer auf eine behutsame und intime Weise dem selben Gegenstand und läßt eine Durchdringung von Mensch und Natur, ein Wiederauffinden des eigenen Spiegelbilds möglich erscheinen.

Christine Carstens, Blaues Wunder, 2017

Und in der Hoffnung, daß sich im Spiegel des Nicht-Ichs, in der Natur, in der Kunst, in dem anderen Menschen, eine Spur der großen Weltwahrheit auffinden läßt, wünsche ich Ihnen viele erhellende und inspirierende Momente angesichts dieser zwölf sich spiegelnden Paarungen in denen Sie vielleicht auch gespiegelte Aspekte von sich selbst und Ihrer eigenen Welterfahrung, Hinweise auf ihren eigenen Blinden Fleck wiederfinden.

ⓒ Thomas Piesbergen / VG Wort, Juni 2017

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