Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Freitag, 30. Dezember 2011

Das etymologische Schleudertrauma des Walter Papst oder Das wahnsinnigste Buch der Welt

Wer kennt sie nicht: die Faszination des Abwegigen, Verstiegenen, Grotesken? Wer ist nicht schon einmal an einem Beitrag über Atlantis, den Yeti, Loch Ness, Area 51, Telepathie, Poltergeister, die Illuminaten, Architektur auf dem Mond oder die belgische Ufo-Welle hängen geblieben?
Das Vielleicht-doch-Mögliche, das Phantastische, das In-Frage-Stellen der Alltagsrealität mit den verschiedensten abwegigen Theorien und ihren zwar fragwürdigen, aber innerhalb ihrer Grenzen rührend stimmigen Argumentationsverkettungen übt zweifellos eine starke Anziehungskraft aus.
Selbst wenn man Erich von Däniken für einen gründlich verwirrten Menschen hält, kann es doch eine gewisse Lust bereiten, die höchst kunstvolle Akrobatik seiner Fehlinterpretationen archäologischer Befunde und anderer „Beweise“ zu verfolgen, die waghalsige Architektur seiner Gedankengebäude zu bewundern; und nicht selten muß man zugeben, daß das wissenschaftliche Fundament, auf dem man glaubt zu stehen, sich in vielen Fällen mehr auf Übereinkünften und nicht auf unumstößlichen Fakten gründet. 
Doch auch die Faszination, die solche abenteuerlichen Gedankenspiele ausüben, kann überstrapaziert werden. Vor allem, wenn sich diese Gedankenspiele in derart jenseitige Bereiche vorwagen, wie die Mutmaßungen von Walter Papst. Mit „jenseitig“ sei hier gemeint: jenseits aller Vernunft und jenseits all dessen, was dem Spracharbeiter hoch und heilig ist, nämlich eine gewisse Unversehrtheit des Wortes.
Nimmt man das Buch „Der Götterbaum“ zur Hand und liest den Klappentext, kann schon das erste kalte Grausen über den abenteuerlustigen Leser kommen, geht es doch um nichts anderes, als den Beweis, der Mensch und die Götter, die ihn (selbstverständlich künstlich) erschaffen haben, stammten ursprünglich vom Saturn, der, wie auch anders, eine mehrschalige Hohlwelt in sich berge. Diese Hohlwelt, so liest man staunend, sei identisch mit dem mythologischen Weltenbaum, insbesondere  der nordischen Weltenesche Yggdrasil, die wiederum identisch sei mit dem "Ur-Riesen" oder "Ur-Menschen", dessen zerstückelter Leib in zahllosen Mythen als Baustoff für die Schöpfung herhalten muß.
Wer wäre da nicht gespannt, wie dieses gewagte Unterfangen von Walter Papst gelingen wird? Mit welchen überraschenden „Beweisen“ wird er wohl aufwarten? Welche altbekannten X-Faktoren werden auf brillante Weise in ein neues, erhellendes Licht getaucht? Gibt es, selbst wenn alle Folgerungen des Autoren blanker Unsinn sind, vielleicht doch erhellende Informationsbröckchen zur Auskleidung des eigenen Weltbilds? Große Fragen und große Erwartungen.
Doch das, was dann kommt, ist erschütternd. Selbst der wohlwollendste Leser wird mit sich ringen, ob er den vormals international erfolgreichen Innenarchitekten und Designer Walter Papst, dessen Entwürfe z.T. schon Klassiker des modernen Designs geworden sind, für einen armen Irren oder ein humoristisches Genie halten soll. Leider gibt es wenig Anhaltspunkte dafür, er wäre letzteres gewesen. So muß denn die Arbeit, der Papst etwa 20 Jahre seines Privatlebens geopfert hat, vor allem als eines gelten: als eine wahrhaft unvergleichliche Beleidigung menschlicher Intelligenz, die im wohlmöglich wahnsinnigsten Buch der Welt ihren Niederschlag gefunden hat.
Daß im Verlauf von Papsts Erläuterungen die unterschiedlichsten Mythen von allen Erdteilen mehr oder minder willkürlich, methodisch konfus und sinnfrei durcheinander gewirbelt werden, mag aus Publikationen dieser Art hinlänglich bekannt sein. Doch das, was uns Papst neben der an sich schon grotesken Theorie vorsetzt, ist etwas, das man ungestraft als die Etymologie des Grauens bezeichnen darf. 
Denn Walter Papst stellt als eines seiner zentralen „Beweismittel“ Mutmaßungen über Wortherkunft an, die wirklich außerirdisch sind. Er geht dabei seelenruhig über Sprachfamilien, Kontinente und Jahrtausende sowie über jegliche, fundierte Forschung hinweg, die es auf diesem Gebiet bereits hinlänglich gibt, und die zahllose etymologische Wörterbücher füllt. Und hier kann man entweder nur noch in schallendes Gelächter ausbrechen, oder empört den Verlag zum Teufel wünschen, der es wagt, einen offenkundig schwer gestörten Mann durch die Publikation seiner Phantasmen in seinem Wahn zu bestärken und andererseits ahnungslosen Lesern dieses verstörende und verstörte Machwerk zumutet.
Im Folgenden seien einige der herausragenden Passagen zitiert. Es sind fraglos die Glanzlichter der ersten 200 Seiten (durch den Rest wollte, nein!: konnte ich mich nicht mehr hindurch kämpfen), aber dem wagemutigen Leser, der sich das Original zur Hand nehmen möchte, sei versichert: es vergeht keine Seite ohne vergleichbare Entgleisungen von Sinn und Verstand. Viel Vergnügen!
„Besonders rätselhaft ist ein Fundstück aus Peking, das völlig aus dem Rahmen fällt und von den Anthropologen nirgendwo eingeordnet werden kann. Haben wir es hier womöglich mit einem Götterschädel zu tun? Verdachtsmomente ergeben sich aus der Ähnlichkeit im Knochenbau mit dem Profil eines Boxerhundes (Augenwülste) und aus der sprachlichen Verwandtschaft von "God" und "dog". Der Gleichklang hat seine Gründe. Er ist ein erstes, verstecktes Anzeichen dafür, dass die Zeit vor der Sintflut nicht allein über Schädel zu rekonstruieren ist, sondern auch über die Sprache, die die Überlebenden weitervermittelt haben. Da Gott sich von Hund herleitet, wie im Griechischen Kyon, der Hund, ebenfalls zu Zion und Zeus wurde, und der Mensch die Schöpfung nach dem Ebenbilde Gottes erfuhr, ist seine Abstammung vom Hund wahrscheinlicher als diejenige vom Affen.” 
(Walter Papst, Der Götterbaum, Herbig Verlagsbuchhandlung, München,1994, S.23)
“1934 sucht der Himmelskundler O. S. Reuter am Nachthimmel den seltsamen Skaturnir, der ‘außerhalb aller Welten steht’ – also ein künstliches, technisches Weltraumobjekt? Das Wort verrät mehr. Es wird mit norwegisch mundartlich Skat und schwedisch Skate (Baumwipfel) zusammengebracht. Skat hat somit einen Bezug zum Baum, wie Skal einen Bezug zu Schale hat. Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass der ‘Baumwipfler’ Skaturnir mit Schalendreher gleichgesetzt werden kann. Die Silbe Nir bedeutet eine Ausscheidung. Unser Wort Skat bezieht sich auf ein Spiel mit drei Spielern, so dass weiterhin spekuliert werden kann: Skaturnir besteht aus drei sich drehenden Teilen. Englisch three (drei) weist ebenfalls auf einen Baum (tree). Auffällig ist die Namensverwandtschaft mit Saturn. Halten wir fest: Der Weltenbaum hat vermutlich etwas mit drei, mit Schalen und mit drehen zu tun.” (S.96)
“Eine der wichtigsten Sprachwurzeln ist die sumerische Silbe An, die für ‘Himmel’ steht. Wir sagen heute noch an-kommen, ganz einfach, weil der erste sprachbegabte Mensch aus dem Himmel kam.” (S.110)
“An den Zweigen [des Weltenbaums] lebten Zwerge, passend zur Körpergröße der Frauen. An den Wurzeln die Riesen, entsprechend der Körpergröße der Männer. Die zierlichen Geschöpfe wurden mythologisch aus den Maden im Fleische des Ymir erschaffen. Deshalb also Mädchen …” (S.116)
"Eine andere Bestätigung der Innenwelt kommt von den Finnen, denen man eine gewisse Kompetenz in dieser Richtung nicht absprechen darf, da sie, bei Heranziehung des gleichlautenden Namens als `junge Bandwürmer´, aus dem Anus (also von innen = Finnen) kommen und andererseits als ehemaliges Volk des Elbenkönigs Finn ìm Fleische des Urriesen zuhause waren. Somit wird etymologisch über das Wort `Finnen´ ein Innenleben signalisiert, das mythologisch durch den Geburtsort der Elben (Maden im Fleische des Ymir) bestätigt wird. Was sagen Evolutionstheoretiker dazu?" (S.127)
„Der siebente Tag der Woche, der englisch Saturday heißt [nicht Sunday?!], ist dem jüdischen Sabbat gleichzusetzen. Die Silbe Sat steht in Beziehung zu sept und Sabbat. Sabbat wiederum schließt unser Verbum sabbern ein, das für `ausspucken´ steht. Sie Saat wird demnach von einem Saatdreher [Sat-turn] ausgespuckt. Das hieße für Astrophysiker: Die Materie der Saturnringe stammt aus dem Inneren des Himmelskörpers.“ (S.150)
Wer mehr dieser Etymologie verkraften kann, dem sei das Buch von W. Papst empfohlen. Wer glaubt, Innenarchitekten, die auf psychedelischen Drogen hängen geblieben sind, sollten besser keine Bücher schreiben, sondern in Therapie gehen, dem sei außerirdischer Wahnsinn in belletristisch verdaulicher Form empfohlen, z.B. von H.P. Lovecraft. Der läßt „sein“ wahnsinnigstes Buch der Welt, das Necronomicon, wenigstens ungeschrieben!
Und wenn das Ableben von Herrn Walter Papst nur ein Gerücht war und er dies hier während eines Skat-Turniers an seinem Laptop in der dritten Schalen-Innenwelt des Saturns liest, sollte er sich seine eigene „Etymologie“ zu Herzen nehmen, die soviel bedeutet wie: Wer vorne Walter Pa… heißt und hinten ...pst, der sollte am Ende besser schweigen. 


Mittwoch, 21. Dezember 2011

Charaktere oder Plot? Zwei unterschiedliche Herangehensweisen an das Erzählen von Geschichten

In der Literatur zum Thema Schreibtheorie, vor allem in der amerikanischen, stolpert man immer wieder über die grundsätzliche Frage, ob eine Geschichte an den Charakteren oder dem Plot orientiert sei. Dahinter verbergen sich zwei stark voneinander abweichende, aber keinesfalls unvereinbare Herangehensweisen an das Erzählen. Die Polarität der beiden Ansätze mag Europäern vielleicht übertrieben schematisch erscheinen, dennoch schadet es nicht, sich im Lichte dieser Frage einige Gedanken zu dem eigenen Ansatz zu machen.

Unter „charaktergestützt“ versteht man Geschichten, deren Logik sich aus der charakterlichen Veranlagung ihrer Figuren ergibt. In ihnen steht der menschliche Konflikt in all seinen unendlichen Facetten an erster Stelle. Fast die ganze sogenannte Hochliteratur, von Dostojewskij bis Max Frisch,  von Kleist bis Kerouac wird am Leben und Laufen gehalten von den Charakteren, die in ihren Zeilenschicksalen leben, streben, leiden, hoffen, begehren und sterben.

Der „Plot“ hingegen ist unumschränkter Herrscher über das Reich der Genreliteratur. In Krimi, Science Fiction, Fantasy, Horror, Lovestory und Thriller steht und fällt alles mit dem vertrackten Rätsel, der überraschenden Wendung, der furchteinflößenden Verwicklung, der brillanten Intrige, der unmenschlichen Bedrohung, der kunstvollen Architektur der Handlungsstränge, der unlösbaren Aufgabe und der Auflösung in letzter Sekunde.

Natürlich kommt das eine niemals ganz ohne das andere aus, dennoch sollte man sich genau überlegen, welchem der beiden Prinzipien man den Vorrang einräumen möchte. Gerade bei Schreibanfängern kommen sich diese beiden Ansätze häufig so sehr in die Quere, daß sie sich gegenseitig neutralisieren. Der Text bleibt unentschlossen und verreckt auf halber Strecke, ohne daß man weiß, weshalb. Es hätte doch alles so schön werden können...

John Banville, der Booker Prize-Gewinner und Autor von „Athena“, „Die See“ und „Sonnenfinsternis“ schrieb über sich selbst: „I am not good at plotting.“
In seinem Roman „Der Unberührbare“ schildert er die Lebens- und Leidensgeschichte des ruhelosen Kunstliebhabers Victor Maskell, der im zweiten Weltkrieg zum Doppelagenten geworden ist und dessen vielschichtige Lebenslüge erst im hohen Alter in ihrer ganzen Abgründigkeit offenbar wird.
Zwar bildet die verzwickte Intrige um sein Doppelagentendasein den Handlungshintergrund, von Bedeutung ist aber nur die Erlebniswelt des Protagonisten mit all ihren Anmaßungen und Selbstzweifeln, mit ihrer Täuschung und Selbsttäuschung. Eine Betonung des Plots, also des Ränkespiels im Hintergrund mit all seinen politischen Aspekten, den verschachtelten Intrigen, dem Aufwand der Inszenierung eines fiktiven Lebens, hätte den ohnehin umfangreichen Roman nicht nur schwerfällig und verstiegen gemacht, er hätte ihn mit Sicherheit gänzlich zerstört. Denn das zentrale Thema des Buches ist der Charakter Victor Maskells mit seinem grundlegenden Dilemma.

Wie sehr eine Betonung der Charaktere eine Plot-basierte Geschichte zerstören kann, sei am Beispiel des Herrn der Ringe von Tolkien illustriert.
Tolkiens Figuren sind zwar mit markanten Merkmalen ausgestattet, doch es sind eher Typen als Charaktere. Sie sollen vor allem Gefäße für archaische Konzepte sein. Gandalf ist der „weise alte Vater“, Sam die „treue Seele“, Frodo „der in Versuchung geführte Märtyrer“, Aragon der „edle Held“, Gimli und Legolas zeichnen sich nur dadurch aus, daß sie Zwerg und Elb sind und dementsprechend Archetypen repräsentieren. Doch glaubwürdige Charaktere sind weit und breit nicht zu finden - und das aus gutem Grund.
Man stelle sich vor, Tolkien hätte auf realistische persönliche Probleme und die inneren Konflikte seiner Figuren Wert gelegt. Der Leser fände sich in einem grundverschiedenen Buch wieder - und zwar in einem, das dem typischen Tolkien-Fan ein Graus wäre!
Was für Auswirkungen hätte wohl Aragorns Liebe zu Arwen, von der er 20 Jahre lang geglaubt hat, sie wäre seine Schwester? Wäre er je in der Lage, sich von dem inzestuösen Beigeschmack der Liaison zu befreien?
Was für Probleme hatte Sam mit seinem Vater, daß es ihm ein so dringendes Bedürfnis ist, sich Frodo mit nahezu hündischer Unterwürfigkeit anzudienen? Oder spielen hier unterdrückte homoerotische Aspekte eine Rolle?
Was hat die narzistische Persönlichkeitsstörung und den Größenwahn von Boromir verursacht, daß er sich anmaßt, er können es mit der Macht des Ringes aufnehmen?
Während des Kampfes um Minas Thirit machen Legolas und Gimli einen Wettkampf daraus, wer  mehr Orks enthaupten kann. Wie kommt es, daß zwei sonst sozial aufgefangene Individuen sich auf derart psychopathische Spiele einlassen? Wo bleibt der post-traumatische Schock? Die Entrüstung ihrer Freunde über solche unmenschlichen Späße?
Was ist der Grund dafür, das alle Frauen wie unberührbare Heilige erscheinen? Ihre Frigidität? Die Impotenz oder Homosexualität der Männer?
Und was ist eigentlich dem armen Sauron angetan worden, daß er zu nichts anderem mehr imstande ist, als körperlos und von Hass zerfressen in seinem Turm zu hocken? Frühkindliche Bestrafung durch Liebesentzug? Kastration?
Und warum hat sich niemals jemand über die Orks Gedanken gemacht? Vielleicht wäre ihnen ja schon mit etwas plastischer Chirurgie und einer Gesprächstherapie geholfen? Hat denn niemand Bedenken, sie wie Schlachtvieh umzubringen? Sind die „Guten“ im Herrn der Ringe nicht doch einfach nur ein Bande seelisch verkrüppelter Krypto-Faschisten?
Fragen über Fragen.

Natürlich kommt man beim Erzählen von Geschichten weder ohne Plot, noch ohne Charaktere aus. Jede charaktergestützte Geschichte braucht einen Plot, denn schließlich müssen die Figuren handeln, in Bewegung sein, etwas erleben. Genauso braucht jede plot-orientierte Geschichte konsistente Figuren, deren Motivation glaubwürdig ist und die zur Identifikation taugen,  denn sonst hat der Leser kein Interesse an ihnen und nimmt nicht an ihrem Schicksal teil. Dennoch ist es wichtig, das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen der Geschichte zu finden. Nur dann steht ein Text sich nicht selbst im Wege.

Montag, 14. November 2011

Joseph Conrad über Krieg und Kapital (in: Nostromo, 1904)

"Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe bei der Entfaltung materieller Interessen. Sie haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind."

Donnerstag, 10. November 2011

Texte lebendiger gestalten: Abstraktes konkretisieren!

Es gibt bei fast allen Autoren und Autorinnen Schreibphasen, in denen sie versuchen, Handlungsvorgänge oder die Einführung neuer Personen „hinter sich zu bringen“. Dabei vergißt man nicht selten, in die Szenen mit ihren Stimmungen oder die Figuren mit ihren akuten Befindlichkeiten einzutauchen und schreibt abstrakt und erläuternd. In solchen Abschnitten geschieht es auch oft, daß man als kommentierender Autor, der Interpretationen oder Wertungen abgibt, für den Leser spürbar wird. Dadurch läuft man Gefahr, die Einbindung des Lesers in das Geschehen zu verlieren. Es fällt ihm schwerer, den Text in seiner Vorstellung plastisch umzusetzen. Das Leseerlebnis büßt seine Intensität ein.
Legt man wert auf die Lebendigkeit eines Textes, sollte man also darauf achten, Vorgänge so sinnlich und konkret wie möglich darzustellen, z.B. in dem man Figuren nicht erläutert, sondern sie in akuten Szenen agieren läßt. Das kann durchaus erst in der Überarbeitung geschehen, da man den Fluß des gesamten Textgefüges bereits besser abschätzen kann.

Statt der abstrakten und wertenden Kurzbeschreibung:

- Karins Mutter gehörte zu den Frauen, die ihr gesamtes Leben, ohne es zu hinterfragen, dem Wohl der Familie gewidmet hatten. Eine eigene Freizeitgestaltung war ihr fremd. -

kann man Karins Mutter auch in einem lebendigen Dialog auftreten lassen, in dem sich nicht nur ihr Charakter, sondern auch das Verhältnis zu ihrer Tochter erschließt:

- „Karin, endlich bist du da. Ich habe mir schon Sorgen gemacht!“
„Hallo Mama, tut mir leid. Nach dem Squash habe ich noch Nina aus meiner Portugiesisch-Gruppe getroffen und mich beim Kaffee verquatscht. Geht es dem Kleinen gut?“
„Jaja, er schläft. Meinst du nicht, daß das alles zuviel ist?“
„Was meinst Du?“
„Na, dieser ganze Freizeitstress! Reicht es nicht schon, daß du wieder halbtags arbeitest? Was sagt denn eigentlich Peter dazu? Hast du ihm heute wenigstens etwas gekocht, das er sich warm machen kann?“
„Ach, Mama! Das Thema hatten wir doch schon. Peter ist erwachsen und kann selbst für sich sorgen. Und ich muß mich jetzt schnell für das Konzert umziehen. Kannst du mir bitte das rote Kleid aus der Sporttasche reichen?“
„Also, die Bettina von nebenan, die ist ja auch in deinem Alter - ein sehr nettes, natürliches Mädchen. Als ich sie gestern mit ihren Zwillingen beim Einkaufen getroffen habe, hat sie erzählt… Um Himmels willen, Karin! Das willst du doch nicht etwa anziehen!“ -


Auch Aspekte des Settings und der Handlung, die oft nebenbei abgehandelt werden, kann man zu lebendigen Szenen umgestalten:

- „Aufgrund des Neuschnees war die Verkehrsituation chaotisch, deshalb erreichte er an diesem Tag sein Büro mit öffentlichen Verkehrsmitteln.“ -

Aus diesem nüchternen, umständlich und abstrakt geschriebenen Hinweis, der auf den Leser so anregend wirkt wie Krankenhauskost, wird durch akute Handlung und sinnliche Eindrücke eine Szene, die dem Leser nicht nur die nötigen Informationen, sondern auch eine atmosphärische, bildhafte Einstimmung mitgibt:

„Schon mit dem ersten Schritt, den er vor die Tür setzte, glitt er aus und schlug lang hin. Eine dichte Decke frisch gefallenen Schnees hatte sich über Nacht auf die Stadt gelegt, flockte leise von den Dächern und versank weich zwischen den bereiften Fassaden. Georg zog sich an einem Laternenpfahl in die Höhe. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite mühte sich ein kleiner Lieferwagen mit durchdrehenden Rädern und aufheulendem Motor vergeblich ab, in eine ansteigende Seitengasse einzubiegen. Einem der wartenden Wagen, die in einer Wolke aus Abgasen mürrisch vor sich hin dampften, wurde die Zeit offenbar zu lang. Er scherte aus der Schlange aus, gab Gas und rutschte mit einem dumpfen Knirschen geradewegs in ein entgegenkommendes Auto. Georg warf einen Blick auf den Zündschlüssel in seiner klammen Hand, ließ ihn zurück in die Tasche fallen und stapfte fluchend zur nächsten U-Bahn Station.“

Schlichte Vorgänge auf diese Weise zu Szenen auszubauen ist zwar mühsam, kann aber sehr lohnend sein. Man sollte allerdings beachten, solche sinnlichen Ausschmückungen nur dann zu platzieren, wenn sie einem zügigen Handlungsverlauf oder der Zuspizung eines Konflikts nicht unnötig im Weg stehen.

Zu abstraktes Schreiben kann auch entstehen, wenn sich der Autor zu sehr auf das große Gefüge seines Realitätsentwurfs konzentriert und dabei dessen "Benutzeroberfläche", also das Erfahrungskontinuum seiner Figuren vergißt. Folgender Abschnitt aus dem Entwurf eines Fantasy-Romans beschreibt auf sehr abstrakte, technische Art einen zentralen Platz im Regierungsviertel einer Residenzstadt.

- „Die unüberschaubare Menge der Handlanger von Diplomatie, Bürokratie und Gerichtsbarkeit verrichtete eilig und gewissenhaft ihr Tagesgeschäft. Es schien, als liefen alle Nervenbahnen der Stadt an diesem Ort zusammen. Eine Flut von Empfindungen und Gesichtern stürzte auf Zervan ein. Jeder der vorbeieilenden Beamten und Händler, Advokaten und Tempelbonzen, Quästoren und Kuriere machte einen so erschreckend selbstsicheren Eindruck, daß er sich kaum zu rühren wagte.“ -

Was auf dem Platz tatsächlich geschieht, muß sich der Leser mühsam selbst zusammen reimen. Die Anhaltspunkte sind wenig ergiebig. Auch der Hinweis auf die Empfindungen des Protagonisten (Zervan) sind indirekt, wenig anschaulich und zudem redundant.

Mit wenigen konkreten Schlaglichtern kann man dieser abstrakten Beschreibung Lebendigkeit verleihen:

- „Man führte verurteilte Delinquenten ab, empfing Emissäre und Attachés, eilte mit Depeschen von Kammer zu Kammer oder erörterte bei einem Verdauungsspaziergang in den Arkaden des Gerichtspalastes die Baupläne für ein neues Kanalsystem in der alten Unterstadt. Es schien, als liefen alle Nervenbahnen der Stadt an diesem Ort zusammen. Die Beamten und Händler, Advokaten und Tempelbonzen, Quästoren und Kuriere eilten so erschreckend zielstrebig an ihm vorbei, daß Zervan sich kaum zu rühren wagte.“ -

Auf diese Weise wird der Platz nicht nur plötzlich von Figuren bevölkert, die konkrete Dinge tun, sondern der Protagonist wird auch mitten zwischen sie und mit ihnen in Beziehung gesetzt. Der Leser kann unmittelbar an dem Geschehen teilnehmen.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Karel Capek über die Arbeit des Schriftstellers (in: "Meteor", 1934)

"Phantasie an sich erscheint immoralisch und grausam wie ein Kind; sie gefällt sich in Schrecken und Lächerlichkeiten. Wie oft habe ich meine fiktiven Personen auf Wege des Leids und der Erniedrigung geführt, um sie desto inniger bedauern zu können! So sind wir Phantasieproduzenten: um ein Menschenleben zu würdigen oder zu bewerten, bereiten wir dem Betreffenden ein schweres Schicksal, erlegen ihm Kämpfe und Leiden größten Ausmaßes auf. Doch verbirgt sich dahinter nicht der eigenartige Ruhm des Lebens? Will ein Mensch zeigen, daß er nicht umsonst und nichtig gelebt hat, so nickt er und sagt: Ich habe viel durchgemacht. …
Ich versuche die Literatur wegen ihrer Vorliebe für Tragik und Spott zu entschuldigen. Beides sind nämlich Umwege, welche die Phantasie ersonnen hat, um mit ihren Mitteln, auf ihren unwirklichen Wegen eine Illusion von der Wirklichkeit zu schaffen. Die Wirklichkeit an sich ist weder tragisch noch lächerlich; sie ist viel zu ernst und unbegrenzt für das eine wie für das andere. Mitgefühl und Gelächter sind lediglich Erschütterungen, mit denen wir die Ereignisse außerhalb von uns begleiten und kommentieren. Rufen sie wie auch immer diese Erschütterung hervor, so erwecken sie zugleich den Eindruck, außerhalb von ihnen habe sich etwas Wirkliches abgespielt, desto wirklicher, desto stärker dieser gefühlsmäßige Schlag ist. Mein Gott, welche Tricks und Gaukeleien ersinnen wir Fachleute der Phantasie, um die verknöcherte Seele des Lesers gehörig und unbarmherzig zu erschüttern!"

Link zum aktuellen Kurs der Schreibwerkstatt März 2019: KLICK

Freitag, 12. August 2011

Die horizontale und die vertikale Wirklichkeit

Eröffnungsrede zur Ausstellung „Kreuzungen und andere Gebilde“ von Elke Suhr zum Jahresthema „Autos fahren keine Treppen“, Einstellungsraum e.V., Hamburg 2011

• Die horizontale Wirklichkeit

Die Automobilisierung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem lebensbestimmenden Faktor geworden; nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung, sondern vor allem dadurch, wie räumliche Beziehungen und die Muster der Bewegung neu definiert worden sind.
Die Funktion des Automobils ist das Davonstreben in der Fläche, das Verlassen des einen Ortes, um einen anderen zu erreichen. Doch werden durch die horizontale Bewegung von A nach B nicht nur die beiden Orte miteinander verbunden. Durch sie wird vor allem die Entfernung zwischen ihnen manifest.
Die durch das Automobil determinierten, auf zwei Dimensionen reduzierten Bewegungsmuster formen zudem unsere Vorstellung von Ordnung und Regulation und dadurch unsere Wahrnehmung. Auf diesem Umweg ist das Automobil zum dominanten Faktor der Gestaltung des Lebensraums selbst geworden. Seine Funktionsweise etabliert Wahrnehmungsschablonen und verlangt spezifische Strukturen, denen sich die Lebensführung und unsere Weltwirklichkeit auf Gedeih und Verderb unterzuordnen hat. Es sind Systeme entstanden, die in der Kulturanthropologie als „strukturierende Strukturen“ bezeichnet werden.

Lebendige urbane und dörfliche Kontexte sind geprägt von Multifunktionalität, d.h. Konzentration verschiedenster Funktionen an einem Ort. Dazu gehört auch eine starke Durchmischung verschiedener sozialer und ökonomischer Gruppierungen. Im Zuge der Automobilisierung wurden diese multifunktionalen Kontexte zusehends auseinander gerissen.
Amerika erlebte vor der Weltwirtschaftskrise einen wahren Bauboom, eine direkte Folge der Automobilisierung. Durch das Auto war es möglich, außerhalb der Stadt zu wohnen und dennoch  im Stadtzentrum zu arbeiten. Entsprechend wurden an den Rändern der Großstädte idyllische Einzelhaussiedlungen aus dem Boden gestampft. Bauwirtschaft und Immobilienspekulanten setzten einen ideologisierenden Werbefeldzug ohne gleichen in Kraft, der die wohlhabenden Bürger aus den Stadtzentren weglocken sollte. Dieser Trend, der sich bis heute fortsetzt, hatte eine ganze Reihe von drastischen Konsequenzen für die sozio-ökonomischen Gefüge der Städte: die Verödung der Zentren, die Konzentration von sozial schwächer gestellten Gruppen, die räumliche Trennung von Bevölkerungsteilen verschiedener Herkunft, den Beginn der Slum-Bildung, die Verschärfung sozio-ökonomischer Konflikte durch Fragmentierung der Gesellschaft und schließlich fortgesetzte Finanzkrisen gewaltigen Ausmaßes durch Immobilienspekulationen.
Ein in den deutschen Innenstädten seit langer Zeit besonders gut zu beobachtender Effekt dieser Entwicklung, ist der Tod des lokalen Einzelhandels zugunsten großer, spezialisierter, überregionaler Kaufhäuser und eine entsprechende Akkumulation von Kapital. In jüngster Zeit erleben wir außerdem eine Verdrängung sozial schwacher Gruppen aus den wieder attraktiv gewordenen Stadtzentren in leblose, durch den ÖPNV angebundene Trabantenstädte.
Das Ergebnis dieses Siegeszuges der horizontalen Wirklichkeit sind die weitgehende Monofunktionalisierung des Lebensraums, also die Trennung von Wohnen, Konsumieren und Arbeiten, sowie die Trennung von sozialen und ethnischen Gruppen. Die Gemeinwesen, die ehemals trotz sozio-ökonomischer Hierarschisierung wenigstens eine räumliche Identität teilten, wurden nahezu vollständig zerschlagen. Denn die Straßen zwischen den sozial unterschiedlich markierten Stadtteilen und Wohnvierteln verbinden sie nicht nur miteinander, sondern sie definieren auch die Entfernung zwischen ihnen. Sie machen das „Hier, nicht dort“ manifest und für jedermann erlebbar. Sie konkretisiert das Nicht-Zueinander-Gehören. Die Denkungsart, die von einem Leben in der horizontalen Wirklichkeit erzwungen wird, führt zu einer Fragmentierung des Lebens, zu einer Zerstörung des Gefühls einer Einheit des Lebensganzen.


• Die vertikale Wirklichkeit

Was bedeutet es hingegen, im Bewußtsein einer „vertikale Wirklichkeit“ zu leben? Natürlich sind die „Treppen“ des Jahresthemas nicht im wortwörtlichen Sinne zu verstehen. Sie stehen für keine profane, sondern vielmehr für eine metaphorische oder spirituelle Aufwärtsbewegung, die Bewegung auf eine Meta-Ebene, eine Bewegung, die durch ihre Nichtlokalität gekennzeichnet ist!
Die wichtigsten Aspekte der vertikalen Perspektive kann man sehr gut durch die zwei verschiedenen Blickrichtungen illustrieren, die durch sie ermöglicht werden, nämlich den Blick hinauf und den Blick hinunter:
Betrachten zwei voneinander getrennte Liebende im selben Moment den Mond, überwinden sie das horizontale Voneinander-Getrennt-Sein und sind in Gedanken beieinander. Die lokale Trennung wird aufgehoben durch das nichtlokale Ereignis, durch die Bewegung in die vertikale Wirklichkeit, das gedankliche Am-Selben-Ort-Sein.
Die Bedeutung des Blickes hinunter wird deutlich, wenn man sich eine Katze vorstellt, die versucht, das Muster eines Teppichs, auf dem sie sitzt, nachzuvollziehen, und nichts als ein regelloses Durcheinander einzelner Fäden erkennen kann. Erst wenn sie auf den Schrank gesprungen ist, fügt sich das scheinbare Chaos zu einem in sich geschlossenen Muster. Der verlorengegangene Überblick ist wieder hergestellt worden. Die Wirklichkeit, die durch das horizontale Auseinanderstreben zerrissen worden ist, wird wieder zusammengefügt.

Die Idee der nichtlokalen, vertikalen Wirklichkeit findet sich in nahezu allen Religionen der Erde als Idee des Weltmittelpunkts, der Weltachse oder der Himmelsleiter wieder, die den Aufstieg in eine übergeordnete Wirklichkeit ermöglicht, um von dort aus die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Vor allem im nordasiatischen und nordamerikanischen Schamanismus ist diese Denkungsart exemplarisch zu beobachten.
Der Anthropologe Joseph Campbell, dessen Untersuchungen auf diesem Gebiet, neben denen von Mircea Eliade, bahnbrechend gewesen sind, zitiert in seinem Werk „Die Kraft der Mythen“ den Sioux Schamane Schwarzer Hirsch:
»Ich sah mich auf dem Berg in der Mitte der Welt, der höchsten Stelle, und ich hatte eine Vision, denn ich schaute die Welt auf heilige Art. [...] Doch der Berg in der Mitte ist überall.‹
Das ist eine wirklich mythologische Erkenntnis. Sie unterscheidet zwischen dem lokalen Kultbild, Harney Peak, und seiner Konnotation als Zentrum der Welt. Das Zentrum der Welt ist die Axis Mundi, der Mittelpunkt, der Pol, um den sich alles dreht« (Campbell 1989, 97).

Der Punkt, an dem der Übergang von einer Bewegung in der horizontalen Wirklichkeit zu einer Bewegung in die vertikalen Wirklichkeit stattfindet, ist nicht-lokal. Er ist ideeller Natur. Der Übergang kann sich immer und überall ereignen.


• „Kreuzungen und andere Gebilde“

Der Titel, den Elke Suhr für ihre Ausstellung gewählt hat, verweist zunächst auf die Kreuzungen in der Horizontalen. Von dem sich Bewegenden aus gesehen, sind Kreuzungen vor allem Orte des Konflikts. An ihnen gilt es, seine eigenen Interessen, das Streben in eine bestimmte Richtung, mit den Interessen anderer Verkehrsteilnehmer abzustimmen, sonst würde es zum Unfall kommen. Will man keinen Zusammenstoß riskieren, muß also der Raserei der horizontalen Wirklichkeit Einhalt geboten werden. Deshalb sind Kreuzungen Orte, an denen man zum Stillstand kommt - entweder an einer Ampel oder durch einen Unfall.
Doch gibt es auch die Kreuzung der horizontalen und der vertikalen Bewegungsrichtung. Auch für diesen Richtungswechsel muß die horizontale Raserei unterbrochen werden. Das Innehalten an der Kreuzung im Straßenverkehr ist immer existentiell und deshalb unterschwellig mit der Frage nach Transzendenz und der vertikalen Wirklichkeit verbunden. Man hält an, um nicht in einem Unfall zu sterben oder andere umzubringen. Kreuzungen zwingen den Menschen, sich mit dem eigenen Tod, der Sterblichkeit sowie der Endlichkeit der horizontalen Wirklichkeit und ihren Davonstreben auseinander zu setzen.
Es ist den Beharrungskräften geistiger Trägheit und dem menschlichen Konservativismus anzulasten, daß der Richtungswechsel in die vertikale Wirklichkeit meist erst durch einen Unfall erzwungen werden muß. Es muß eine schockartige Erweckung aus der horizontalen Raserei stattfinden. Neben dem alltäglichen Tod auf unseren Straßen bieten die Nachrichten zahllose grausame Beispiele solcher Unfälle im großen Maßstab, wie z.B. die Ölkatastrophe von Deep Water Horizon, die erschreckend wenig Konsequenzen gezeitigt hat, oder die Auswirkungen des Klimawandels und das Atomdesaster von Fukushima, die weltweit ein lange überfälliges, neues Denken anregen.
Man kann nicht ungebremst, bis in alle Ewigkeiten weiter rasen. Die fixe Idee des unendlichen Wachstums ist illusorisch und gefährlich. Automobiler Eskapismus ist kein Ausweg. Das horizontale Modell der Wirklichkeit hat abgewirtschaftet.
Aus diesem Grund thematisiert Elke Suhr in ihren Bildern immer wieder den Unfall, den Kataklysmus, der die Raserei zu einem jähen Stillstand bringt und einen erhöhten Blick auf eine auseinander gerissene Wirklichkeit erzwingt.


• Die Bildleiter

Die Bildleitern Elke Suhrs bestehen jeweils aus drei übereinander angeordneten, durch zwei seitlich angebrachte Leisten miteinander verbundenen Fotografien.In ihnen werden zunächst die Prinzipien „Straße“ und „Leiter“ einander gegenüber. Die Straße macht räumliches Getrenntsein von zwei Orten manifest. Die Leiter hingegen überwindet diese Trennung auf quasi-dialektischem Weg, denn sie braucht zwei voneinander getrennte Standpunkte, um eine Bewegung in die vertikale zu ermöglichen. Durch das Zusammenwirken der voneinander getrennten Standpunkte wird das horizontale Getrenntsein transzendiert.

(Bildleitern im Atelier Elke Suhrs, copyright E. Suhr, 2011) 

Wie weiter oben schon erwähnt, ist die Leiter in zahlreichen Kulturen Symbol für spirituellen Aufstieg. Dieser Aufstieg beschreibt den Weg von einer profanen, stofflichen, horizontalen Wirklichkeit hinauf in eine geistige, umfassendere Wirklichkeit der Ideen, der Geister oder Götter. Diese Bewegung wird in den Bildelementen der Leitern nachvollzogen.
Auf den meisten Bildleitern von Elke Suhr wird im unteren Bereich das Konkrete, Irdische, oft auch ein Akt der Zerstörung abgebildet, z.B. das Aufbrechen einer Straßendecke, das wiederum ein Innehalten in der Raserei erzwingt. Die aufsteigenden Bilder gehen Schritt für Schritt den Weg in die Abstraktion, oft in Form digitaler Auflösungen. Auf der obersten Stufe finden wir nur noch die luftige Skizze, die gegenstandslose Geste, die reine Idee.

Auf einer anderen Bildleiter sehen wir eine menschliche Figur bei der mühevollen Überquerung der horizontalen Straße. Sie ist zwischen zwei Asphaltflächen eingespannt, deren querlaufende Mittellinien selbst wie Leiterholme wirken. Man gewinnt den Eindruck, als beobachte man den versuchten Aufstiegs eines orientierungslosen Menschen aus einer profanen, endlosen Ödnis hinauf in eine höhere Wirklichkeit; eine Konstellation, die an das Menschenbild des Thomas von Aquin erinnert, der den Menschen als ein Wesen begriff, das sich abmüht, von einem tierischen Zustand in einen engelsgleichen überzugehen, doch sich erst auf halben Wege dahin befindet.


• Die Malerei

Um die Malereien Elke Suhrs zu lesen, muß man zunächst verstehen, daß sie sich nicht mit der diskursiven Frage nach dem Bild an sich und seiner medialen Kontextualität beschäftigen, auch wenn sie sich verschiedener Zitate aus anderen Medienkontexten bedienen. Von Bedeutung sind in erster Linie die semantischen Inhalte, die inneren Bilder, die sie repräsentieren.

Die augenscheinlichste Besonderheit der Malereien ist die überraschende Wahl des Formats: das auf die Spitze gestellte Quadrat. Die Ecken der Bilder wirken dadurch wie Bewegungsvektoren. Das konventionelle und statische „Oben“ und „Unten“ ist einem dynamischen, drängenden „Hinauf“, „Hinunter“ und „zur Seite“ gewichen.
Als Bildinhalte sind immer wieder Kataklysmen gewählt, die die horizontale Raserei unterbrechen oder das Sinnlose des Glaubens an den eskapistischen Fetisch des Automobils deutlich machen. Man sieht Wagen, die wie Riesenspielzeug von der Gewalt des Tsunamis durcheinander geworfen sind, oder Autos, die in einen gewaltigen Strudel gezogen werden, hinab zum Nadir.
Man sieht ein einzelnes Wrack, wohl in einer Kollision umgeworfen, das schon zu Linien aus Staub zerfällt und dadurch in seine existentielle Unwirklichkeit und Bedeutungslosigkeit überführt wird. Aus dem Wrack steigt eine Treppe auf. Die Farben ihrer Stufen entsprechen den yogischen Chakren und den ihnen zugeordneten kosmischen Elementen. Sie beschreiben den Aufstieg von Erde über Wasser, Feuer, Wind und Äther bis zum Geist und schließlich zum allumfassenden Universum, der wiederhergestellten Einheit.
Auf einem anderen Bild tritt uns Dürers „Nemesis - Das große Glück“ entgegen, eine Allegorie in Anlehnung an ein Gedicht des Renaissancedichters Angelo Poliziano, der die kataklystische Rachegöttin Nemesis gleichsetzt mit der Glücksgöttin Fortuna, die zwar Glück schenkt, aber gleichzeitig für die, die das rechte Maß nicht kennen, Vernichtung bringt.

Zwischen all diesen Kräften, die Elke Suhrs Bilder in alle Richtungen zu zerreissen scheinen, entdeckt man erst nach einigem Betrachten ein weiteres Element, das allen zu eigen ist: Es ist eine gestische Schleife, die alle anderen kompositorischen Elemente durchwirkt, als ob mit ihr die auseinander strebenden Vektoren, die von selbstverschuldeten Katastrophen zerrissene Wirklichkeit zusammengehalten werden soll. Etwas in den Bildern ringt, allem Wahnsinn zum Trotz, um die Wiedererlangung der verlorenen gegangenen Einheit.
In der alchimistischen Symbolik, auf die Elke Suhr in ihrem Werk immer wieder referiert, findet sich ein analoges Zeichen: das Bild der in sich verschlungenen Schlangen. Es steht für den verbindenden, schöpferischen Akt, für den Ausgleich zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip. Die Schlangen, gleichwohl wie die gestischen Schleifen, erfüllen dieselbe, oben angesprochen Funktion der Leiterholme: sie überwinden das lokale (auch sozio-ökonomische) Getrenntseins zugunsten nichtlokaler Transzendenz. Sie ermöglichen den Aufstieg in eine höhere, vertikale Wirklichkeit, die den Blick für die verloren gegangen Einheit öffnet.

Dr. Thomas J. Piesbergen, Mai/August 2011


Literatur:

• Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes, Stuggart, 1987
• Joseph Campbell, Die Kraft der Mythen, Zürich, 1989
• Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Extasetechniken, Frankfurt a.M., 1975
• Anthony Giddens, Central Problems in Social Theory: Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London, 1979
• James Howard Kunstler, Geography of Nowhere, New York, 1993
• Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft, München, 1982
• Thomas Piesbergen, Der kontextuelle Raum, Oxford, 2007
• Thomas Piesbergen, Ein Modell zur Genese kosmologischer Konzepte und ihrer Repräsentation im Raum, in:
Müller-Scheeßel (Hg.), Der gebaute Raum, Münster, 2010
• Matthias Rösener, Dialektik der Kontrolle, Münster, 1998
• Richard Sennet, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Frankfurt, 1986

Mittwoch, 10. August 2011

8 Haiku für einen verregneten Sommer

Thomas Piesbergen


Am Tag, wie des nachts
brennt die Lampe im Dunkel
des Sommerregens


Ich gehe ins Haus
Nun wacht über den Garten
das Fräulein Spinne


Nach dem Wolkenbruch:
das Abendlied der Amsel
tönt umso lauter


Nach dem schwülen Tag
beim Schuppen in der Tonne
murmeln die Tropfen


Gehüllt in den Pelz
des warmen Sommerregens:
der Heimweg des nachts


Die letzten Klänge
in der lauen Regennacht:
Schritte und Türen


Es rauscht als wolle
der Sommerregen die Nacht
noch heut ertränken


Ganz platt und zerzaust
neben der Regentonne:
prächtiger Klatschmohn


Sonntag, 22. Mai 2011

Die Überarbeitung literarischer Figuren und ihrer charakterlichen Kontinuität

Es wird oft davon gesprochen, daß sich literarische Figuren während der Entstehung eines Textes verselbständigen und anfangen, ein Eigenleben zu führen. Sie tun plötzlich Dinge, mit denen ihre Schöpfer nicht gerechnet haben. Das ist leider - und zum Glück! - sehr wahr.

Im Laufe des Schreibprozesses, vor allem in Plot-orientierten Geschichten, kommt es häufig vor, daß sich die Figuren unmerklich verändern. Der Autor lernt seine Figuren meist erst während des Schreibens richtig kennen. Er hat zunächst nur eine vage Vorstellung von ihnen. Ihren wahren Charakter zeigen sie erst, wenn sie in Aktion treten und mit Situationen konfrontiert werden, in denen sie kohärent und überzeugend agieren müssen.
Das kann durchaus positiv sein, wenn sie im Laufe der Geschichte z.B. kraftvolle und „publikumswirksame“ Charakterzüge entwickeln, die zu Beginn des Textes nur undeutlich angelegt waren.
Die Figur (und mit ihr der ganze Text!) kann aber auch erheblichen Schaden nehmen, wenn sich im Laufe der Handlung zu viele unterschiedliche Charakterzüge zeigen oder sich zu viele Einfälle für ihre Vorgeschichte eingeschlichen haben. Die Figuren wirken dann verschwommen und uneinheitlich. 
Oft sind Geschichten auch so konzipiert, daß wichtige Charakterzüge erst spät im Handlungsverlauf zum Tragen kommen, die Figur bis dahin jedoch schon eine ganz andere, ebenfalls interessante, aber gegenläufige Entwicklung durchgemacht hat.

Für eine Revision der Figuren und ihrer charakterlichen Konstanz ist es wichtig, daß man zunächst einen gesunden Abstand zu dem eigenen Text bekommt. Man sollte ihn wenigstens drei Monate in der Schublade liegen lassen. Dieser oft gegebene Ratschlag hat im Falle der Charakterrevision folgenden sinnvollen Effekt: Das menschliche Gedächtnis hat die Eigenschaft, Vorgänge und Zusammenhänge in der Erinnerung zu kohärenten Muster zu vereinfachen. Auch literarische Charaktere werden auf diese Weise schematisiert und auf ihre markantesten und bedeutendsten Wesenszüge reduziert.
Beginnt man also mit der Revision einer Figur, sollte man zunächst aus der Erinnerung die wichtigsten Eckwerte festlegen. Das sind:

1. Die herausragende positive Eigenschaft
2. Die markanteste Schwäche
3. Eine charakterliche Besonderheit (optional)
4. Eine Marotte (optional)


1. Die herausragende positive Eigenschaft

Die herausragende positive Eigenschaft trägt den Charakter. Sie sollte das Bild des Protagonisten von der ersten Seite an prägen! Gemeint ist damit eine charakterliche Stärke wie z.B. Tatkraft, Einfühlsamkeit, Hilfsbereitschaft, Mut, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Uneigennützigkeit, Herzensgüte, Unrechtsbewußtsein,  Verantwortungsgefühl, Gutmütigkeit, Loyalität, Gewissenhaftigkeit etc.
Die herausragende positive Eigenschaft muß Sympathie für den Protagonisten hervorrufen und  dadurch die Identifikation mit ihm erleichtern. Außerdem sollte sie, unabhängig von dem Plot der Geschichte, der maßgebliche Handlungsimpuls der Figur sein.

Bei der Überarbeitung einer Figur sollte man sich folgende Fragen zu der herausragenden positiven Eigenschaft stellen:

Wird die herausragende positive Eigenschaft früh genug und deutlich genug eingeführt?
Blitzt sie in jeder Szene der Figur auf?
Motiviert sie das Handeln der Figur durchgehend und maßgeblich?


2. Die markanteste Schwäche

Die markanteste Schwäche sollte bestenfalls die Kehrseite der herausragenden positiven Eigenschaft sein. Der Widerpart von Tatkraft kann Aktionismus sein, Mut kann in eitle Tollkühnheit umschlagen, Unrechtsbewußtsein kann in Rachsucht münden, Gewissenhaftigkeit kann mit Pedanterie einhergehen, Zuverlässigkeit kann sich zu Halsstarrigkeit wandeln, Aufrichtigkeit geht oft Hand in Hand mit Naivität und von Umsichtigkeit zu Feigheit ist es nur ein kleiner Schritt.
In jedem Fall muß die Schwäche aber eine organische Verbindung mit der positiven Eigenschaft eingehen! Eine Figur, die von großer Entschlußkraft und von Tatendrang geprägt ist, gleichzeitig aber opportunistisch agiert, ist unglaubwürdig. Ein Idealist, der mit einem starken Unrechtsbewußtsein ausgestattet ist, aber bei jeder kleinen Gelegenheit lügt, daß sich die Balken biegen, funktioniert nicht als Figur, es sei denn, er ist schizoid.
Bei Protagonisten und anderen positiv besetzten Figuren sollte man darauf achten, daß sich die markante Schwäche nicht zu früh zeigt. Sie sollte einer anfänglichen Identifikation nicht im Wege stehen und der Figur erst nach einer Weile mehr Tiefe und Konfliktpotenzial geben.
Die markanteste Schwäche sollte dementsprechend auch eine zentrale Rolle im persönlichen Konflikt der Figur spielen. Sie sollte zu einer langfristigen Eskalation führen und im Kleinen immer wieder dazu beitragen, angespannte und kritische Situationen und Konfrontationen zu verursachen oder zu verschärfen.

Bei der Überarbeitung sollte man sich folgende Fragen zu der markanten Schwäche stellen:

Tritt die markante Schwäche zu einem geeigneten Zeitpunkt auf?
Wird ihr Konfliktpotenzial deutlich genug?
Wird das Konfliktpotenzial der Schwäche dramaturgisch auch wirklich ausgenutzt?


3. Eine charakterliche Besonderheit

Besonderheiten und ungewöhnliche Aspekte können Figuren farbiger machen. Es kann sich dabei um eine ungewöhnliche Vorliebe, eine Abneigung, eine ärgerliche Angewohnheit, eine Krankheit, eine besondere Lebenssituation oder ähnliches handeln. Die charakterliche Besonderheit wird vor allem in Krimis überdeutlich genutzt, um die Ermittler interessant und lebendig zu gestalten. Fast kein Kommissar oder Detektiv, der nicht gerade aufhört zu rauchen, spielsüchtig ist, in Scheidung lebt, ein absonderliches Hobby oder eine skurrile Phobie hat... Hier droht jedoch die Gefahr, daß man zugunsten dieser publikumswirksamen Kennzeichen den eigentlichen Charakter vernachlässigt.
Die Besonderheit sollte gut auf die zentralen positiven und negativen Eigenschaften abgestimmt sein. Sie sollte sich nie zu sehr in den Vordergrund drängen. Manchmal können verschiedene Besonderheiten nebeneinander bestehen, man sollte sich aber niemals in einem unübersichtlichen Netz aus Skurrilitäten verstricken!

Folgende Fragen sind bei einer Überarbeitung zu beachten:

Ist die charakterliche Besonderheit wenigstens einmal mit der Handlung verflochten? Provoziert oder verschärft sie einen Konflikt, leitet sie eine dramaturgisch kluge Verzögerung oder Ablenkung ein oder führt sie eine unvorhergesehene Wendung herbei?
Überlagert sie zu keinem Zeitpunkt die Hauptmerkmale der Figuren? Oder drängt sie sich zu sehr in den Vordergrund?


4. Eine Marotte (optional) 

Die Marotte dient vor allem dazu, eine Figur durch markante Signale schneller gegenwärtig zu machen und zu visualisieren oder durch einen unauffälligen Fingerzeig auf bestimmte Charakterzüge zu verweisen.
Eine Marotte kann z.B. eine nervöse Angewohnheit sein, wie das Kauen auf den Fingernägeln, das Zupfen an der Unterlippe, das Saugen am Schnurrbart oder stetes Räuspern. Eine Marotte kann auch eine auffällige Mimik, ein schiefes Grinsen, Augenbrauensträuben oder auch eine bestimmte Art zu reden sein, ein bestimmter Jargon, auffällige Auslassungen, doppelte Verneinungen, Füllwörter etc.

Hat man Marotten eingesetzt, sollte man bei der Überarbeitung auf folgende Aspekte achten:

Ist die Marotte früh und deutlich eingeführt?
Wird sie lediglich an Stellen eingesetzt, wo der bezweckte Effekt erwünscht ist?
Hat keine andere Figur die gleiche Marotte? Wenn eine Figur sich bei Anspannung an die Nase fäßt, darf keine andere Figur im Text sich an die Nase fassen! Wenn jemand hüstelt oder sich immer wieder räuspert, darf es keine andere hüstelnde Figur geben!


Ganz allgemein gilt für die Revision von Charakteren und ihrer Konstanz, daß die Eigenschaften, Besonderheiten und Marotten in allen Situationen, in denen sie von den Gegebenheiten abverlangt werden, auch tatsächlich in Erscheinung treten!
Wenn z.B. eine Figur Höhenangst hat, muß sie sich immer fürchten, wenn sie großer Höhe ausgesetzt ist, nicht nur, wenn es gerade dramaturgisch paßt! Denn oft geschieht es, daß sich gerade solche Eigenheiten erst im Laufe eines Textes ergeben und der Autor nicht bedenkt, die Figuren auch im vorangegangen Text entsprechend agieren zu lassen.

Besonders wenn man das Gefühl hat, einzelne Figuren werden im Laufe eines Textes immer wieder undeutlich, sollte man ihre charakterliche „Checkliste“ vor jeder Szene, in der sie auftreten, noch einmal durchgehen, bevor man sich an die Arbeit macht.

Freitag, 29. April 2011

Neue Veröffentlichung: Hühnerhaus Volksdorf.Kunst


Mit Beiträgen von: 
Dr. Thomas Piesbergen, Dr. Johannes Lothar Schröder, Dr. Undine Eberlein, Andreas Kohlschmidt, Doris Cordes-Vollert, Adriane Steckhan et.al.

Erschienen im April 2011
Hyperzine Verlag

ISBN 978-3-938218-54-9
Ladenpreis 10,- €

Mittwoch, 23. März 2011

Neue Veröffentlichung: HYBRID

HYBRID - Künstlerinnen und Künstler reflektieren das Hybride des Hybriden
Dokumentation des Jahresprojekts 2010, Einstellungsraum e.V., Kunst im Straßenverkehr

Mit zwei Beiträgen von Thomas Piesbergen. Ebenfalls beteiligt: Elke Suhr, Norbert Wilting, Marnie Moldenhauer, Antje Bromma, Hans Brückner, Katsuya Murano, adapter | Nicole Schuck, Claudia M. Kochsmeier, Peter Guttenhöfer, Johannes Lothar Schröder, Gabriele Künne, Juro Grau, Carsten Benger, Yann-Vari Schubert, Das Kombinat PSP, MalteSteiner




Erschienen im Februar 2011
Hyperzine-Verlag

ISBN 978-3-938218-55-6
Ladenpreis 9,- €

Donnerstag, 10. März 2011

Sechs Frühlings-Haiku

Thomas Piesbergen


Im Morgenwind schwankt
schwer von tauendem Eis
ein Kirschblütenzweig


Noch unordentlich
in erster Frühlingssonne
ungeschnittenes Gras


Ein Baum, weiß beflockt -
Oh, welche Überraschung!
Blüten statt Neuschnee!


Der knospende Zweig
Er wagt kaum sich zu rühren
aus Angst vor dem Frost


Verschatte den Blick.
Viel zu hell in der Sonne
das Weiß der Blüten


An dem dunklen Teich
spähend nach Blütenschiffchen
Kind und Großvater

Dienstag, 11. Januar 2011

17 Strategien gegen Schreibhemmungen

Link zum aktuellen Kursangebot Oktober 2020: KLICK
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Die Schreibhemmung und ihr großer Bruder, die Schreibblockade, sind ein Mythos - wenn man sich entschieden hat, nicht an sie zu glauben. Und Mythen, an die man nicht glaubt, suchen einen nicht heim. Geht man derart gewappnet an die Arbeit und begreift das Schreiben als einen gewöhnlichen Arbeitsprozess mit all seinen Höhen und Tiefen, der wie jedes Tagwerk bewältigt werden muß, wird man mit großer Sicherheit niemals von dem horror vacui heimgesucht werden und das Leiden am Scheitern vor dem Text nie kennen lernen. Denn Schriftsteller sollten im Prinzip ebensowenig Schreibhemmungen haben, wie Bäcker Backhemmungen oder ein Busfahrer Fahrhemmungen.
Sollte man aber durch einen dummen Zufall in ein Paralleluniversum rutschen, in dem es diese verflixten Schreibhemmungen doch Schreibhemmungen gibt, sind, genau wie beim Schreiben, klar definierte Strategien nötig, um den stumpfen, unkreativen Zustand zu überwinden.

Jede Schreibhemmung hat andere Ursachen. Zunächst ist es also unbedingt notwendig, sich zu vergegenwärtigen, warum man mit dem eigenen Text nicht mehr vorankommt. Erst dann kann man sinnvoll Gegenmaßnahmen einleiten.



1. Wortfeldersuche

Oft sind es nur Kleinigkeiten, über die man in eine Schreibhemmung hineinstolpert. Die richtigen Worte fehlen. Man bekommt nicht auf den Punkt, was man zu sagen hat. Hier kann schon ein kurzer Blick in ein Synonymlexikon helfen. Ich selbst bevorzuge dabei Online-Lexika wie das Wortschatzprojekt der Uni Leipzig oder das Woxikon, die auch Antonyme, Dornseiff- Bedeutungsgruppen etc. anbieten. Nicht selten kommt mir während der Suche ein noch viel treffenderer Ausdruck in den Sinn, als der, nach dem ich vergeblich gesucht habe. In jedem Fall hilft es, mit einem erweiterten Wortschatz die Langeweile, die man vielleicht angesichts des eigenen Textes verspürt, zu vertreiben.


2. Erst schreiben, dann korrigieren

Oft wirkt der Anspruch, auf Anhieb etwas Großartiges schreiben zu wollen, hemmend. Hier hilft es, wenn man sich Hemingways Diktum vom ersten Entwurf in Erinnerung ruft: „Der erste Entwurf ist immer Mist.“ Es ist nicht nötig, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Alles, was man schreibt, kann später überarbeitet und verbessert werden. Es ist bedeutend einfacher, sich einen schlechten Text vorzunehmen, die Fehler zu analysieren und den Text zu reparieren, bis er schließlich überzeugt, als auf Anhieb etwas zu schreiben, das über jeden Zweifel erhaben ist.
Mit diesem Trick kann man den eigenen Leistungsdruck und die Erwartungshaltung an das eigene Können aushebeln. Man wird lockerer.


3. Vorangegangenes überarbeiten

Wenn der Zugang zum Textfluß, dem Konflikt oder den Figuren fehlt, da man zu lange pausiert hat oder leicht durch Alltagsprobleme abgelenkt wird, ist es ratsam, den schon fertiggestellten Text zu überarbeiten. Einerseits gewinnt man  den rechten Abstand zum ersten Entwurf, denn man bekommt während der Überarbeitung wieder ein Gefühl dafür, wie aus halbgaren Passagen großartige Szenen werden können. So hat man weniger Angst, neue Abschnitte in Angriff zu nehmen. Andererseits bekommt man wieder ein Gefühl für den eigenen Text, kann sich in die Figuren hineinversetzen, die verschiedenen Handlungsfäden wieder in den Griff bekommen und aus der Logik des Textes heraus weiterarbeiten, in dem man charakterlichen und dramaturgischen Notwendigkeiten folgt.


4. Rituale etablieren

Oft schafft man nicht den Sprung aus der Alltagsrealität in die Buchrealität und kann das Hintergrundrauschen nicht abschalten. Dann ist es sinnvoll, Rituale zu etablieren, die das Schreiben klar vom Alltag abgrenzen: Feste Uhrzeiten einhalten, den Schreibtisch aufräumen, Teekochen, Lichtverhältnisse ändern etc. Auf diese Weise fokussiert man sich und es fällt leichter, wieder im Text Fuß zu fassen.


5. Atmosphärische Bedingungen schaffen

Wenn sich trotz Ritualen nicht die richtige Atmosphäre einstellen will, kann man für einen entsprechenden assoziativ unterstützenden Rahmen sorgen. Krimi-Autorin Beate Maxian z.B.  teilt jedem Kapitel eine bestimmt Musik, einen Soundtrack zu. Um zu schreiben, stimmt sie sich mit dem jeweiligen Soundtrack ein. Ich selbst stimuliere mich mit Hintergrundbilder auf meinem Computer, die zu dem Setting der Geschichte oder der Szene, an der ich arbeite, passen. Sobald der Monitor angeschaltet wird, kehren die Gedanken automatisch zu der gerade bearbeitete Situation zurück. Man kann vor der eigentlichen Arbeit Bildbände o.ä. zum Thema anschauen, um das gewählte Setting besser visualisieren und die nötige Atmosphäre besser etablieren zu können.


6. Ungestörte Arbeitssphäre schaffen

Damit man sich nicht selbst permanent ablenkt oder leicht abgelenkt werden kann sollte man:
- den Arbeitsplatz so frei machen, daß nichts mehr darauf ist, das nicht mit dem Schreiben in Verbindung steht: keine Familienfotos, keine Rechnungen, keine Zeitschriften, keine Terminkalender, keine Briefe, keine anderen Projektmaterialien etc. !
- Zeiten mit der Familie vereinbaren, zu denen man absolut ungestört bleiben soll. Dadurch fühlt man sich zudem sich selbst gegenüber verpflichtet, die Zeit zu nichts anderem zu nutzen, als zu schreiben.
- alle anderen Medien und Störfaktoren verbannen: Telefon leise schalten, Mobiltelefon aus, E-Mail-Programm aus, Radio & Fernsehen aus, Klingel abschalten.
- wenn nötig das Zimmer abdunkeln.
In manchen Fällen ist es auch hilfreich, sich ein „kontrollierendes Umfeld“ zu schaffen, d.h. sich in eine Situation oder an einen Ort begeben, an dem erwartet wird, daß man ruhig und konzentriert arbeitet, wie z.B. in einer Bibliothek. Hier kann man sich auch mithilfe seines Selbstbilds überlisten: Man hat sich vorgenommen ein Buch zu schreiben und so soll man auch in den Augen der anderen erscheinen.  


7. Durchlüften

Wenn man mit der Entwicklung einer Szene, der Auflösung eines Konflikts und anderen dramaturgischen Problemen nicht zurande kommt, kann es sehr hilfreich sein,  lange Spaziergänge zu machen, um sich das Problem gedanklich vorzunehmen. Damit ist nicht Joggen gemeint!
Es gibt kaum etwas, das das Gehirn so ganzheitlich anregt, wie ein Spaziergang. Der Gehrhythmus entspannt, das stete, ruhige Fluten der Eindrücke inspiriert und die Absichtslosigkeit läßt Spielraum, Gedanken zu entwickeln. Selbst wenn sich auf der Oberfläche nichts Markantes ereignet, arbeiten die Gedanken im Hinterkopf weiter und formieren sich oft unbemerkt zu etwas Neuem. Um keine Eingebungen und Texteinstiege unterwegs zu vergessen ist es ratsam, ein Diktiergerät oder ein Notizbuch dabei zu haben.
Wichtig: Mobiltelefon abschalten! Den Spaziergang keinesfalls mit einem Zweck verknüpfen (Einkaufen o.ä.)! So zeitig zurückkehren, daß man anschließend sofort weiter arbeiten kann!


8. Ortswechsel

Wenn einem zuhause die Decke auf den Kopf fällt oder es nicht möglich ist, sich abzuschotten und Ablenkungen zu vermeiden, sollte man an einen Ort gehen, an dem man konzentriert arbeiten kann. Ganz nach Veranlagung kann es eine Bibliothek sein, ein Cafe, die U-Bahn, ein Park etc. Manchen fällt die Konzentration an Orten leichter, die in keinem Zusammenhang mit ihrem Projekt stehen. Der Text kann dann als „Fluchtort“ genutzt werden, z.B. wenn man an einem historischen Liebesroman in einem Waschsalon schreibt. Andere Schriftsteller profitieren wiederum davon, an Orten zu schreiben, deren Atmosphäre sich unmittelbar im Text niederschlagen soll. Es kann z.B. hilfreich sein, Passagen eines gotischen Horrorthrillers in einer alten Kirche zu schreiben.
Wie immer gilt: alle Kommunikationsmedien ausschalten!


9. Referenzmaterial suchen

Oft kommt es vor, daß einzelne Szenen Probleme bereiten, da man keinen richtigen Ansatzpunkt findet. Man weiß, was die Szene transportieren soll, aber man weiß nicht, wie man es am besten anstellt. In diesem Fall kann ein Griff in das Bücherregal Lösungswege eröffnen. Überlegen Sie, wie die Szene verlaufen soll, welche Stimmung in ihr vorherrscht, was für ein Konflikt und welche Entwicklung thematisiert wird. Dann fragen sie sich, wie ähnliche Situationen in Büchern gelöst worden sind, die sie schon gelesen haben. Suchen und lesen Sie die entsprechenden Passagen. Wichtig dabei ist, nur in Büchern zu stöbern, die sie bereits gelesen haben. (Neues lenkt zu sehr ab, fordert die Neugier heraus und tauscht ein unbekanntes Terrain gegen ein anderes aus.) Bestenfalls sollte man mehrere Referenzen heranziehen.
Diese Vorgehensweise kann wie eine Frischzellenkur wirken. Man vergißt zu oft, wie eigenständig der „Sound“ und  Stil anderer Schriftsteller ist, wie andersartig man Dinge ausdrücken und wie elegant man dramaturgische Probleme lösen kann. Hat man das eigene Problem im Hinterkopf, können selbst Passagen, die sich eigentlich mit einer anderen Problematik beschäftigen, unerwartete Impulse geben. Der Mensch hat die Angewohnheit, in allem nach Mustern zu suchen, deshalb sieht man meist nur das, wonach man sucht. Andererseits findet man das, was man sucht, fast überall in anderem Gewand, da man das Gelesene im Sinne des eigenen Themas umdeutet. So entstehen häufig neue, unerwartete Zugänge zum eigenen Problem.


10. Vorbeugen: Überhang lassen

Eine Technik, die die Schriftstellerin Ursula Krechtel empfiehlt, besteht darin, immer an Punkten der Handlung abzubrechen, an denen die weitere Entwicklung feststeht und sich notwendig aus der aufgebauten Spannung ergibt. Bestenfalls bricht man also auf dem Höhepunkt einer Szene ab. In der nächsten Arbeitseinheit hat man sofort einen Ansatzpunkt und kann das beenden, was das letzte mal liegen geblieben ist. Ist das erledigt, ist man in der Regel so gut im Tritt, das man die nächste umfangreiche Szene problemlos angehen kann.


11. Arbeitsschritte definieren

Wenn einzelne Szenen, die man angehen will, übermächtig erscheinen und man dazu neigt, sich in seiner eigenen, vielschichtigen Imagination zu verfransen, sollte man zunächst genau analysieren, was man mit der nächsten Szene erreichen will. Ausgangspunkt, Endpunkt und Entwicklung von A nach B sollten erneut exakt formuliert werden. Es sollte genau geklärt werden, welche Elemente und Figuren nötig und welche überflüssig sind. Ist das geschehen, sollte die Szene in einzelne Akte oder Teilschritte unterteilt werden, die eine klar definierte Funktion haben (z.B. 1. atmosphärische Beschreibung des Schauplatzes / 2. Auftritt von X, X charakterisieren bzw. Konfliktpotenzial deutlich machen / 3. Auftritt von Y, Konfrontation einleiten / 4. verdeckte Konfrontation / 5. Eskalation / 6. offene Konfrontation / 7. unerwartete Wendung durch infame Enthüllung / 8. Kapitulation von X / 9. Triumph und spannungsreicher Handlungsausblick von Y). Anschließend werden die einzelnen Abschnitte  Schritt für Schritt abgearbeitet. Das klingt sehr starr, kann aber ausgesprochen hilfreich sein, um wenigstens die erste Fassung einer Szene zuende zu schreiben. Und die erste Fassung ist ja nur eine erste Fassung...


12. Ansatz neu strukturieren

Wenn man wieder und wieder bei einer Szene ansetzt und es einfach nicht gelingen will, sie in Gang kommen zu lassen, stimmt vielleicht etwas mit der Szene nicht.
Nun muß man klären, ob die Szene wirklich notwendig ist. Kann man nicht alles, was in ihr transportiert werden soll, anders unterbringen? Kann man mit einer Umstellung der Chronologie etwas erreichen? (Die Szene fängt z.B. nicht mit Situation A an, sondern mit C. Die Situationen A und B werden später in Rückblenden geliefert.) Hat man die Entwicklung der Szene vielleicht so angelegt, daß sich der Protagonist seinem Charakter unangemessen verhält? Sind Figuren überflüssig oder fehlen welche? Kann man durch eine Änderung der Perspektive Leben hinein bringen? Kann man das, was man transportieren möchte nicht auch - oder sogar viel besser - in einer völlig neuen, alternativen Szene umsetzen?


13. Ebene wechseln

Wenn die Arbeit am Text einfach nicht gelingen will, kann es sehr hilfreich sein, darüber in Form eines Journals, eines Briefes oder eines Tagebuches zu schreiben: Was man eigentlich machen will, wie die Figuren sich entwickeln sollen, woher die Idee kam, warum man nicht damit klarkommt etc. Dieses Vorgehen ist auf mehreren Ebenen effektiv:
1. Man schreibt immerhin und setzt dadurch das Räderwerk wieder in Gang
2. Man gewinnt dadurch sehr wahrscheinlich eine neue Perspektive auf den eigenen Text, da man gezwungen ist, das Vorhaben und die Probleme genau zu formulieren
3. Es können spontan und nahezu absichtslos neue Abschnitte des eigentlichen Textes entstehen.


14. Projekt vorübergehend wechseln

Egal wie gut oder schlecht ein Text ist: Jeder Text, der entsteht, ist besser als der Text, der nicht entsteht. Wenn ein großer Roman nichts werden will, warum nicht einfach eine kleine Nebenidee zu einer eigenständigen, kurzen Erzählung ausbauen? Warum nicht ein paar Gedichte oder einen Songtext schreiben? Warum nicht ein paar Schreibübungen machen? z.B. eine Figur nur durch die Beschreibung ihres Wohnzimmers charakterisieren; den ersten Absatz eines spannenden, fiktiven Romans schreiben; einen Streit zwischen zwei Liebenden in 10 Sätzen durchspielen; eine Figur nur durch die Beschreibung ihres Äußeren und ihrer Handlungsweise charakterisieren; aus 3 zufällig gewählten Begriffen aus einem Lexikon eine Szene konzipieren etc.pp.
Durch Nebenprojekte und Übungen bleibt man am Ball und beschäftigt sich mit dem Schreiben. Da man sich meist mit einem sehr ähnlichen Themenkomplex beschäftigt, ergeben sich oft ganz neue Ansätze oder Szenen für das langfristige Projekt. Vielleicht kann man ja sogar die gleiche Geschichte aus einer völlig anderen Perspektive, mit anderen Mittel erzählen? Schließlich sammelt man handwerkliche Erfahrungen und gewinnt Abstand, um sich dem eigentlichen Text kritisch zu nähern und aufzuspüren, was nicht mit ihm stimmt.
Solche Nebenprojekte können außerdem eine wahre Labsal sein, wenn man sich in der Arbeit an einem umfangreichen und langfristigen Projekt verbissen hat. Kennt man seit zwei Jahren nichts anderes, als die Arbeit an einem großen Roman, hat man ein umwerfendes Erfolgserlebnis, wenn es gelingt, eine kleine Erzählung von 5 Seiten innerhalb einer Woche abzuschließen und so zu überarbeiten, daß man mit dem Ergebnis zufrieden ist. Zudem erinnert es daran, daß selbst die größten Bücher irgendwann fertiggeschrieben werden müssen. Man kann nicht immer in ihnen leben und sie müssen nicht für alle Ideen, die man hat, herhalten!


15. Austausch mit anderen Schreibenden

Auf jeden Fall sollte man, ob man an Schreibhemmungen leidet oder nicht, den Kontakt zu anderen Schreibenden suchen und sich mit ihnen austauschen. Durch die Notwendigkeit, seine eigenen Gedanken formulieren zu müssen, wird vieles deutlich, was vorher nebulös war, ganz im Sinne des Aufsatzes „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ von Heinrich v.Kleist.
Zudem haben andere SchriftstellerInnen andere Ansätze, Strategien und Lösungsmöglichkeiten. Besonders im direkten Gespräch lernt man, seine eigenen Ansätze damit abzugleichen bzw. sie gegen andere Standpunkte zu verteidigen. Je schwerer das fällt, desto eher sollte man seine eigene Herangehensweise in Frage stellen und Anregungen von außen ausprobieren.


16. Grundsätzliche Voraussetzungen prüfen

Oft kann man nicht schreiben, weil der Grund, auf dem man sich bewegt, unsicher ist: die Handlung erscheint zu konstruiert, man weiß nicht so recht, wo es hingehen soll, man spürt die eigenen Figuren nicht, die Konflikte sind einem durch ihre Entwicklung fremd geworden. Dann heißt es: Zurück zu den Figuren! Was wollen sie? Warum wollen sie es? Was sind ihre grundsätzlichen Charakterzüge? Wie würde ein Abend mit ihnen in der Kneipe verlaufen?  Wie würden sie reagieren, wenn man sie mit dem Fahrrad auf der Straße anfährt? Durch welche persönliche Eigenschaft werden sie ihr Ziel erreichen bzw. woran werden sie scheitern? Welche Elemente, Kräfte, Ereignisse bestimmen die Geschichte im Kern?
Alles andere ist in dieser Situation Ballast und muß abgeworfen werden! Die Figuren und Ziele erneut klar formulieren! Alles Beiwerk - die Gegenplots, sie Subplots, die Resonanz, die sinnlichen, atmosphärischen Beschreibungen etc. - auf später vertagen! Nun geht es erst einmal nur darum, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Konflikt für sich selbst und andere eindringlich spürbar zu machen!


17. An der Textperipherie arbeiten

Und selbst wenn alle Inspiration flöten geht, kann man immer noch an seinem Projekt arbeiten. Nach dem Pareto-Prinzip entstehen 80% eines Projekts in 20% der Zeit, die man in es investiert. Die restlichen 20% des Projekts verbrauchen 80% der Zeit. Warum also nicht in aller Ruhe an diesen restlichen 20% herumpulen und darauf warten, daß Zeiten kommen, in denen man effektiver und inspirierter arbeitet?
Man kann z.B. alte Notizen lesen, die man zum Text gemacht hat, sie sortieren und ausmisten, die Aufnahmen auf dem Diktiergerät durchhören und sie in die richtigen Ordner im Computer einsortieren,  Rechtschreibung und Grammatik des bisher Geschriebenen überprüfen, Hintergrundmaterial recherchieren etc. Zum einen erledigt man Arbeit, die ohnehin irgendwann getan werden muß, zum anderen wird man dadurch nicht selten unmerklich zurück in den Text gezogen, bekommt neue Ideen, erkennt Linienführungen die man einmal angelegt und fast schon wieder vergessen hat oder ein deutlicheres Gefühl gegenüber den Charakteren. Texte müssen gehegt, gepflegt und gehätschelt werden. Manchmal ist es langweilig, aber wenigstens erhält man so eine Nähe, die es möglich macht, sofort und effektiv weiter zu schreiben, sobald die abgestumpfte Zeit vorbei ist.