Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Mittwoch, 20. Juni 2012

Sieben Entscheidungen: "Cashback" von Frank Küppers

Die Bässe wummern marschmusikartig den Song „Reise, Reise“. Die Türen des schwarzen Mustangs erzittern. Kurt hämmert mit der flachen Hand im Takt auf das Lederlenkrad. Das kleine Rinnsal Schweiß vom Hals bis zum Bauchnabel teilt sein olivfarbenes T-Shirt in zwei Hälften. Genauso fühlt er sich, zweigeteilt. Sein über die Jahre füllig gewordener Körper vibriert vor Unruhe. Geplant hat er es tausend Mal, doch jedes Mal hatte ihn im entscheidenden Moment der Mut verlassen. Heute morgen ist es anders gewesen.
Der Weg zurück vom Supermarkt. Die Abkürzung vorbei an den heruntergekommenen Gewerbehöfen. Der hastige Biss in die Schokolade. Und plötzlich taucht sie vor ihm auf, wie eine Fatamorgana vor dem Verdurstenden: die Chance, von der er so viele Jahre kaum noch zu träumen gewagt hat. Er denkt nicht nach. Sein massiger Körper setzt sich auf den kurzen Beinen in Bewegung. Trotz der tarnenden Fettschicht hat er sich gut in Schuss gehalten, seinen Körper gepflegt wie eine Maschine, die auf ihren letzten, alles entscheidenden Einsatz wartet. Er hat dem alten Mann, der ihm seit vielen Jahren aus dem Spiegel entgegenblickt, nur oberflächlich Platz gemacht! Und es hat sich gelohnt. Er spult die Handlungen perfekt ab. Jeder Handgriff, jede Bewegung sitzt, so wie es Kurt in zahlreichen Filmen gesehen hat.
Inzwischen rauschen flachere Gebäude am leicht beschlagenen Fahrerfenster vorbei. Über ihm kreist ein Hubschrauber. Hat seine Frau etwas bemerkt? Lässt sie ihn schon suchen? Unmöglich. Trotzdem beschleunigt sich sein Puls. Keine Panik. Erinnere dich. Du hast gelernt deine Gefühle zu beherrschen, damals im Einsatz. Du hast es überstanden, dann wirst du auch das hier überstehen. Irgendwann wird dich die Schuld wohl heimsuchen, wird mit stetem Tropfen deine Träume aushöhlen. Dann entscheidet sich, wer ein Mann ist. Du wirst wahnsinnig oder kommst damit klar. Aber nicht jetzt! Ist es wirklich so einfach? Vielleicht.
Das erste Etappenziel seiner Erlösung rückt näher, der Wald. Kurt wechselt die Kassette. Sein Enkel hat ihm neumodisches Zeug auf eine, wie er es nannte, überholte Technik gespielt. „Habe ich aus dem Deutschen Museum geklaut“ hatte auf der Karte zu seinem 79. Geburtstag gestanden. Der Bengel.
Das Staccato der Hiphop-Beats pulsiert durch seine Nervenbahnen. Er fühlt sich jung, energiegeladen. Niemals den Schneid verlieren! Gegen dich ist dieser Batman eine Flasche! Kurt lächelt. Die letzten Häuser rauschen vorbei, dann drängt sich nur noch das Unterholz bis nah an die Leitplanken. Die Sirenen von Polizei und Feuerwehr, das dumpfe Dröhnen der Stadt verflüchtigen sich. Der perfekt gepflegte Traum von einem Wagen reißt routiniert die Kilometer ab. Kurt hat den Autopiloten eingeschaltet.
Sein Puls verlangsamt sich. Die Landschaft fließt gleichförmig und beruhigend an ihm vorbei. Er streichelt das narbige Leder des Beifahrersitzes. Es fühlt sich an wie neu, es riecht wie neu. Sie hasst das Auto. Hat es immer gehasst. Der Einsteigeradius ist ihr zu eng, die Sitzhöhe zu tief, die Anschnallgurte schneiden ihr in den Busen. Aber was weiß sie denn schon! Du hättest dein Alter nicht akzeptiert, sagt sie! So ein Unsinn! Nicht zugelassen hast du es. Nur weil es nun auch sie langsam einholt. Doch sie hat nur ihr Mundwerk, ihre Unzufriedenheit und ihre Herrschsucht! Wie oft hast du dir gewünscht, der Mustang hätte eine Schleudersitzfunktion. Damit ist es nun vorbei, nach 31 Ehejahren kann der Platz neu besetzt werden. Irgendein junges Ding in der Provinz wirst Du mit dem Auto doch wohl rumkriegen. Kurt Friedrich Wilhelm sieht mit den sonnenbeschienenen Wolken ein neues Leben über dem Horizont aufziehen.
Hiltrud streicht sich die geblümte Schürze glatt und kontrolliert mit einen starren Blick die desinfizierten und polierten Oberflächen ihrer Küche. Nur noch 15 Minuten bis zum Mittag und er ist noch immer nicht zurück. Wie soll sie bloß ohne Butter eine Mehlschwitze anrühren? Das kann er ihr gerne  einmal erklären! Sicher drückt er sich wieder in dieser Seitengasse beim Supermarkt herum und stopft sich heimlich mit Schokolade voll, dieser Kindskopf! Als wenn sie nichts von seinen Fresseskapaden wüsste. Ein Blick auf den Kassenbon reicht ihr. 31 Jahre hinterlassen kaum Geheimnisse. In Gedanken. Blitzeblank. Sie streift die Gummihandschuhe ab. Diese scheußlichen Altersflecken! Sie stützt ihre Hände in die schlanken Hüften, dreht sich schwungvoll auf dem Absatz und steuert Richtung Wohnzimmer.
Der Radetzki-Marsch ertönt. Eine dieser lächerlichen Ideen von Kurt, statt einer normalen Türglocke so ein modernes Ding mit Selbstaufspielmodus zu kaufen! Draußen steht ihre Nachbarin Nicole Heizinger mit ihren 2 Kindern. Sie ist bleich, außer Atem.
"Könnten Sie bitte auf die Kids aufpassen? Ich muss sofort weg! Die Bank meines Mannes ist überfallen worden!"
"Oh Gott, ist etwas passiert?"
"Sven hat einen Schock. Er musste den Tresor öffnen. Sie haben ihm eine Waffe an den Kopf gehalten! Aber die Polizei hat die Täter schon dingfest gemacht! Diese Dreckskerle!“
Sie fängt an zu weinen. Dann drückt sie Paul und Carla zum Abschied und hastet ohne eine Antwort abzuwarten los. Hiltrud schaut ihr nach. Da steckt Kurt also. Typisch! Lauert mit den anderen Gaffern auf den winzigsten Tropfen Blut, anstatt nach Hause zu kommen. Hiltrud verzieht das Gesicht und nimmt die beiden Kinder an die Hand.

Wie eine unendliche Kette von zukünftigen Versprechungen zieht sich der Mittelstreifen über das graue Asphaltband und rauscht unter ihm davon. Ein allzu bekanntes Brennen reißt Kurt aus seinen Tagträumen. Pissen! Ja, Hiltrud hasst diese Ausdrücke, aber so nennt es der Männerverein, dem du Jahrzehnte deines Lebens gedient hast, und so heißt es eben auch auf gut Deutsch! Aber dieser plötzliche, unerwartete Drang bedeutet noch etwas anderes. Kurt wird heiß und kalt: Er hat vergessen seine Tabletten zu nehmen. Da ist es wieder, das alt bekannte Gefühl der Schwäche. Wie konntest Du es nur vergessen? Kurt wird mit einem Mal unsicher. Noch könntest Du das Steuer rumreißen, nach hause fahren. Niemand würde den Ausflug bemerken. Du könntest wie immer über den lähmenden Verkehr oder die Riesenschlange an der Supermarktkasse stöhnen.
Seine Knochen werden auf einmal schwer, die Augen müde. Das Brennen im Unterleib wird stärker und sucht sich erbarmungslos seinen Weg. War dort nicht eine frisch geschlagenen Schneise? Er wendet sich um, doch sein Hals ist in den tiefen Polster steif geworden.
Im Zurückdrehen sieht er, wie sich ein Holz beladener Laster auf die Straße schiebt. Zu spät. Instinktiv löst Kurt den Sicherheitsgurt und wirft seinen Oberkörper auf den Beifahrersitz. Der Schaltknüppel bohrt sich zwischen zwei Rippen. Etwas gibt nach, bricht. Alles oberhalb der Motorhaube verwandelt sich in ein Inferno aus splitterndem Glas und Metall. Dann die Stille. Ein stechender Geruch nach Benzin, Öl und Scheibenwaschwasser schwängert die Luft. Der zweite Atemzug füllt den Brustkorb mit einem stechenden Schmerz und dem Duft nach frischgeschlagenem Holz. Nur noch ein klein wenig so verweilen. Die Schläfe ruht auf dem kühlenden Metall der 45er Magnum. Das kleine Rinnsaal aus Blut und Spuke, das nun sein T-Shirt teilt, bemerkt Kurt nicht.

Durch einen Spalt in dem zerknäuelten Blech sieht er die herbeigeeilten Waldarbeiter. Doch sie beachten das Wrack kaum. Sie sehen zum Himmel, wie Kinder, die Schnee im Sommer anstaunen. Ein Konfettiregen aus unzähligen Hundertern und Fünfzigern wie bei der Ehrenparade auf der 5th Avenue geht auf die Straße nieder. Komm, raff Dich auf! Wie diese Superhelden musst du aus dem Wrack kriechen, mit einem kalten Grinsen! Doch die alte Maschine will nicht mehr gehorchen. Jetzt kommen die Sirenen wieder näher. Kurts blutverschmierte Hand umklammert den Griff. Hättest du doch wenigstens deine Hiltrud noch einmal zum Abschied geküsst. Mit einem letzten Lächeln denkt er an die zwei Bankräuber, wie sie krampfhaft versucht haben, ihren Wagen in der dunklen Seitenstrasse zu starten. Sie haben ihn gar nicht kommen hören.

(Lektorat: Thomas Piesbergen)

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