„Peter Alexander, Haxen auseinander, Haxen wieder zam und du bist dran“
Ich sah Inga von einer Bank aus zu, wie sie auf der Schaukel saß und immer wieder den Kinderreim aufsagte. Wieder und wieder, stets mit der gleichen Betonung. Dabei stocherte sie lustlos mit einem Stock über die festgetretene Erde unter ihren baumelnden Füßen. Fünf Minuten, zehn, eine Viertelstunde – egal, denn wenn wir eines hatten, dann war es Zeit. Jedenfalls heute.
Erst als der Wind auffrischte fiel mir auf, dass die Schaukel quietschte. Ich schaute auf die Uhr – zwanzig nach elf. Es war Zeit. Zittrig stand ich auf, ignorierte den stechenden Schmerz im Rücken, kramte in meiner Handtasche, zog die Lippen nach und strich mir die Falten aus dem Sommerkleid . Nur die Ruhe. Egal wie gut ich heute aussehe, sie würden mich hassen. Menschen wie mich mag man einfach nicht.
„Inga, wir müssen los!“, rief ich und lief über den gepflegten Rasen hinüber zur Schaukel. Als Inga mich bemerkte hellte sich ihr Gesicht auf und ihre hellblauen Augen strahlten.
„Du“, sagte Inga. Es war weder eine Begrüßung noch eine Frage, sondern vielmehr eine Art Feststellung. In letzter Zeit war ihr ein kurzes „Du“ zur Gewohnheit geworden. Sie streute es bei vielen Gelegenheiten ein: morgens beim Aufstehen, beim Zähneputzen, am Mittagstisch oder abends auf der Couch. Mit diesem kleinen Wörtchen schien sich Inga zu vergewissern, dass da außer ihr noch jemand war.
„Genau“, antwortete ich, packte Inga unter einem Arm und half ihr von der Schaukel. Hand in Hand gingen wir langsam über die Wiese in Richtung Eingang. Ingas Hand war kühl und trocken und ihre Haut fühlte sich an wie Butterbrotpapier. Mit dem Daumen strich ich über ihre Finger.
Bei jedem Schritt federte der weiche Rasen unter unseren Füßen. Inga gluckste, mir wurde flau im Magen.
An der Stirnseite der Rasenfläche erhob sich ein strahlend weißes Herrenhaus. Von dem Vorplatz führte eine Freitreppe hinauf zu einer prachtvollen Flügeltür. Durch zahlreiche hohe Sprossenfenster konnte ich mintgrüne Vorhänge sehen und in den oberen Stockwerken schmiegten sich geschwungene, schmiedeeiserne Balkone an die Fassade.
Idylle, abgeschieden vom Rest der Welt, ein eigenes kleines Universum, Ruhe, Regeln, Ordnung – das war es, was Inga jetzt brauchte. Ja, genau das! Ich atmete tief durch, packte Inga fest am Oberarm und stieg mit ihr Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Ich kam nicht außer Puste, aber mein Herz schlug mir trotzdem bis zum Hals.
Als wir durch die schwere Eingangstür traten, war es drinnen angenehm kühl. „Ahh“, machte Inga und just in diesem Moment schoss hinter einem hohen Empfangstresen ein kleiner Kopf in die Höhe. Er gehörte zu einer jungen Frau, mit strengem Pferdeschwanz und einer Spur zu viel Make-up.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit leicht slavischem Akzent.
„Ähm, ich bin hier mit Inga Paulsen.“
„Ach ja. Wir haben sie schon erwartet“. Ich meinte Tadel in der Stimme hören zu können.
„Mein Name ist Magdalena und ich heiße Sie herzlich bei uns willkommen“. Dabei tänzelnde sie mit schwingenden Hüften um den Empfangstresen herum und streckte mir ihre Hand entgegen. Magdalenas Mund lächelte, ihre Augen nicht.
Da war sie also, die leise lodernde Feindseligkeit, auf die ich gewartet hatte. Schön verpackt in einem makellosen Körper, mit dickem Lidstrich und roten Lippen.
„Freut mich. Ich bin Helene.“
Kurzes Händeschütteln, beidseitiges Nicken und schon beugte sich die schöne Magdalena anmutig zu meiner Inga herunter. Die stand noch immer brav neben mir und sah sich staunend in der Eingangshalle um.
„Du musst Inga sein“ sagte sie mit lieblich säuselnder Stimme und fuhr ihr mit langen Fingern durchs helle Haar.
Inga drehte sich zu Magdalena um und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Es war so offen, herzlich und unvoreingenommen, wie es nur Kinder zu Stande bringen.
„Dann wollen wir mal. Schauen wir uns zusammen das Zimmer an. Es wird dir gefallen. Es gibt ein großes Bett, einen schönen Schrank und sogar einen Balkon. Das ist doch was, oder?“ Dabei drehte sich Magdalena zu mir um und zog erwartungsvoll die Augenbrauen nach oben.
„Schön“, meinte ich und folgte den beiden die Treppe nach oben in den ersten Stock. Magdalena führte Inga am Arm und redete über irgendwelche Nachmittagsaktivitäten. Mir fiel der dunkelrote Teppich auf. Er war überall ausgelegt, in den Fluren genauso wie auf der Treppe. Weich, flauschig, dumpf. Geräusche? Fehlanzeige. Der dicke Plüschboden schluckte einfach alles. Es war fast so als sauge er auf, was nur ansatzweise Lärm gemacht hätte: kein Gemurmel, kein Lachen, kein Niesen, keine Musik und schon gar kein Getrampel. Stattdessen herrschte die angespannte Stille wie in einem Luxushotel. Bloß nicht auffallen und die anderen Gäste stören. Schön die Klappe halten, nicht aus der Reihe tanzen und brav die ungeschriebenen Gesetze befolgen.
Doch Magdalena schien sich einen Dreck um diese Gesetze zu scheren. Sie plapperte fröhlich weiter während sie Inga geschickt durch die Flure lenkte. Schließlich öffnete sie eine der vielen Türen und führte sie hinein.
Als ich das Zimmer betrat saß Inga schon auf dem großen Bett und wippte vergnügt auf der Matratze. Verschmitzt lächelte sie mich an, nur um sich dann weiter umzusehen.
Für sie war das alles ein großes Abenteuer. Wobei ich mir sicher war, dass sie so gut wie gar nichts davon verstand. Aber weiß heißt schon verstehen und was ist schon verrückt und was ist normal?
Manchmal stellte ich mir vor, dass alles in Ingas Kopf einen Sinn ergab – nur eben einen anderen als beim Rest der Welt. Einen ganz eigenen Sinn. Einen gelasseneren.
Vor ein paar Monaten saßen wir zusammen mit meinem Bruder in der Küche. Inga starrte auf ein Portrait von Till und mir und er fragte dann: „Na, kennst du die beiden auf dem Foto?“
Fast schon entsetzt schaute Inga Till an und meinte: „Natürlich, das bist doch du!“
„Und das Mädchen da?“
Überlegen. Stille. Dann: „Na, mit der bin auch irgendwie verwandt.“
Das hatte mich damals weniger getroffen, als ich erwartet hatte. Seltsam, denn ich hatte wirklich lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich sie anzog, sauber machte, ihr Essen kochte, ihr vorlas, hinter ihr her räumte, her putzte, hinter ihr die Haustür abschloss, wenn ich ging sie einschloss, allen Nachbarn Bescheid sagte, ihr Schmerzpflaster auf den Rücken klebte, ihr Tabletten gab, fast täglich ihre Klamotten wusch und ihre Windeln wechselte. Nein. Die Sache mit den Windeln war mir nur allzu bewusst. Die wünschte ich mir so schnell wie möglich zu vergessen.
Trotzdem – wir waren ein Team. Ich funktionierte, damit die Welt nicht aus den Fugen geriet und Inga war damit beschäftigt, die Fugen in ihrem Geist zu ignorieren und den Rissen des Vergessens auszuweichen.
Oft hatte ich schon den Eindruck, dass der Mensch im Laufe seines Lebens immer starrer würde. Der Körper wird steif, der Geist verfestigt sich und kann mit vielem nichts mehr anfangen. Nicht so bei Inga. Ihr Geist war wie der einer Fünfjährigen: quirlig, unvoreingenommen und fließend.
Sie war plötzlich so liebenswert, wie sie da auf der Bettkante saß und mit staunenden Blicken ihre Umgebung erkundete. So unschuldig und so zerbrechlich. Meine Mutter.
„Ich kann nicht“, quoll es aus mir heraus, meine Wangen wurden heiß und Tränen vernebelten mir die Sicht. Ich musste raus, verließ das Zimmer.
Als ich im Flur war bemerkte keiner, wie ich mich auf den Teppichboden setzte. Er schluckte mein Schluchzen und saugte meine tropfenden Tränen auf. Es roch nach Mittagessen und Desinfektionsmittel.
In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass meine Mutter jetzt aus diesem Zimmer kam, mich in die Arme schloss und meinen Kopf an ihre warme Schulter drückte. So gerne hätte ich ihre warme Haut gespürt. So gerne hätte ich ihr von diesem schrecklichen Tag erzählt, mich von ihr trösten lassen, nur um dann mit ihr darüber zu lachen. Danach wären wir aufgestanden, in die Stadt gefahren und hätten uns bei unserem Lieblingsitaliener mit frischen Muscheln und reichlich Weißwein einen schönen Abend gemacht. Wir hätten gekichert, diskutiert und Pläne fürs Wochenende geschmiedet.
Die Zimmertür öffnete sich und Magdalena kam heraus. Langsam ließ sie sich neben mir an der Wand herunter rutschen, fasste in ihre Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an.
„Auch?“
Wir schauten uns an und Magdalena meinte: „Hier darf man eigentlich alles. Man muss es nur machen.“ Als ich nicht reagierte, steckte sie Zigarettenschachtel und Feuerzeug wieder ein. Ich wollte mich nicht mir ihr unterhalten.
Und so saßen wir einfach nur da. Zwei Fremde in einem Flur.
„Ist doch ok“, sagte sie, als die Zigarette fast aufgeraucht war. Magdalena nahm noch einen Zug. Dann stand sie auf, öffnete die Tür und drehte sich zu mir um.
„Geh jetzt. Aber komm wieder.“
(Lektorat: Thomas Piesbergen)
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