Ich habe mir Mühe gegeben! Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Schon seit fünf Tagen hat er in meinem Postkasten gelegen. Die Sendekanäle der Deutschen Bundespost hatten ihn dort stranden lassen. Er indes hatte sich nichts zu schulden kommen lassen und die Form gewahrt: Verpackt in einem DIN A 5 – Standardumschlag aus rauem, braunen Papier, gedruckt auf High Gloss Abzugpapier im Standardformat 10 X 15.
Ich habe ihn verwundert in meinen Händen gewendet: Den Printer-Ausdruck eines Fotos. Das Bild eines Baumes in winterlicher Landschaft – karg und dunkel, die Schwärze der Geästs nur durchbrochen von kleinen Kronen aus Schnee. Darüber ein Geflecht, ein Korb, ein Gefäß aus dünnen Linien –geritzt in die glänzende und antiseptische Oberfläche des Fotopapiers.
Die Sendung einer Freundin – einer guten Bekannten und Künstlerin. An mich.
Das da jemand an mich denkt ist schön, sogar sehr schön, denn ich gefalle mir nur allzu oft in einer Pose der Nachlässigkeit. Nur so glaube ich, den Gipszöpfen des Alltags zu entkommen. Das Abhalten eines gesunden Frühstücks, das Rausschlurfen aus der Tür zum Bäcker , der Weg durch den schmalen Gang des Flurs zum Postkasten – Rituale, die mich mit Widerwillen erfüllen und meine Haut dick werden lassen. Ich versuche, die grellen Botschaften meiner lieben Umwelt irgendwie in so was wie „Normalität“ zu stopfen, aber der Schwarm von Nachrichten reißt nicht ab. Wie aggressive Pollen finden sie den Weg bis zu meinem Briefkasten: Spams, Müll – Werbebriefe von Kabel-Deutschland, Gemeindebriefe der Diakonie Hamburg – Mitte und Mahnungen von der Telekom.
Nun aber dieses Geschenk: Schlicht, geradezu karg und dabei von einer geheimnisvollen Sinnlichkeit. Ich habe minutenlang den Daumen über die feinen Ritzungen im Fotopapier fahren lassen und habe versucht, mich an etwas zu erinnern, was ich bis dato vielleicht gar nicht gekannt hatte. Ich habe das Papier in meinen Händen gewendet, die maschinell geschnittenen Kanten des Formats haben mir leicht in die Finger geschnitten. Es war Bild, Abbild, Relief und gleichzeitig Objekt – eine Chimäre aus Material, Fläche und Raum.
Das es nicht auf meinem Schreibtisch liegen bleiben konnte, war mir schnell klar; es brauchte einen Ort, auch einen Schutz und wer hat schon jemals das Glück, so etwas wie ein Künstleroriginal in den Händen zu halten. Ein Unikat, in dieser Form einzigartig und nicht wiederholbar. Wer kann schon sagen, ob es einen bescheidenen und nur persönlichen Wert behält, ob der Absender nicht eines Tages überaus bedeutsam wird und die schlichte Grafik auf dem Fotopapier nicht überaus kostbar. Ja ja, denn die Zeiten sind hart und werden immer rauher. Auch das habe ich gedacht.
Also raus auf die Straße, den schmalen Bürgersteig entlang durchs Viertel zum nächsten Fotoladen, vorbei an Galao- Shops und feinen Boutiquen. Vorbei an grellen Schaufenstern und Warenauslagen; eiligst durch Räume, die mit Gegenständen und Wünschen rascheln und stets neue Bedürfnisse schaffen. Die Apathie der entgegenkommenden Passanten, die sich mit hysterischer Gleichgültigkeit über den Asphalt geschoben haben. Ich war das gewohnt und wenig erschrocken; ich versuchte meinen Blick hochflattern zu lassen, gleichsam uninteressiert an den Ereignissen auf der Straße. Dieses Abreiben am Alltag, der wie schroffer Grant in jeder Pore hängen bleibt war mir wohl vertraut. Und wir haben uns auch diesmal nichts geschenkt, wir haben dem Gegenüber keinen Zoll Platz gelassen, wir haben uns angerempelt mit versteinerten Mienen, mit strahlendem Lächeln. Vom Gamedesigner über die Bankkauffrau bis hin zur Rentnerin von der Ecke – jeder hält tagtäglich die Stellung in diesem Grabenkrieg der Selbstdarstellung und trägt seine Verhärtung wie eine Auszeichnung vor sich her. Wir machen das immer so-wir können nicht anders. Nur so glauben wir, dass wir es ernst meinen.
Ich aber wollte mir Mühe geben, wollte mich nicht dem Vergessen überlassen und dem kleinen Format aus Fläche und Relief einen Platz verschaffen. Wollte ihm Raum und Schutz geben und es wirken lassen. Ernst meinte es hingegen auch das Fotogeschäft, das bereits die Rolläden zur Mittagspause herunterließ. Das Geschäft selbst indes ein schlichtes Quaree aus Raum und Warenregalen mit Verkaufstresen, dahinter eine verspannt dreinblickende Bedienung.
Noch rastlos von dem Gang über die Straßen wanderte mein Blick über die Regalwand mit dem schier endlosen Angebot von Wechselrahmen; 13 X 18, 18 X 24, 40 X 60. Rahmen für die Hängung an der Wohnzimmerwand und possierliche Standformate für den Kaffeetisch.
Das ein gerahmter Träger nicht in Frage kam, war mir schnell klar: Zu überladen wirkte ein breiter Rand aus Holz oder sogar verzierendem Metall für die schlichte Arbeit - und bei der Vorstellung, sie hinge wie eine gerahmte Ikone in meinem Raum, überfiel mich leichte Übelkeit.
Also ein schlichter Wechselrahmen ohne Pomp; angenehm günstig im Preis – und die Auswahl war ja groß genug. Schnell hatte ich ein kleines Exemplar ergattert, dessen Glasfront von vier Klammern aus Blech an den Untergrund gehalten wurde; durch das Glas blickte mich die Werbefotografie einer geheimnisvoll dreinblickenden Japanerin an.
Und während meine Finger über das glatte, wenn auch entspiegelte Glas des Rahmens glitten, fühlte ich diese erstarrte Haut aus Härte, unter der jedes Bild erstickt wird wie ein in Celophan eingeschweißtes Stück Obst. Mochten sich die Rahmen auch in nahezu beliebiger Vielfalt an Formaten anbieten; unter der glatten Oberfläche des Glases gerann jedes Motiv zur bloßen Massenform – beständig und wiederholbar wie endlose Litanei. Kein Raum für die feinen Ritzungen im Papier, für den feinen Reiz in der darüberfahrenden Hand; kein Raum zum Atemfassen. Stattdessen: Ein Bekenntnis für die Wohnzimmerwand – verlässlich und unverrückbar.
Noch hielt ich diese Verpuppung aus Glas und Plastik in meinen Händen und wartete vergebens auf eine wunderbare Verwandlung, während mein Blick bereits rastlos durch den Verkaufsraum glitt. Nach und nach tastete er sich über die kleinen Verkaufstischen mit zierlich gerahmten Standrahmen für die Fotos der Lieben – Vater, Mutter, und die Omi – separate und diskrete Wirklichkeiten der Selbstschau und des Prestiges, fein säuberlich durch die rahmenden Ornamente getrennt. Schöne Motive waren da: Kinder, schaukelnd im strahlenden Sonnenschein; alternde Ehepärchen, die sich liebevoll die Hände hielten und putzige kleine Schoßhündchen. Alle klemmten sie unter dem dicken Schutz der Rahmen - wie Exemplare, wie seltene Schmetterlinge, abgetötet durch ein irrwitziges Brennglas. Grenzen der Identitäten, aufgereiht zu einem Altarbild wie Reihenhäuser in einem noblen Hamburger Vorort. Immer wieder glitten meine Augen von den starren Blicken der Gemeinde ab; es waren Blicke, die alles andere gleichzeitig außen vor ließen. Als hätten sie einander ein Versprechen geleistet, sich einander versichert und ein Glaubensbekenntnis geleistet. Unveränderlich, unwiderrufbar. Als wollten sie sagen: Ich bin Alpha und ich bin Omega und so wird es ewig sein.
Ich aber wollte ihnen nicht ins Netz gehen; ich dachte angestrengt an das mir zugesandte Geschenk, an dessen raue Oberfläche und an die Einladung, eine Grenze zu überschreiten.
Raffte einen der angebotenen Wechselrahmen hastig an mich, zahlte nervös und verließ eilends das Fotogeschäft und die darin abgehaltene Messe.
Aber noch war ich dem Gehsteig ausgeliefert und dem darauf entlang gleitendem Schwarm von Passanten, die in ihren starren Schneckenhäusern aus Selbstsicherheit den Möglichkeiten endgültig den Krieg erklärt hatten. Als hätte eine Titanenhand sie mit einem riesigen Stempel in die Straße gedrückt, hielten sie unverrückbar die eingenommenen Stellungen auf dem Gehsteig und versuchten mit der Ziegelhaut der Fassade einen glatten Abschluß herzustellen. „Wir haben es uns nehmen lassen“ durchfuhr es mich: „Wann lässt man die Bilder, wann lässt man uns endlich wieder wir selbst sein?“
Ich habe mir Mühe gegeben. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Sie aber ist es doch geworden – eine Ikone. Die Arbeit einer Künstlerin, eine Sendung an Freunde und Bekannte, ein Geschenk an mich. Hinter einer entspiegelten Eisschicht, in einem Kokon aus Glas und Plastik im Format 18X24 hängt sie an meiner Wand. Ich lasse meinen Blick über das feine Liniengeflecht wandern, das wie ein erstarrtes Flussdelta unter dem Deckglas durchschimmert. Folge den Ritzungen, die bis an die gestanzten Ränder des Formats führen und den Bildraum in die Fläche beugen. In einen Raum, in dem Möglichkeiten wieder zu Atem kommen. Fast scheinen diese Spuren die Begrenzungen zu überschreiten, feine Nadelstiche gegen die Umstände auszusenden und den Bildträger sanft zum Vibrieren zu bringen. Ich schließe langsam die Augen, höre noch das verschwörerische Rascheln hinter dem Glas –und nun beginnen die Bildränder zu flackern…
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