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Mittwoch, 20. Juni 2012

Sieben Entscheidungen: "Fräulein Blumes Geschichte" von Silke Tobeler

Ich kannte Fräulein Blume noch nicht lange. Seit ca. 2 Monaten arbeite ich im Altenheim Bethanien. Ich dachte, dass die Stille einer Nacht die ideale Möglichkeit sei, um einerseits mein Studentenportemonnaie aufzubessern und andererseits ungestört die letzten Seiten meiner Diplomarbeit zu vollenden. Ich rechnete mit einigen Wehwehchen, die mich behindern würden, aber alles in allem sollte ich die Regelstudienzeit einhalten können. Jetzt steht der Abgabetermin vor der Tür und ich bin keinen Schritt von der Stelle gekommen. Die einzige Entschuldigung, die ich vorzubringen habe, ist die Geschichte von Fräulein Blume. Eigentlich wollte sie immer nur um 23.55 Uhr ein Gläschen Wasser, aber ich konnte diesem lebendigen Glanz ihrer Augen nicht widerstehen, die mich unter all den Runzeln anblitzten. Ich musste sie einfach hören, ihre Geschichte – und ich bin es ihr schuldig, dass sie nicht für alle Zeiten der Vergessenheit anheim fällt. Nacht für Nacht habe ich ihrer brüchigen Stimme gelauscht. Ich habe alles notiert und versuche hiermit möglichst getreu diese Worte wiederzugeben. Ich hoffe, Sie können meine Entscheidung, die Diplomarbeit ruhen zu lassen,verstehen, wenn Sie diese Aufzeichnungen nun selbst lesen werden:

Ich hätte mich auf den Frieden dieses Frühlings nicht verlassen sollen. Die Luft war lau und mild. In mir kribbelte die Aufregung eines neuen Tages, der nicht höher hüpfen musste als mein Herz. Auf meinem Weg zum Büro, wollte ich noch schnell zum Blumenladen an der Schönhauser Allee. Frau Herre hatte Geburtstag und ich hatte Herrn Meinert versprochen, dass ich einen bunten Frühlingsstrauss mitbringen würde. Ich dachte an die wunderschöne Iris, die den Vornamen des Geburtstagskindes unterstreichen sollte. Maiglöckchen dazu, um dem Frühling zu sagen, dass wir bereit sind. Doch so weit kam ich gar nicht erst. Mein Blick fiel auf die Ansammlung vor der Litfasssäule in unserer Straße. Dort hatten sich die üblichen Verdächtigen versammelt, die nutzlosen kichernden Backfische aus der Nachbarschaft. Ich war diesem pubertären Alter gerade entwachsen und ärgerte mich über die plauderige Leichtigkeit dieser drei Mädchen, die mich in ungehöriger Manier anblickten. Sie tuschelten und kicherten, und starrten frech zu mir hinüber. Ich wusste, dass sie über mich lachten, weil ich in der Frühlingssonne nicht feriengemäß die Beine baumeln lassen konnte wie sie. Ich hatte schon seit vier Jahren keine Schulferien mehr. Na und? Dafür hatte ich in schweren Zeiten eine feste Anstellung gefunden und war sehr stolz darauf für mich selbst sorgen zu können. Sollten sie doch über mich lästern, dass ich ein Proletariertrampel sei. Sollten sie doch. Mich beschäftigte ohnehin ganz andere Dinge, von denen diese unreifen Gänse nichts verstanden – Liebesdinge! Sie zogen mich wie eine Trinkerin zur Flasche. Sie schmeckten, sie verdarben mich, sie liessen mich nicht los...
Doch davon wusste die Ansammlung der kleinen Damen mit ihren mädchenhaft kurzen Röcken natürlich noch nichts. Aber warum starrten sie mich ausgerechnet heute so an? Eine zeigte sogar mit ihrem Finger auf mich, während die anderen hinter vorgehaltener Hand frech kicherten.
Ich schüttelte den Kopf und wollte meiner Wege ziehen, mir den Tag nicht verderben lassen, als mich das Leuchten des Plakates auf der Litfasssäule erfasste.
In großen roten Lettern stand da:

An Anna Blume,
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne,
ich liebe Dir!
Du Deiner, Dich Dir, ich Dir, du mir, ... wir?
Das gehört beiläufig nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer?
Du bist, bist Du? Die Leute sagen, Du wärest.
Lass sie sagen, Du wärest.
Lass sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen
und wanderst auf die Hände.

Welch eine Unverschämtheit! Kurt und ich pflegten erst seit drei Monaten eine intimere Beziehung. Und mir war es mehr als peinlich meinen Namen so plakativ an die runde Säule gebannt zu sehen. Was sollte Helma von mir denken? Niemand wusste, dass er mich mit meinem Namen aufzog. Es war schön und schaurig – immer wieder dieses verrückte Wortspiel:

A-N-N-A.
Du bist von hinten wie von vorne.

Mir schoss jedes Mal das Blut in die Wangen, wenn Herr Schwitters in lauen Stunden an der Spree mir zuflüsterte:

Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!

Zuerst begriff ich kaum was er damit meinte. Und als ich es erahnte, wollte ich, dass er mit mir tat, was er mir versprach. Meine Mutter hatte mich immer vor dem verrückten Künstler gewarnt, der mit Frau und Kind neben uns wohnte. Während des Krieges hat sich Helma die Augen ausgeweint, weil der Kurt im Krieg anfing zu zittern und das Zittern auch noch nach seiner Heimkehr anhielt. Sie wusste nicht, dass Kurt mit dem Kopf in meinem Schoß niemals zitterte, sondern wunderschöne, seltsame Wortschöpfungen in meinen Rock hineinmurmelte. Ich genoss die Aufmerksamkeit eines Mannes, den ich nicht verstand. Es war unser Geheimnis und ich verschloss die Sehnsucht nach viel mehr. Wie hätte es denn auch werden sollen? Ich kannte doch seine Freunde, die abends vorbei kamen, um mit ihm die Welt zu verbessern. Sie kämpften für die Arbeiterklasse – KPD – und nicht einer hat die Maurerkelle geschwungen oder Pflastersteine in die Straße geklopft. Und dann tranken sie ihren Beaujolais, weinten über das Wummern der fetten Berta, die abgeschlagenen Gliedmaßen. Doch Kurt lachte in mein Haar lachte und kitzelte meinen Hals mit seinen Bartstoppeln. Dennoch blieben es zwei Welten, seine und meine.
Ausserdem war er für meine Begriffe zu alt. Dreissig! Und dann die Aussagen meiner Mutter: „Herr Schwitters leidet unter Epilepsie. Wenn ihr mich fragt – der ist nicht normal! Künstler... Da malt der keine richtigen Bilder sondern schnippelt sich irgendetwas zurecht und verkauft diesen Unsinn auch noch. Das gehört verboten!“ Ja, meine Familie rührte den Mörtel an und klopfte schwere Steine in den sandigen Boden Berlins, damit die Autos der wohlhabenden Bürger durch die Stadt jagen konnten.
Und dann waren da noch seine Frau und das Kind!

Halloh,
Deine roten Kleider, in weisse Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, ...wir?
Das gehört    beiläufig    in    die    kalte    Glut!

Ich starrte auf das Plakat. War unsere Liebe schon zu kalter Glut geworden? Und ich nur ein schönes Wort? Meine Gedanken begannen zu kreisen wie ein Kettenkarrussell. Mir schwindelte. Ich schaute die blöden Mädchen böse an und das Kichern gefror auf ihren Gesichtern. Sie knicksten beschämt und gingen ihrer Wege, während mir der kalte Angstschweiss fiebrig über den Nacken kroch.
Ich musste von Kurt selbst wissen, was er meinte, was er von mir wollte. War ich eine Laune des letzten weinseligen Abends mit Hans Arp, als sie sich über die Ahnungslosigkeit hübscher Mädchen mit wohlklingenden Namen ausliessen? Oder wollte Kurt mir auf seine ungeschickte Art etwas sagen, dass ich in meiner Unbedarftheit nicht verstand? Der Tag wurde für mich ein Spießrutenlauf. Ständig befürchtete ich, dass mich jemand auf dieses schamlose Gedicht, das überall auf den Straßen Berlins prangte ansprach. Bei jedem Räuspern hinter meinem Schreibtischstuhl zuckte ich zusammen. Und dann wollte Herr Meinert doch nur, dass ich Kaffee kochte. Ich war erleichtert und muss heute zugeben, dass ich damals auch ein wenig enttäuscht war. Hatte denn keiner die siebenundzwanzig Litfasssäulen der Stadt mit meinem Namen bestaunt?
Abends klopfte ich an das Fenster des Schwitterschen Hauses. Sie saßen am Abendbrottisch, der kleine Ernst auf Helmas Schoß. Kurt sah auf und öffnete mir die Haustüre. „Anna, lass uns später reden“, raunte er mir zu.
„Fräulein Blume, kommen Sie herein“, rief Helma. Ihre rosigen Bäckchen leuchteten im Abendlicht, und ich wunderte mich, dass zum ersten Mal seit Monaten keine Besorgnis ihre helle Stimme trübte. Ich musste mich zwingen einzutreten und erklärte sogleich, dass ich schon gegessen hätte. Ernst klapperte mit seinem Löffel auf Helmas Teller. Kurt kitzelte das Kinn seines Sohnes, der juchzend sich auf dem Schoß seiner Mutter wand. „Na, haben Sie ́s schon gesehen?“ fragte Helma Schwitters freundlich. Eine unsichtbare seidene Schnur schien sich um meine Kehle zu schlingen und an meinem Hals zu würgen. „Sie meinen das Gedicht auf der Litfasssäule?“gelang es mir hervorzupressen.
„Die ganze Stadt ist voll davon und Kurt meint, dass damit eine neue Literaturform gefunden sei. Ich weiss nicht, es ist hübsch, aber merkwürdig. Und Sie müssen mit ihrem schönen Namen herhalten?“ Sie zwinkerte mir zu. Die Schnur wurde zu einem Galgenstrick. Ich konnte es nicht fassen, dass Helma scheinbar so ahnungslos sein konnte. Welches Spiel wurde da gespielt? War sie blind oder dumm? Oder beides?
„Auf jeden Fall geht’s dem Kurt wohl besser!“ freute Frau Schwitters sich. „Er hat aufgehört zu zittern...“flüsterte sie mir zu und drückte gerührt meine eiskalte Hand. Ich unterdrückte den Würgreiz und trank hastig meinen Tee aus, um mich von dem trauten Familienglück zu verabschieden.
Um Mitternacht wurde ich vom Klackern an meiner Fensterscheibe wach. Ich schaute auf die Straße und sah Kurt, Kieselsteine in der Hand. Vorsichtig tappte ich die schmale Holztreppe hinunter, um meine Eltern nicht zu wecken und liess ihn ins Haus. Wir schlichen in mein Zimmer.

„Ich träufle Deinen Namen,
Dein Name träufelt wie weiches Rindertalg.
Weisst Du es Anna, weisst Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
du bist von hinten, wie von vorne:
A-N-N-A.“

säuselte seine warme Stimme in mein Ohr. „Hör auf!“ flüsterte ich. „Warum musstest Du es in die ganze Stadt schreiben? Ich dachte es wäre unser Geheimnis. Meine Mutter hat mir verboten Euch alle zu besuchen. Sie sagt, Du seist irre.“ „Bin ich auch, meine Schöne, nach Dir. Anna, heirate mich! Werde meine Frau!“ Ich stiess ihn von mir. „Du bist wahnsinnig! Was ist mit Helma und Ernst?“ „Das regel ich schon. Anna, Du hast mich gesund gemacht. Ich zittere nicht mehr!“ Er vergrub seinen Kopf in meiner Schulter. Vor mir erschien ein Bild: wir saßen gemeinsam beim Abendbrot, ich mit einem zweiten Ernst auf dem Schoß. Und diesmal war es Fräulein Maria Flieder, das aufgeregt an der Tür klingelte, das ihm für seine verrückten Gedichte ihren Namen lieh und das seinen Worten mit ihrem Körper Leben einflößte. Und ich sah mein Gedicht überklebt mit dem neuesten Geschwätz der Stadt: Geflügelfutter – geht zu Erwin Kalischke! Vergesst nicht die Genossen Luxemburg und Liebknecht... Alles über meinen Namen, Schicht um Schicht, Gekauftes, Geliebtes und Gehasstes waren die Worte geklebt.
Was sollte ich dazu noch sagen? Kein Zittern? Darum ging es ihm vielleicht. Aber mit jedem Tag der Stärke würde die Liebe zu mir verblassen. Seine Freunde würden weitersaufen und er sich die nächste Muse suchen, die ihm für ihre Zeit, für das nächste Gedicht, wichtiger sein würde als Politik und französischer Rotwein, immerhin... „Kurt, liebst Du mich oder meinen Namen?“ Er lachte. So laut, dass ich befürchtete, dass meine Mutter in ihrem leichten Schlaf wach werden würde und so laut, dass tief in mir etwas zerriss. Wie ein Blatt Papier. „Hör auf!“ zischte ich, „es ist aus. Du gehörst zu Deiner Frau und Ernst. Und meinen Namen behalte ich. Ich werde immer das Fräulein Blume bleiben!“
Nach dieser Nacht im April vermied ich jegliche Begegnung mit Familie Schwitters. Ein kurzes Grüßen reichte, wenn wir uns in der Nachbarschaft trafen. Kurt schrieb mir Bitt- und Bettelbriefe, die ich alle ungeöffnet verbrannte. Und ich hielt meine Tränen trocken. Herr Meinert eröffnete ein zweites Büro in Potsdam und dahin zog ich.
Mittlerweile sind über sechzig Jahre vergangen und ich bin eine alte Frau geworden. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Und doch frage ich mich immer wieder: Was wäre aus Fräulein Blume geworden, wenn sie zu Kurt Schwitters „Ja“ gesagt hätte? Wäre ich mit Kurt nach England gezogen, in ein Land dessen Sprache ich bis heute nicht verstehe? Wäre ich neben Kurt reich und berühmt geworden?

Damit brach sie den Bericht ab, in der Nacht vor dem Abgabetermin meiner Diplomarbeit, und deshalb ersuche ich Sie um eine Verlängerung. Vor meinem inneren Auge sehe ich Fräulein Blume lächelnd auf einem Foto vor ihrem Gedicht. Womöglich stünde darunter: Das ist Anna Blume! Aber die wäre sie dann ja auch nicht mehr gewesen, sondern Frau Schwitters. Anna Blume wurde zu einer Kunstfigur zu einem Gebilde aus Buchstaben, das Schwitters zerschnitt und wieder zusammensetzte. Niemand verband ihren Namen mit der kleinen Dame im grünen Nachthemd die genüsslich ihr Wasserglas in den knorrigen Händen drehte.

Anna Blume,
Du tropfes Tier,
ich – liebe – Dir!

(Lektorat: Thomas Piesbergen)

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