Nach zwei ausgesprochen schönen Abenden im Rahmen der "Hamburger Energie Wechsel - Lesetage" möchten wir einige Texte, die Teilnehmer der Schreibwerkstatt zum Thema "Zweimal im Leben" verfasst und vorgetragen haben, auf dem Blog zum Nachlesen zur Verfügung stellen.
Viel Spaß mit diesen Fenstern in groteske, komische, düstere, exotische und apokalyptische Textwelten!
Thomas Piesbergen: Das letzte Gericht
Lena Richter: Was einmal war
Petra Stolz: 89290
Christian Diers: Reife(n)prüfung auf der Überholspur
Silke Tobeler: Hadithas Liste
Heiko Eggers: Der zweite Mann
Ilka Volz: 2 mal im Leben
Nicola Nawe: Der längere Weg
Schreibwerkstatt in Hamburg - Literarische Projekte - Privates Lektorat und Coaching - Einführungsreden und Katalogtexte zu zeitgenössischer Kunst
Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de
Donnerstag, 24. April 2014
Texte der Lesung "Zweimal im Leben": Nicola Nawe - Der längere Weg
Baermann denkt: „Ich auch! Will diesen Job. Ich will auch diesen Job!“ Und er sieht es gleich beim Hereinkommen. Zwei dürre Zeiger machen sich lang und Baermann schießt es durch den Kopf: „Das darf nicht sein!“ Doch Baermann deutet richtig: 10.00 Uhr und nicht eine Minute früher. „Nein“, schreit es in Baermann und gleich darauf: „Doch - ich will den Job!“ Er zettelt in seinen Papieren und sieht die Dreizehn. Dreizehnter Stock und denkt: „Das schaffe ich nicht!“ Denn Baermann kann schon lesen. Jetzt liest er „Aufzug defekt“ und also läuft er los.
Er sieht sich hinaufeilen, wie er Stufe für Stufe überschlägt und da erscheint Paula in seinen Gedanken. Paula, die einzige, für die er um die halbe Welt laufen würde.
Lange Jahre, fast ein ganzes Leben war es her, als er sie in dem alten Hörsaal zum ersten Mal bemerkt hatte. Leicht gebeugt über ein Buch saß sie da, in einer blaugeblümten Tunika, die ihr nicht stand und mit der sie so deutlich auffiel, dass Baermann nicht hatte glauben können, der Einzige zu sein, der sie aus der Nähe anschauen wollte.
Paula saß dort, weil ihr Pate es gewünscht hatte, denn das Paula-Mädchen sollte nach einer elternlosen Kindheit eine größere Zukunft haben. Anders als Baermann, der sich mit Wucht und Wut den Eltern entgegen stemmen musste. Sie wollten keinen Juristen in der Familie, keinen Besserwisser, allenfalls einen armen Musiker. Baermann hatte dennoch diesen Saal erreicht und das erste was er lernte war, dass Paula – blaugeblümt – noch immer ein großes Mädchen war.
Der zweite Stock rast an ihm vorbei - und weiter. Baermann duldet jetzt keinen Aufschub.
Bald war es auch mit Paula weiter gegangen, beim zweiten Lerntreff, welches Baermann morgens fast verpasst hatte, weil es so spät geworden war am Abend vorher im Bella Vista. Nie eine Zugabe verweigern war für Baermann der einzige Weg, sein Studium zu finanzieren und er spielte sich mit heißen Fingern einem Leben entgegen, in dem Paula mittendrin war. Kein Geld für den angehenden Besserwisser gab es im Heimatdorf, das ihn lange festgehalten hatte, um doch noch einen Priester aus ihm zu formen. Im Dorf gab es keine Anwälte. Man einigte sich durch monatelanges Schweigen, schaute nach vorn und ließ das Gras wachsen, auf dem Baermann schließlich davongelaufen war.
„Kunstrasen“, denkt Baermann jetzt und liest: „Fünfter Stock!“ Wie viele Minuten nach Zehn mögen es jetzt sein?
Doch Paula hatte an jenem Tag auf ihn gewartet. Sie war nicht mit der Hornbrille von Tisch vier Kaffee trinken gegangen. Paula verstand wenig, doch sie war da und wollte bleiben. Baermann fiel es schwer, das zu glauben und er stürzte sich tiefer in die Strafgesetzbücher, tauchte durch Kommentare und Absätze, denn die waren eindeutig. Paragraphen wurden ihm Halt und Geländer, wenn die dunklen Gestalten nachts an seine Fenster klopften und ihn auch tagsüber nicht mehr verließen mit ihrem Geflüster: „Du wirst nie ein guter Jurist!“
„Das liebe ich an dir“, hatte das Paula-Mädchen Jahre später gesagt, „dass du nie zweifelst, dass dein Wort echt ist und du mein verlässlicher Held.“ Baermann war sich nun gewiss, dass Paula seine Beständigkeit liebte und seitdem gab es nicht nur die dunklen Gestalten in der Nacht, sondern es herrschte auch die Angst, Paula könnte diesen Dämonen begegnen. Denn dann würde auch sie davonlaufen und Paula zu verlieren wäre stechender als alles andere.
„Siebter Stock“, liest Baermann, „hört das denn nie auf? Das ist die Hälfte“, zählt er, „mehr als die Hälfte.“ Und weiter läuft er seinem Ziel entgegen.
Nach dem ersten juristischen Staatsexamen hätte Baermann beinahe auf halber Strecke aufgegeben. Die nächtlichen Bassläufe hatten seine Arme ruiniert, weil die Musik längst keine mehr war, sondern Schichtarbeit bis es hell wurde. In diesem Moment war Paula erwachsen geworden. Sie hatte das Erbe ihrer Eltern ohne Innehalten verfügbar gemacht, so dass es jetzt Abende für beide gab, und Abende zum Lernen. Das war Paulas Heiratsantrag gewesen.
Und jetzt rennt Baermann dieser neuen Stelle hinterher, um nicht mit leeren Händen „Ja“ sagen zu müssen. Neunter Stock und er kann nicht mehr. Doch niemand rettet ihn.
Baermann sieht den Erstklässler wieder vor sich, wie er damals über die Felder rannte, über Rüben stolperte, sich schmutzige Knie aufschlug und weiter schlingerte; mit leeren Hosentaschen, in denen kurz vorher noch zwei Mark gewesen waren für des Vaters Zeitung. Die hatte er holen sollen, doch er war Stolle und Benk in die Hände gefallen.
Sie hatten ihn kopfüber hängen lassen und das Geld war herausgerutscht. Das Baermännchen, wie sie ihn damals nannten, hatte sich stundenlang nicht nach Hause getraut, war verzweifelt in den Furchen auf und ab gelaufen, ohne Richtung, bis ihn der Hunger umkehren ließ. Baermann erinnert sich nicht mehr an die häusliche Hölle danach, doch an diesem Abend war die Entscheidung gefallen: Er wollte für das Recht in dieser Welt eintreten, für seines und später für Paulas und das ihrer gemeinsamen Kinder.
Elfter Stock. Die Verzweiflung von damals treibt ihn auch jetzt weiter und Baermann denkt immer noch: „Ich will diesen Job, ich will es wenigstens versuchen, auch wenn ich längst schon zu spät bin.“ Noch etwas schneller. Zwölfter Stock, von oben sind Stimmen zu hören. Baermann lockert die Krawatte und liest: „Dreizehnter Stock. Dr. Branko Suderstadt – Vorzimmer.“ Eine Tür öffnet sich, ein Lächeln - nicht von dieser Welt - schaut ihm entgegen. „Nanu“, giggelt das Lächeln, „schon der dritte Bewerber heute im Dauerlauf! Nehmen Sie bitte noch einen Moment Platz, darf es ein Glas Wasser sein?“ Und Baermann nickt, kann kaum schlucken, nur das Wort „Uhr“ rutscht ihm heraus. „Ach ja, die gehen hier alle anders“, trällert das Lächeln und Baermann ahnt etwas. Er sinkt auf einen Stuhl und die Anzeige gegenüber lässt ihn wieder auffahren. Vier Ziffern könnten schöner nicht sein und Baermann liest: „10.00.“
„Pünktlich auf die Minute“, hört er kaum die tiefe Stimme, die von rechts kommt. „Eine interessante Bewerbung haben Sie uns da geschickt. Aber bitte doch, hier entlang.“ Ein fester Händedruck zieht Baermann von seinem Stuhl hoch und er stolpert in ein fremd riechendes Konferenzzimmer. Nimmt Platz und lässt Frage und Antwort an sich vorbeiziehen. Hört sich selbst sprechen, wie aus der Ferne, sieht hier und da ein nickendes Lächeln, nimmt Papiergeraschel wahr. Ein Fenster steht auf Kipp. Die Zeit fliegt und schon ist da wieder dieser kräftige Händedruck, der ihn ins Vorzimmer zurückführt. Zwei Stimmen wechseln sich nun ab, eine hohe, eine tiefe. Bruchstücke erreichen Baermanns Ohr.
„Jaja, ganz eindeutig!“
„Ab 1. Mai?“
„Die Formulare zuschicken!“
„Kennenlerntreffen organisieren?“
Und dann fliegt Baermann zum zweiten Mal an diesem Tag durch dreizehn Stockwerke, nun in umgekehrter Richtung. Er tritt in die Sonne hinaus, da winkt Paula. Sie schwenkt blaue Blumen, sie lächelt fragend und Baermann hört sich antworten: „Ja, Paula. Jetzt ja!“
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Lektorat: Thomas Piesbergen
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Mittwoch, 23. April 2014
Texte der Lesung "Zweimal im Leben: Lena Richter
Ich schreibe dir ein Märchenbuch.
Das Papier knistert unter meinen Händen. Blöcke. Notizbücher. Lose Seiten. Ich häufe sie um mich und weiß nicht, wo ich beginnen soll. Draußen vor dem Fenster liegt grauer Schnee. Hier drin legt sich der Geruch von Krankheit und Medizin schwer auf meine Zunge. An den Wänden bröckelt die gelbe Farbe ab. Ab und zu eilen Schritte quietschend über das Linoleum.
Du, kleine Schwester, schläfst. Nur das Surren und Piepen der Geräte, die um dein Bett versammelt sind, unterbricht die Stille.
Da ist ein Mädchen, das geht durch den finsteren Wald und trifft den bösen Wolf. Er verschlingt sie und ihre Großmutter. Sie können nichts dagegen tun. Nur der Jäger kann sie retten.
Aber hier gibt es keine Jäger und gäbe es welche, so stünden sie johlend um den Wolf und feuerten ihn an, weideten sich an den Schreien und dem Blut. Wölfe verschlingen niemanden am Stück. Sie zerfleischen ihre Beute, bis nichts mehr übrig ist.
Die Mädchen in den Märchen machen mich wütend. Sie leiden sanft und hoffen und warten, bis der Prinz sie erlöst. Sie sind schön und bescheiden und manchmal sogar klug, aber sie tun keiner Seele etwas zu Leide. Schreien nicht, treten nicht, wehren sich nicht. Ihr gutes Herz bringt sie immer in Schwierigkeiten. Du hättest eine gute Prinzessin abgegeben, kleine Schwester. Doch für dich gab es keinen Prinzen in strahlender Rüstung. Du hättest dich selbst retten müssen.
Ich schreibe dir ein Märchenbuch.
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern fühlt seine Glieder nicht mehr. Es schaut zum Himmel und sieht, wie fern und kalt die Sterne sind. Da zieht es sein Kleidchen aus und seine Strümpfe und stopft alles in das Loch in der Hauswand, das der reiche Kaufmann, der darin wohnt, nie entdeckt hat. Es entzündet die Schwefelhölzer, eins nach dem anderen. Schließlich brennt das Haus lichterloh und die Funken steigen bis hoch zu den kalten Sternen. Vor dem Feuer steht das Mädchen, splitternackt, und lacht und tanzt mit den Flammen.
Die Schwestern und Ärzte betrachten uns mitleidig, dich in dem viel zu großem Bett und mich in meinem See aus Papier und Wortfetzen. Deine Haut scheint jeden Tag durchsichtiger zu werden, die Schatten unter deinen Augen dunkler. Ab und zu kommt jemand in einem weißen Kittel, untersucht dich und schüttelt den Kopf. „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass Ihre Schwester aus dem Koma erwacht.“ Die Worte rauschen an mir vorbei. Ich nicke und sehe aus dem Fenster, auf den Schnee, der langsam schmilzt.
In ihren Träumen kämpft Dornröschen hundert Jahre lang gegen die Bestien und die schwarzgeflügelten Feen. Als sie erwacht, nimmt sie Schwert und Spindel und verlässt ihr leeres Schloss. Als sie das Ende der Dornenhecke erreicht, hängt ihre Haut in Fetzen von den Armen. Doch sie lächelt beim Gedanken daran, die Spindel im Herz der bösen Fee zu versenken.
Ich betrachte dich lange. Mein Dornröschen, schlafend und träumend und unerreichbar. Weder Dornen noch Küsse können dich retten.
Heute ist Dienstag. Jeden Dienstag rufe ich die Polizei an und frage nach Neuigkeiten. „Es tut mir leid.“ Herr Lewandowski ist immer freundlich, wenn ich nachfrage. Über seinem Schreibtisch hängt das Fahndungsfoto der Bestie, ein Ausdruck der verschwommenen, pixeligen Sicherheitskamera. In meiner Tasche habe ich immer eine Kopie davon. Herr Lewandowski hat sie mir gegeben. Auf seinem Schreibtisch steht ein Foto seiner Frau neben einer Schüssel mit Hustenbonbons. „Es tut mir leid“, wiederholt er und ich glaube ihm.
Ariadne sieht Theseus in die Augen und weiß, dass er lügt und ihre Hilfe nicht belohnen wird. Sie lässt ihn stehen, bindet den Faden selbst an die Tür des Labyrinths und steigt in die Dunkelheit hinab. Sie sucht und findet den Minotaurus, und als sie ihm sein Wiegenlied singt, wird er friedlich und fällt in tiefen Schlaf. Ariadne betrachtet ihn schweigend. Er ist ein Monster. Er ist ihr kleiner Bruder. Sie streicht ihm sanft über den Kopf, ehe sie ihr Messer zieht. Als die Männer ihres Vaters sie finden, sitzt Ariadne weinend neben dem toten Monstrum, ihrem toten Bruder, in einem See aus Blut.
Gregor ist ein alter Schulfreund, einer von denen, bei denen ich kaum traurig war, ihn aus den Augen zu verlieren. Dass ich eines Tages im selben Bahnwaggon mit ihm sitze, ist Zufall, aber ich spreche ihn an und gebe ihm meine Nummer. Gregor ist Ex-Soldat und aktuell Personenschützer, ein Kleiderschrank von Mann. Seine Worte klingen wie Befehle, selbst wenn sie Bitten sind. Er versteht viel vom Krieg und wenig vom Leben, sagt er ein wenig hilflos, als wir kurz darauf essen gehen. Er ist einsam. Ich hebe mein Glas, wir stoßen an. In Gregors Nachtschrank, das weiß ich am Ende des Abends, liegt seine Waffe.
Medusa schreit, bis ihre Lungen bersten und Blut von ihren Lippen tropft. Sie wirft sich ins Meer und sinkt bis auf den Grund, wo Poseidon, ihr Peiniger, auf seinem Unterwasserthron regiert. Mit ihrem letzten Blick verwandelt sie ihn zu Stein.
Mein Blick wandert wieder und wieder über das verschwommene Bild, den Ausdruck der Sicherheitskamera. Die schmutzigen Kacheln des U-Bahnhofes, die Schemen von eilenden Menschen – und die Bestie im Zentrum des Bildes. Der Mann auf dem Foto ist mittelgroß und mittelkräftig. Kurze Haare. Unauffällig, würde man wohl sagen. Er trägt ein blaues Hemd und Jeans und irgendwelche Schuhe. Um seinen Unterarm zieht sich eine Tätowierung aus verschlungenen Linien. Vielleicht Worte, vielleicht eine Schlange oder ein Oktopus oder einfach ein Muster ohne Sinn. „An dem Tattoo erkennen wir ihn“, hat Herr Lewandowski mir versichert. „Wenn wir ihn erstmal haben, erkennen wir ihn.“ Aber die Bestie bleibt verschwunden. Tausend Jäger wären nicht genug, um sie im Dschungel der Stadt zu fangen. Das Gesicht auf dem Foto ist kaum mehr als ein Fleck, eine Ansammlung von Pixeln. Ein Rätsel ohne Lösung. Ich starre auf das Bild. Auf dem blauen Hemd der Bestie klebt in dunklen Flecken dein Blut.
Sheherazade schlägt den König mit blumigen Märchen in ihren Bann, doch sobald er eingeschlafen ist, flüstert sie andere Worte in sein Ohr. Dunkle Worte sind es, alte Worte voller Magie und Zorn. Sie spricht vom Wüstenwind, der über bleiche Knochen weht, von Dämonen, die in Menschengestalt über die Erde wandeln. Von Gift, das von Schlangenzähnen trieft, von Käfern und Larven, die sich quälend langsam durch Körper fressen. In ihren Geschichten ist die Dunkelheit lebendig, ein hetzendes, hungriges Tier auf der Suche nach Beute. In diesen Nächten erwacht der König schreiend aus seinen Albträumen und Sheherazade tröstet ihn und küsst ihn und reibt duftendes Öl auf seine Schläfen. Je schlimmer er träumt, desto mehr verlangt es den König nach den bunten Gestalten aus ihren Märchen, und bald schläft er jede Nacht in Shereazades Armen ein. Nach tausendundeiner Nacht findet man den König tot in seinem Bett. Von Sheherazade fehlt jede Spur.
„Das mit deiner Schwester ist schrecklich“, sagt Gregor bei unserem dritten Treffen. Wir sitzen auf seinem Sofa. „Steht ihr euch nahe?“ Ich weiß nicht warum, aber ich erzähle ihm alles. Von dem Verkehrsunfall unserer Eltern, nach dem nur noch wir beide übrig waren. Davon, wie ich mein Studium schmiss und zwei Jobs annahm, damit wir nicht aus der Wohnung ausziehen mussten. Davon, wie stolz ich auf uns beide war, weil wir es ohne staatliche Hilfe geschafft hatten. Von der Feier zu deinem 18. Geburtstag, nicht die große Party mit deinen Freunden, sondern unser Abendessen zu zweit, in dem teuren Restaurant, an dem wir Jahre lang nur vorbeigelaufen waren. Unserem Besuch auf dem Friedhof. Zwei Kerzen auf dem Grab, deine Hand in meiner. Und dann der Anruf, der mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss. Gregor hört zu und nickt. Ich sehe ihm an, dass er nicht weiß, was er sagen soll. Stattdessen küsst er mich und ich lasse es geschehen.
Schneewittchen erwacht allein in ihrem Sarg aus Glas. Sie würgt den Apfel aus und fühlt, wie das Gift in ihrem Körper brennt. Doch noch bleibt ihr Zeit. Sie tritt und schlägt den Deckel entzwei, kriecht aus den Scherben und macht sich auf den Weg zum Schloss der Königin. In ihren Adern kocht das Blut und ihre Glieder zittern vor Schmerz, als sie es erreicht. Vom Jäger, der sie verschonte, nimmt sie Pfeil und Bogen. Ein Schuss bleibt ihr, ehe das Gift sie tötet. Schneewittchen zielt und schießt und sieht mit ihrem letzten Atemzug den Pfeil das Auge der Königin durchbohren.
Ich sitze in deinem Zimmer und drehe die Waffe in den Händen. Seit jenem Tag habe ich nichts in diesem Raum angerührt. Auf deinem Schreibtisch steht noch eine leere Kaffeetasse, ein aufgeschlagener Block mit Schulnotizen liegt herum. Neben deinem Bett stapeln sich Bücher, ein ungewaschenes T-Shirt liegt auf dem Boden. Es riecht nach dir, mehr als du selbst nach dir riechst, wenn ich im Krankenhaus meine Nase in deinen Haaren vergrabe und unter dem Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medizin nach dir suche.
Gregor ist verreist. Er und seine Kollegen wurden für zwei Kongresse in Frankreich angestellt. Er wird über zwei Monate fort sein. Ich habe ihm versichert, dass es kein Problem ist, alle paar Tage nach seiner Post zu sehen und seine beiden Topfpflanzen zu gießen. Der Abschied war unbeholfen. Er fehlt mir kaum. Seit Gregor fort ist, liegt seine Waffe geladen und gesichert in meiner Handtasche. Es war leichter als ich dachte, herauszufinden, wie sie funktioniert. Am Wochenende werde ich aufs Land fahren, in irgendeinen Wald, und lernen, damit zu schießen. Ich lerne mich zu wehren gegen die Monster, die da draußen lauern. Ich lerne es für dich.
Kassandra stürmt aus dem Palast ihres Vaters, in dem niemand ihr Glauben schenkt. Mit einer Axt bewaffnet läuft sie durch die Menschen, die auf den Straßen feiern. Mühsam klettert sie auf das hölzerne Pferd, das Geschenk, das in ihren Visionen Troja den Untergang bringt. Sie hackt auf das Holz ein wie eine Wahnsinnige, bis endlich ein Loch darin klafft und der erste Grieche aufschreit, als ihre Axt ihn trifft. Sekunden später stürzt sie zu Boden. Ein Schwert ragt aus ihrer Brust. Die Stadt ist gerettet.
Lisa bringt immer Blumen mit, wenn sie dich besucht, sorgsam ausgewählte Sträuße, die gut duften und den Krankenhausgeruch für ein paar Tage aus deinem Zimmer vertreiben. Sie sitzt auf der Bettkante und redet mit dir, während ich in meiner Ecke Papierstapel sortiere und Notizen mache. Es ist Samstag. Früher hättest du um diese Zeit mit Lisa in unserer Küche gesessen. Ihr hättet Nudeln mit Pesto gekocht und Sekt dazu getrunken und beratschlagt, auf welche Party ihr geht und was ihr dazu anzieht. „Hat die Polizei sich gemeldet?“, fragt sie, wie bei jedem Besuch. Ich schüttele den Kopf. Es gibt nichts Neues. Lisa sieht zu Boden. Ich weiß, dass sie sich noch immer Vorwürfe macht. Weil sie nicht erkannt hat, dass der Kerl, der euch beide schon im Club belästigt hat, im selben Bahnwaggon saß. Weil sie zwei Stationen vor dir ausgestiegen und nach Hause gelaufen ist. Weil sie dich der Bestie überlassen hat. Sie hat alles versucht, um es wieder gut zu machen. Mit dem Phantombild, das nach ihren Angaben entstanden ist, ist sie zu jedem gelaufen, der in jener Nacht im selben Club war oder gewesen sein könnte, zu jedem, der oft dort feiert. Sie hat alle deine Freunde und Bekannten angerufen, damit ich es nicht tun musste. Doch niemand kannte das Gesicht. Niemand konnte helfen. Die Blumen duften nach Sommer. Der Schnee vor dem Fenster ist längst verschwunden. Lisa hält deine Hände vorsichtig in ihren. Tränen fallen auf deine Haut. Ich denke an das Märchen von der Schneekönigin. Doch kein Eis schmilzt in deinem Herzen, und dein böser Traum endet nicht.
Rotkäppchen tritt auf die Waldlichtung und sieht, wie die Tür zum Haus der Großmutter offen steht. Krähen kreisen über dem Haus und der Geruch nach Blut und Raubtieren liegt in der Luft. Sie dreht sich um und geht, ganz langsam und leise erst, dann immer schneller und schließlich rennt sie, so schnell sie kann. Sie meint, das Heulen von Wölfen hinter sich zu hören. Mit wunden Füßen kommt sie zu Hause an.
Ich habe nie an Schicksal geglaubt. Und doch schließt sich am Ende der Kreis. An dem Tag, an dem ich erfahre, dass es für dich keine Hoffnung mehr gibt, finde ich die Bestie. Wie betäubt bin ich aus dem Krankenhaus getaumelt. Die Ärzte haben mir gesagt, dass sie deine Geräte abschalten wollen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass du längst aus deinem bleichen, schmalen Körper gewichen bist. Ich schüttele den Kopf, will ihre Worte nicht hineinlassen. Ich reiße das Fenster auf und werfe all meine Notizen nach draußen, all die nutzlosen Märchen, die dich nicht retten konnten. Der Sommerwind trägt sie fort.
Später sitze ich ohne einen klaren Gedanken im Kopf in der Bahn. Es ist schon dunkel draußen. Ein Fenster steht offen und schwüle Luft weht in den Waggon, vermischt sich mit dem Geruch nach Schweiß und überfüllten Mülleimern. Als die Bestie an mir vorbeigeht, dauert es einige Sekunden, ehe sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammenfügen. Das Gesicht aus dem Phantombild. Der Unterarm mit der verschlungenen Tätowierung. Der unauffällige Mann, Kopfhörer in den Ohren, mittelgroß und mittelkräftig. Die Türen der Bahn schließen sich schon fast, als ich aufspringe und hinter ihm her auf den Bahnsteig haste. Ich sehe, wie er in der Unterführung verschwindet.
Ich folge ihm ganz allein in diesen Tunnel, und doch fühle ich mich, als wären all die Frauen aus meinen Märchen an meiner Seite. Wie Persephone, die am Ende des Sommers in die Welt der Toten hinabsteigt, gleite ich die Treppe hinunter. Es wird kühl. Die Bestie schreitet arglos ihrer Wege. Ahnungslos, so wie du es warst. Ich folge langsam. Niemand sonst ist hier. Das Metall der Waffe ist kalt in meiner Hand, der Geruch von Eisen kriecht in meine Nase.
Rotkäppchen ist erwachsen geworden. Sie trägt Stiefel und Mütze aus Pelz. Die Messer an ihrer Seite sind kalt und scharf, und in den Wäldern gibt es weder Wölfe noch Jäger mehr.
Mit einem leisen Klacken entsichere ich die Pistole. Ein tiefer Atemzug. Mein Herz klopft wild, doch meine Hände sind ruhig. Ich ziele, langsam. Mein Finger krümmt sich um den Abzug.
Leb wohl, Dornröschen.
Der Knall im Tunnel ist ohrenbetäubend.
Es war einmal.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Da ist ein Mädchen, das geht durch den finsteren Wald und trifft den bösen Wolf. Er verschlingt sie und ihre Großmutter. Sie können nichts dagegen tun. Nur der Jäger kann sie retten.
Aber hier gibt es keine Jäger und gäbe es welche, so stünden sie johlend um den Wolf und feuerten ihn an, weideten sich an den Schreien und dem Blut. Wölfe verschlingen niemanden am Stück. Sie zerfleischen ihre Beute, bis nichts mehr übrig ist.
Die Mädchen in den Märchen machen mich wütend. Sie leiden sanft und hoffen und warten, bis der Prinz sie erlöst. Sie sind schön und bescheiden und manchmal sogar klug, aber sie tun keiner Seele etwas zu Leide. Schreien nicht, treten nicht, wehren sich nicht. Ihr gutes Herz bringt sie immer in Schwierigkeiten. Du hättest eine gute Prinzessin abgegeben, kleine Schwester. Doch für dich gab es keinen Prinzen in strahlender Rüstung. Du hättest dich selbst retten müssen.
Ich schreibe dir ein Märchenbuch.
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern fühlt seine Glieder nicht mehr. Es schaut zum Himmel und sieht, wie fern und kalt die Sterne sind. Da zieht es sein Kleidchen aus und seine Strümpfe und stopft alles in das Loch in der Hauswand, das der reiche Kaufmann, der darin wohnt, nie entdeckt hat. Es entzündet die Schwefelhölzer, eins nach dem anderen. Schließlich brennt das Haus lichterloh und die Funken steigen bis hoch zu den kalten Sternen. Vor dem Feuer steht das Mädchen, splitternackt, und lacht und tanzt mit den Flammen.
Die Schwestern und Ärzte betrachten uns mitleidig, dich in dem viel zu großem Bett und mich in meinem See aus Papier und Wortfetzen. Deine Haut scheint jeden Tag durchsichtiger zu werden, die Schatten unter deinen Augen dunkler. Ab und zu kommt jemand in einem weißen Kittel, untersucht dich und schüttelt den Kopf. „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass Ihre Schwester aus dem Koma erwacht.“ Die Worte rauschen an mir vorbei. Ich nicke und sehe aus dem Fenster, auf den Schnee, der langsam schmilzt.
In ihren Träumen kämpft Dornröschen hundert Jahre lang gegen die Bestien und die schwarzgeflügelten Feen. Als sie erwacht, nimmt sie Schwert und Spindel und verlässt ihr leeres Schloss. Als sie das Ende der Dornenhecke erreicht, hängt ihre Haut in Fetzen von den Armen. Doch sie lächelt beim Gedanken daran, die Spindel im Herz der bösen Fee zu versenken.
Ich betrachte dich lange. Mein Dornröschen, schlafend und träumend und unerreichbar. Weder Dornen noch Küsse können dich retten.
Heute ist Dienstag. Jeden Dienstag rufe ich die Polizei an und frage nach Neuigkeiten. „Es tut mir leid.“ Herr Lewandowski ist immer freundlich, wenn ich nachfrage. Über seinem Schreibtisch hängt das Fahndungsfoto der Bestie, ein Ausdruck der verschwommenen, pixeligen Sicherheitskamera. In meiner Tasche habe ich immer eine Kopie davon. Herr Lewandowski hat sie mir gegeben. Auf seinem Schreibtisch steht ein Foto seiner Frau neben einer Schüssel mit Hustenbonbons. „Es tut mir leid“, wiederholt er und ich glaube ihm.
Ariadne sieht Theseus in die Augen und weiß, dass er lügt und ihre Hilfe nicht belohnen wird. Sie lässt ihn stehen, bindet den Faden selbst an die Tür des Labyrinths und steigt in die Dunkelheit hinab. Sie sucht und findet den Minotaurus, und als sie ihm sein Wiegenlied singt, wird er friedlich und fällt in tiefen Schlaf. Ariadne betrachtet ihn schweigend. Er ist ein Monster. Er ist ihr kleiner Bruder. Sie streicht ihm sanft über den Kopf, ehe sie ihr Messer zieht. Als die Männer ihres Vaters sie finden, sitzt Ariadne weinend neben dem toten Monstrum, ihrem toten Bruder, in einem See aus Blut.
Gregor ist ein alter Schulfreund, einer von denen, bei denen ich kaum traurig war, ihn aus den Augen zu verlieren. Dass ich eines Tages im selben Bahnwaggon mit ihm sitze, ist Zufall, aber ich spreche ihn an und gebe ihm meine Nummer. Gregor ist Ex-Soldat und aktuell Personenschützer, ein Kleiderschrank von Mann. Seine Worte klingen wie Befehle, selbst wenn sie Bitten sind. Er versteht viel vom Krieg und wenig vom Leben, sagt er ein wenig hilflos, als wir kurz darauf essen gehen. Er ist einsam. Ich hebe mein Glas, wir stoßen an. In Gregors Nachtschrank, das weiß ich am Ende des Abends, liegt seine Waffe.
Medusa schreit, bis ihre Lungen bersten und Blut von ihren Lippen tropft. Sie wirft sich ins Meer und sinkt bis auf den Grund, wo Poseidon, ihr Peiniger, auf seinem Unterwasserthron regiert. Mit ihrem letzten Blick verwandelt sie ihn zu Stein.
Mein Blick wandert wieder und wieder über das verschwommene Bild, den Ausdruck der Sicherheitskamera. Die schmutzigen Kacheln des U-Bahnhofes, die Schemen von eilenden Menschen – und die Bestie im Zentrum des Bildes. Der Mann auf dem Foto ist mittelgroß und mittelkräftig. Kurze Haare. Unauffällig, würde man wohl sagen. Er trägt ein blaues Hemd und Jeans und irgendwelche Schuhe. Um seinen Unterarm zieht sich eine Tätowierung aus verschlungenen Linien. Vielleicht Worte, vielleicht eine Schlange oder ein Oktopus oder einfach ein Muster ohne Sinn. „An dem Tattoo erkennen wir ihn“, hat Herr Lewandowski mir versichert. „Wenn wir ihn erstmal haben, erkennen wir ihn.“ Aber die Bestie bleibt verschwunden. Tausend Jäger wären nicht genug, um sie im Dschungel der Stadt zu fangen. Das Gesicht auf dem Foto ist kaum mehr als ein Fleck, eine Ansammlung von Pixeln. Ein Rätsel ohne Lösung. Ich starre auf das Bild. Auf dem blauen Hemd der Bestie klebt in dunklen Flecken dein Blut.
Sheherazade schlägt den König mit blumigen Märchen in ihren Bann, doch sobald er eingeschlafen ist, flüstert sie andere Worte in sein Ohr. Dunkle Worte sind es, alte Worte voller Magie und Zorn. Sie spricht vom Wüstenwind, der über bleiche Knochen weht, von Dämonen, die in Menschengestalt über die Erde wandeln. Von Gift, das von Schlangenzähnen trieft, von Käfern und Larven, die sich quälend langsam durch Körper fressen. In ihren Geschichten ist die Dunkelheit lebendig, ein hetzendes, hungriges Tier auf der Suche nach Beute. In diesen Nächten erwacht der König schreiend aus seinen Albträumen und Sheherazade tröstet ihn und küsst ihn und reibt duftendes Öl auf seine Schläfen. Je schlimmer er träumt, desto mehr verlangt es den König nach den bunten Gestalten aus ihren Märchen, und bald schläft er jede Nacht in Shereazades Armen ein. Nach tausendundeiner Nacht findet man den König tot in seinem Bett. Von Sheherazade fehlt jede Spur.
„Das mit deiner Schwester ist schrecklich“, sagt Gregor bei unserem dritten Treffen. Wir sitzen auf seinem Sofa. „Steht ihr euch nahe?“ Ich weiß nicht warum, aber ich erzähle ihm alles. Von dem Verkehrsunfall unserer Eltern, nach dem nur noch wir beide übrig waren. Davon, wie ich mein Studium schmiss und zwei Jobs annahm, damit wir nicht aus der Wohnung ausziehen mussten. Davon, wie stolz ich auf uns beide war, weil wir es ohne staatliche Hilfe geschafft hatten. Von der Feier zu deinem 18. Geburtstag, nicht die große Party mit deinen Freunden, sondern unser Abendessen zu zweit, in dem teuren Restaurant, an dem wir Jahre lang nur vorbeigelaufen waren. Unserem Besuch auf dem Friedhof. Zwei Kerzen auf dem Grab, deine Hand in meiner. Und dann der Anruf, der mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss. Gregor hört zu und nickt. Ich sehe ihm an, dass er nicht weiß, was er sagen soll. Stattdessen küsst er mich und ich lasse es geschehen.
Schneewittchen erwacht allein in ihrem Sarg aus Glas. Sie würgt den Apfel aus und fühlt, wie das Gift in ihrem Körper brennt. Doch noch bleibt ihr Zeit. Sie tritt und schlägt den Deckel entzwei, kriecht aus den Scherben und macht sich auf den Weg zum Schloss der Königin. In ihren Adern kocht das Blut und ihre Glieder zittern vor Schmerz, als sie es erreicht. Vom Jäger, der sie verschonte, nimmt sie Pfeil und Bogen. Ein Schuss bleibt ihr, ehe das Gift sie tötet. Schneewittchen zielt und schießt und sieht mit ihrem letzten Atemzug den Pfeil das Auge der Königin durchbohren.
Ich sitze in deinem Zimmer und drehe die Waffe in den Händen. Seit jenem Tag habe ich nichts in diesem Raum angerührt. Auf deinem Schreibtisch steht noch eine leere Kaffeetasse, ein aufgeschlagener Block mit Schulnotizen liegt herum. Neben deinem Bett stapeln sich Bücher, ein ungewaschenes T-Shirt liegt auf dem Boden. Es riecht nach dir, mehr als du selbst nach dir riechst, wenn ich im Krankenhaus meine Nase in deinen Haaren vergrabe und unter dem Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medizin nach dir suche.
Gregor ist verreist. Er und seine Kollegen wurden für zwei Kongresse in Frankreich angestellt. Er wird über zwei Monate fort sein. Ich habe ihm versichert, dass es kein Problem ist, alle paar Tage nach seiner Post zu sehen und seine beiden Topfpflanzen zu gießen. Der Abschied war unbeholfen. Er fehlt mir kaum. Seit Gregor fort ist, liegt seine Waffe geladen und gesichert in meiner Handtasche. Es war leichter als ich dachte, herauszufinden, wie sie funktioniert. Am Wochenende werde ich aufs Land fahren, in irgendeinen Wald, und lernen, damit zu schießen. Ich lerne mich zu wehren gegen die Monster, die da draußen lauern. Ich lerne es für dich.
Kassandra stürmt aus dem Palast ihres Vaters, in dem niemand ihr Glauben schenkt. Mit einer Axt bewaffnet läuft sie durch die Menschen, die auf den Straßen feiern. Mühsam klettert sie auf das hölzerne Pferd, das Geschenk, das in ihren Visionen Troja den Untergang bringt. Sie hackt auf das Holz ein wie eine Wahnsinnige, bis endlich ein Loch darin klafft und der erste Grieche aufschreit, als ihre Axt ihn trifft. Sekunden später stürzt sie zu Boden. Ein Schwert ragt aus ihrer Brust. Die Stadt ist gerettet.
Lisa bringt immer Blumen mit, wenn sie dich besucht, sorgsam ausgewählte Sträuße, die gut duften und den Krankenhausgeruch für ein paar Tage aus deinem Zimmer vertreiben. Sie sitzt auf der Bettkante und redet mit dir, während ich in meiner Ecke Papierstapel sortiere und Notizen mache. Es ist Samstag. Früher hättest du um diese Zeit mit Lisa in unserer Küche gesessen. Ihr hättet Nudeln mit Pesto gekocht und Sekt dazu getrunken und beratschlagt, auf welche Party ihr geht und was ihr dazu anzieht. „Hat die Polizei sich gemeldet?“, fragt sie, wie bei jedem Besuch. Ich schüttele den Kopf. Es gibt nichts Neues. Lisa sieht zu Boden. Ich weiß, dass sie sich noch immer Vorwürfe macht. Weil sie nicht erkannt hat, dass der Kerl, der euch beide schon im Club belästigt hat, im selben Bahnwaggon saß. Weil sie zwei Stationen vor dir ausgestiegen und nach Hause gelaufen ist. Weil sie dich der Bestie überlassen hat. Sie hat alles versucht, um es wieder gut zu machen. Mit dem Phantombild, das nach ihren Angaben entstanden ist, ist sie zu jedem gelaufen, der in jener Nacht im selben Club war oder gewesen sein könnte, zu jedem, der oft dort feiert. Sie hat alle deine Freunde und Bekannten angerufen, damit ich es nicht tun musste. Doch niemand kannte das Gesicht. Niemand konnte helfen. Die Blumen duften nach Sommer. Der Schnee vor dem Fenster ist längst verschwunden. Lisa hält deine Hände vorsichtig in ihren. Tränen fallen auf deine Haut. Ich denke an das Märchen von der Schneekönigin. Doch kein Eis schmilzt in deinem Herzen, und dein böser Traum endet nicht.
Rotkäppchen tritt auf die Waldlichtung und sieht, wie die Tür zum Haus der Großmutter offen steht. Krähen kreisen über dem Haus und der Geruch nach Blut und Raubtieren liegt in der Luft. Sie dreht sich um und geht, ganz langsam und leise erst, dann immer schneller und schließlich rennt sie, so schnell sie kann. Sie meint, das Heulen von Wölfen hinter sich zu hören. Mit wunden Füßen kommt sie zu Hause an.
Ich habe nie an Schicksal geglaubt. Und doch schließt sich am Ende der Kreis. An dem Tag, an dem ich erfahre, dass es für dich keine Hoffnung mehr gibt, finde ich die Bestie. Wie betäubt bin ich aus dem Krankenhaus getaumelt. Die Ärzte haben mir gesagt, dass sie deine Geräte abschalten wollen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass du längst aus deinem bleichen, schmalen Körper gewichen bist. Ich schüttele den Kopf, will ihre Worte nicht hineinlassen. Ich reiße das Fenster auf und werfe all meine Notizen nach draußen, all die nutzlosen Märchen, die dich nicht retten konnten. Der Sommerwind trägt sie fort.
Später sitze ich ohne einen klaren Gedanken im Kopf in der Bahn. Es ist schon dunkel draußen. Ein Fenster steht offen und schwüle Luft weht in den Waggon, vermischt sich mit dem Geruch nach Schweiß und überfüllten Mülleimern. Als die Bestie an mir vorbeigeht, dauert es einige Sekunden, ehe sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammenfügen. Das Gesicht aus dem Phantombild. Der Unterarm mit der verschlungenen Tätowierung. Der unauffällige Mann, Kopfhörer in den Ohren, mittelgroß und mittelkräftig. Die Türen der Bahn schließen sich schon fast, als ich aufspringe und hinter ihm her auf den Bahnsteig haste. Ich sehe, wie er in der Unterführung verschwindet.
Ich folge ihm ganz allein in diesen Tunnel, und doch fühle ich mich, als wären all die Frauen aus meinen Märchen an meiner Seite. Wie Persephone, die am Ende des Sommers in die Welt der Toten hinabsteigt, gleite ich die Treppe hinunter. Es wird kühl. Die Bestie schreitet arglos ihrer Wege. Ahnungslos, so wie du es warst. Ich folge langsam. Niemand sonst ist hier. Das Metall der Waffe ist kalt in meiner Hand, der Geruch von Eisen kriecht in meine Nase.
Rotkäppchen ist erwachsen geworden. Sie trägt Stiefel und Mütze aus Pelz. Die Messer an ihrer Seite sind kalt und scharf, und in den Wäldern gibt es weder Wölfe noch Jäger mehr.
Mit einem leisen Klacken entsichere ich die Pistole. Ein tiefer Atemzug. Mein Herz klopft wild, doch meine Hände sind ruhig. Ich ziele, langsam. Mein Finger krümmt sich um den Abzug.
Leb wohl, Dornröschen.
Der Knall im Tunnel ist ohrenbetäubend.
Es war einmal.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Texte der Lesung "Zweimal im Leben": Petra Stolz - 89290
89290
„Können Sie mich verstehen? Ich bin Ihre Ärztin und werde Sie betreuen. Ich werde Sie jetzt in einen Raum bringen, da kann Ihnen nichts passieren. Wenn Sie gleich wieder vollständig wach sind, kommen Sie erst einmal an. Gewöhnen Sie sich an Ihre neue Umgebung. Ich werde bei Ihnen sein. Gleich auf der anderen Seite der Tür. Machen Sie sich keine Sorgen, hier sind Sie sicher.“
Der Augenblick, wenn ein Patient in unsere Klinik kommt, ist für mich der Wichtigste, Hochwürden. Meist sind sie so verwirrt, dass wir sie zunächst in unseren isolierten Sicherheitsraum bringen, wo sie ohne Einflüsse von außen zur Ruhe kommen können. Über eine Kamera und ein Mikrofon kann ich sie beobachten, ohne sie zu bedrängen. Zunächst schließe ich die Augen und versuche zu hören, wie sie sich fühlen. Atmen sie schwer? Weinen sie? Dann betrachte ich sie und versuche mich in sie hinein zu versetzen.
Als Heinrich eingeliefert wurde, wimmerte er leise vor sich hin. Er kauerte in der Mitte des Raumes, die Hände wie schützend über dem Kopf verschränkt. Sein Blick hüpfte unstet über die Wände und die Tür, als suche er etwas. Scheinbar war das Ergebnis für ihn beruhigend, denn nach einer Weile entspannte er sichtlich und schlief kurz darauf zusammen gekauert ein. Schon bald wurde mir klar, dass Heinrich genau diesen Raum brauchte, denn immer wenn ich ihn hinausbringen wollte, schrie, tobte und weinte er ohne Unterlass. Meine ersten Gespräche mit ihm fanden also in unserer Weichzelle statt.
„Heinrich, wissen Sie warum Sie hier sind?“
„Ja“
„Erinnern Sie sich was Ihnen zugestoßen ist?“
„Heinrich? Was ist Ihnen zugestoßen?“
„Polizei“
„Die Polizei hat Sie hergebracht. Weil es Ihnen schlecht ging?“
„Ja“
„Sind Sie froh hier zu sein?“
„Ja“
„Warum macht Sie das froh?“
„Heinrich, können Sie mir das sagen, warum sie froh sind hier zu sein?“
„Sicher“
„Sie fühlen sich hier sicher. Wovor sind Sie sicher Heinrich?“
„Verraten Sie es mir.“
„Gottes Rache“
Aus Heinrichs Akte ging hervor, dass er 1918 geboren war. Er war jetzt 1979 also 61 Jahre alt. Damit gehörte er zu der Generation, mit der ich nie Frieden geschlossen hatte.
Er war, ein Jahr ehe er zu uns kam, vom Blitz getroffen worden, als er während seiner Arbeit als Elektriker eine Antenne auf dem Dach eines Hauses reparieren wollte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt.
Als ich das las fröstelte ich. Damit hatten wir etwas Entscheidendes gemein. Auch ich hatte einen fürchterlichen Stromschlag überlebt. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn der Strom durch deinen Körper wütet.
Wenn er an der Spitze des Zeigefingers in dich eindringt. Wie zerberstendes Glas, das mit Millionen messerscharfer Kanten deine Adern, Sehnen und Muskeln durchtrennt, gräbt sich der Strom durch jedes einzelne Glied deines Fingers. Sämtliche Muskeln beginnen sofort unkontrollierbar spastisch zu zucken, als versuchten sie den Weg zu versperren. Du beißt dir auf die Zunge, in die Wange und der Schaum vor deinem Mund färbt sich rot. Du willst schreien, willst um Erlösung betteln, aber dein Kiefer ist wie verschweißt und kein Laut kommt über deine verzerrten, blutenden Lippen.
Wenn der Strom durch das Schultergelenk dringt, ist der Schmerz so unerträglich, so blau, so zitternd, dass sich deine Blase entleert und es warm und klebrig an dir hinab läuft. Die Welt wird weiß und das zweischneidige Schwert, das das Mark vom Bein und die Seele vom Geist zu scheiden vermag zerreißt dich gleichermaßen von außen und von innen.
Wenn der Strom durch die Nieren tobt, fragst du dich, für welche Taten Gott dich bestrafen will. Ist es, weil du hochmütig warst und die schwarzen Lackschuhe zur Synagoge anziehen wolltest oder weil du deine Mutter nicht gerettet hast, als sie abgeholt wurde. Du möchtest um Gnade flehen. Aufhören! Aufhören! Bitte, bitte aufhören!
In dem Augenblick, da der Strom in dein Bein eindringt und sich mit der Wärme deines Urins vereinigt, beginnt eine Angst von dir Besitz zu ergreifen. Die abgrundtiefe Angst sterben zu müssen. Obwohl du noch viel zu jung bist, noch ein Kind.
Und wenn nach scheinbar unendlich langer Zeit der Strom dein gequältes Fleisch durch den Fuß wieder verlässt, spürst du, wie dein Geist durch den geöffneten Körper entfliehen will. Du willst ihn festhalten, zum Dableiben bewegen und dann, nach einer Weile ängstlicher Stille, setzt der normale Zeitfluss wieder ein und du erkennst, dass du lebst.
Ja, Hochwürden, ich hatte das Schrecklichste, was Sie sich vorstellen können überlebt, aber entronnen war ich den Folterkammern damit noch nicht.
„Heinrich, wie geht es dir heute?“
„Gut, hier ist es sicher.“
„Das freut mich. Dann möchte ich heute mit dir über die Zeit nach deinem Unfall sprechen. Bist du dafür bereit?“
„Ich weiß es nicht. Wir können es versuchen.“
„Das ist gut. Also ich stelle dir wie immer Fragen und wenn es dir schlecht geht, hören wir einfach auf.“
„Ja“
„Als du nach deinem Unfall aus dem Krankenhaus kamst, Heinrich, was hast du dann gemacht, kannst du dich daran erinnern?“
„Ich ging als erstes in die Bibliothek.“
„Warum hast du das gemacht?“
„Eine Krankenschwester hatte mir von Roy Sullivan erzählt. Ich musste alles über ihn in Erfahrung bringen. Ich musste wissen, wie so etwas passieren konnte und wie ich es verhindern könnte, dass es mir passierte.“
„Sullivan wurde auch von einem Blitz getroffen, richtig?“
„Von einem? 1977 das siebte Mal!“
Könnt Ihr euch vorstellen Hochwürden, wie mich Heinrichs Worte trafen? Ich hatte mich zwar gründlich vorbereitet und von Sullivan gelesen, deshalb war es nicht neu für mich, dass es Menschen gibt, die Blitzschläge überlebt haben und in wenigen, rätselhaften Fällen sogar mehrfach. Aber als ich Heinrichs Stimme diese Worte sagen hörte, holte mich meine Vergangenheit erneut ein und ich zitterte bei der Vorstellung was Sullivan erlitten hatte. Und die schrecklichen Worte, die mich seit über 20 Jahren Nacht für Nacht verfolgen, hallten auch in diesem Augenblick erbarmungslos in mir wieder. „Sie lebt noch. Schließ sie morgen noch mal an. Gleiche Zeit wie heute. Und wasch sie, sie stinkt.“
Ja, sie lebte noch.
Jede Nacht wache ich auf, schweißgebadet, und warte darauf, dass mich wieder jemand, der auch nichts ist, als eine Nummer in dem Zählwerk des Grauens, ein abgemagertes Skelett, so wie ich, von meinem Schlafplatz zerrt. Es dauert immer eine ganze Weile, bis mir bewusst wird, dass ich nicht mehr an dem Ort meiner Alpträume bin. Nie träume ich von meiner Rettung. Meiner Befreiung in jener Nacht, als ich wach lag und jede Sekunde meines Lebens festhalten wollte, als ich alles tat, um die Zeit anzuhalten, es nicht Morgen werden zu lassen, damit ich nicht erneut von meinem Peiniger hingerichtet würde. Nie träume ich von dem Soldaten, der die Tür zu meiner Zelle eintrat, als ob sie aus Sperrholz wäre. Nie von seinen Tränen in den Augen, als er mich ansah und mich auf seinen starken Armen in die kühle Morgenluft trug. Es ist, als ob meine Rettung erst noch erfolgen müsse.
Nie habe ich, Hochwürden, die Ängste eines Patienten besser verstanden als die von Heinrich.
„Hat dir der Gedanke an Sullivan Angst gemacht, Heinrich?“
„Schreckliche Angst. Der Gedanke ein zweites Mal getroffen zu werden, ist schlimmer als der Blitzeinschlag selbst.“
„Was hast du dann unternommen?“
„Ich habe versucht mich dagegen zu schützen. Ich habe Blitzableiter angebracht, habe alle elektrischen Geräte isoliert, habe mir Schutzkleidung angefertigt. Und ich bin nie bei schlechtem Wetter nach draußen gegangen. Selbst bei Sonnenschein konnte ich mich kaum im Freien aufhalten.“
Ja, Hochwürden, auch ich brauchte Schutz, genau wie Heinrich. Dabei haben mir meine Pflegeeltern geholfen, die mich mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgeholt haben, die mir ihren Katholischen Glauben nahe gebracht haben. Zwar konnten sie mir nicht meine Eltern ersetzen und es ist vielleicht nicht recht, dass sie mich in ihrem, nicht in meinem Glauben unterrichtet haben, aber ich bin ihnen auf ewig dankbar, dass sie sich meiner angenommen haben. Mir hat mein Wille geholfen, meinem Leben einen Sinn zu geben, anderen zu helfen. Mein Beruf, bei dem ich lernen konnte, dass Elektroschocktherapie auch etwas Gutes bewirken kann. All das war wie ein Panzer um meine geschundene Seele.
„Fühltest du dich durch deine Schutzmaßnahmen sicherer, Heinrich?“
„Nein. Es half nichts.“
„Warum glaubst du, half es nichts?“
„Weil Gott sich mit dem Teufel verbündet hat.“
„Warum sollte Gott das tun?“
Heinrich senkte seinen Blick zu Boden und schwieg. Dann nach einer Weile hob er den Kopf, der immer wieder nach rechts und links wegrutschte, bis es ihm schließlich gelang mir in die Augen zu schauen. Vorsichtig berührte ich seine zitternde Hand. Er rang nach Worten und ich ließ ihm Zeit.
Wie Ihr wisst Hochwürden, waren meine liebevollen Pflegeltern sehr gläubig und im Laufe der Jahre wurde ihr Gott auch zu meinem Vertrauten. Ich habe gelernt, was Vergebung ist. Der christliche Gott war in meinen Augen gütig, barmherzig und kein Gott der Rache. Ich konnte ihn mir nicht vorstellen als einen, der sich mit dem Teufel verbündete. Trotzdem, mir gefiel der Gedanke, dass Gott sich erzürnen könnte über das Unrecht und das Grauen, das auf dieser Welt geschieht. Und als Heinrichs Worte in der Luft schwangen, wünschte ich mir auf einmal, es wäre wahr. Ich wünschte von tiefstem Herzen Gott würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich und Millionen meiner Brüder und Schwestern zu rächen.
„Weil ich Dinge getan habe“, flüsterte Heinrich, „die Gott nicht mehr ruhig schlafen lassen.“
Seine Worte verursachten mir Übelkeit. Ich versuchte die Gedanken, die von den Lippen eines des Schlafes beraubten Gottes unaufhörlich auf mich einstürmten, zu verdrängen, bis ich mir endlich eingestand, dass ich sie zulassen musste. In jenem Augenblick verstand ich plötzlich, was Gott mir sagen wollte.
Ich fragte mich jede Nacht, Hochwürden, ob ich meinen Peiniger wohl wiedererkennen würde, wenn ich ihm jemals wieder gegenüber stehe. Ich erinnere jedes Detail, jedes Flackern der nackten Glühbirnen, den Geruch des Desinfektionsmittels, nur das Gesicht des Menschen, der mein Leben zerstört hatte, war in meinen Träumen stets verschwommen und verzerrt gewesen. Vielleicht hat aber auch meine kindliche Seele dem Grauen einfach kein Gesicht geben wollen.
„Keine Sorge, Heinrich, wir werden Gott seinen Schlaf zurückgeben.“
Ich wusste jetzt, was notwendig war.
„Liebe Kollegen, ich weiß, dass es sich vielleicht in Ihren Ohren seltsam anhören mag, aber ich möchte vorschlagen es auch in diesem Fall mit der EST zu versuchen.“
Der Chefarzt schaute mich befremdlich an. „Liebe Kollegin, ich weiß ja, dass Sie mit der Anwendung der Elektroschocktherapie bisher beachtliche Erfolge erzielt haben. Aber in diesem Fall wollten wir doch die posttraumatische Belastungsstörung mit Medikamenten behandeln. Ein Stromschlag ist doch genau dass, was der Patient am meisten fürchtet.“
Ich atmete tief durch, ehe ich erwiderte. „Meines Erachtens sind seine Ängsten und Vorstellungen zwanghafter Natur, weshalb mir eine Konfrontationstherapie mit Unterstützung von Medikamenten die Wirkungsvollste scheint. Wir konfrontieren ihn kontrolliert mit seiner Angst, so lernt er, den Stier bei den Hörnern zu packen.“
„Bisher“ ergänzte die Oberschwester, „hat keines der Medikamente auch nur im Geringsten angeschlagen.“
„Ab morgen, mein lieber Heinrich, werden wir eine neue Therapie beginnen. Ich will offen zu dir sein, bisher hatten wir nicht viel Erfolg, deshalb hat der Chefarzt vorgeschlagen außergewöhnliche Wege zu beschreiten. Du musst lernen, dass das, was du fürchtest nicht bedrohlich ist.“
„Ich verstehe nicht, was das bedeutet.“
„Das bedeutet, dass wir morgen mit einer Elektrotherapie beginnen werden.“
Es war, als ob etwas in Heinrichs Kopf „klick“ gemacht hätte. Seine Furcht spiegelte sich in seinen Augen wider. Ich dachte, er würde schreien und toben, und sich mit aller Macht wehren. Doch Heinrichs Kampf spielte sich nur in seinem Inneren ab. Seine Augen wurden glasig, aus seinem Mund kam nur ein Röcheln und es bildeten sich Spuckebläschen auf seinen Lippen. Er zuckte auf seinem Stuhl, als ob er bereits an eines der Geräte angeschlossen sei.
„Du willst doch wieder gesund werden Heinrich, oder? Heinrich, hörst du mir zu? Du willst doch deinen Seelenfrieden wieder finden!“
„Hilfe“
Ich konnte ihn kaum verstehen.
„Ja, ich bin mir auch sicher, dass dir das helfen wird, dann sind wir uns ja einig.“ Ich rief die Schwester, „bitte bringen Sie ihn hinaus. Morgen um diese Zeit können wir dann beginnen. Und waschen Sie ihn noch einmal, er hat sich eingenässt.“
Als ich in dieser Nacht aus meinem Alptraum aufwachte, wusste ich sofort, wo ich war. Eine wundervoll kribbelnde Elektrizität durchflute mich. Ich genoss jede Sekunde davon und lag wach, bis der Morgen dämmerte. Wisst Ihr Hochwürden, dass manche Nächte Flügel haben? Ganz anders als die Nächte, durch die wir uns Schritt für Schritt selbst kämpfen müssen, immer in der Angst in einen der zahlreichen Abgründe zu stürzen, die im Dunkeln auf uns lauern. Eine Nacht mit Flügeln gleitet ganz sanft vorbei und trägt uns mit sich, bis sie uns behutsam auf den ersten Sonnenstrahlen absetzt. Diese Nacht war meine erste Nacht mit Flügeln seit meinem 10. Lebensjahr.
Heinrichs glasige Augen schienen, durch seine fettigen Haarsträhnen hindurch an mir vorbei, einen Punkt auf der Wand zu fixieren. Er saß nahezu regungslos auf seiner Pritsche, bis eine träge summende Fliege seinen Blick kreuzte und er jäh zusammenzuckte.
„Komm Heinrich, gehen wir, wir wollen gleich beginnen.“
Heinrich wehrte sich nicht. Es ließ sich von mir wie eine Marionette führen. Er wirkte, als wäre er bereits nicht mehr Teil dieser Welt. Wie ein Geist, dachte ich und fragte mich, wo der Mann, der er einmal gewesen war, sich in diesem Augenblick wohl befand. Ihm lief ein Speichelfaden aus dem Mund und seine Augen starrten auf den Boden. Er setzte einen Schritt vor den anderen ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Als er mit nacktem Oberkörper auf der Liege lag, wirkte er äußerlich ruhig. Nur seine geweiteten Augen und seine zitternden Hände ließen erahnen, was in seinem Inneren vor sich ging. Ich kannte das Gefühl genau, das in ihm wütete und sein Nervensystem kollabieren ließ.
Nein, Hochwürden, ich bitte nicht um Vergebung für mich, denn ich handelte im Auftrag eines schlaflosen Gottes. Ich bitte auch nicht um Vergebung für Heinrich, denn manche Dinge können nicht vergeben werden. Ich bitte Euch einzig Hochwürden, um Vergebung für Gott, der alles geschehen ließ, was geschah.
Als ich die verschiedenen Dioden auf Heinrichs Haut klebte, wusste ich, dass ich mein ganzes Leben zielstrebig auf diesen Tag hingearbeitet hatte.
„Eine, um den Herzschlag zu kontrollieren, zum Schutz des Patienten“ sagte ich mit fester Stimme. Ich wusste, dass dies der Augenblick meiner Befreiung war.
„Zwei für die Aufzeichnung der Hirnströme zu wissenschaftlichen Zwecken.“ Ich wusste, dass ich in der kommenden Nacht ohne Alptraum schlafen würde.
„Und schließlich die letzten beiden für die Therapie selbst.“ Ich war mit Gott und dem Teufel in Einklang.
Heinrichs Puls raste und das EEG zeigte ein skurriles Bild wild schwingender Kurven.
„89290“ sagte ich und hielt ihm meinen Unterarm vor das Gesicht. „Sicher erinnerst du dich.“ Ich wartete noch einen Augenblick, so dass Heinrichs Gehirn den Anblick der Tätowierung zu deuten vermochte.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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„Können Sie mich verstehen? Ich bin Ihre Ärztin und werde Sie betreuen. Ich werde Sie jetzt in einen Raum bringen, da kann Ihnen nichts passieren. Wenn Sie gleich wieder vollständig wach sind, kommen Sie erst einmal an. Gewöhnen Sie sich an Ihre neue Umgebung. Ich werde bei Ihnen sein. Gleich auf der anderen Seite der Tür. Machen Sie sich keine Sorgen, hier sind Sie sicher.“
Der Augenblick, wenn ein Patient in unsere Klinik kommt, ist für mich der Wichtigste, Hochwürden. Meist sind sie so verwirrt, dass wir sie zunächst in unseren isolierten Sicherheitsraum bringen, wo sie ohne Einflüsse von außen zur Ruhe kommen können. Über eine Kamera und ein Mikrofon kann ich sie beobachten, ohne sie zu bedrängen. Zunächst schließe ich die Augen und versuche zu hören, wie sie sich fühlen. Atmen sie schwer? Weinen sie? Dann betrachte ich sie und versuche mich in sie hinein zu versetzen.
Als Heinrich eingeliefert wurde, wimmerte er leise vor sich hin. Er kauerte in der Mitte des Raumes, die Hände wie schützend über dem Kopf verschränkt. Sein Blick hüpfte unstet über die Wände und die Tür, als suche er etwas. Scheinbar war das Ergebnis für ihn beruhigend, denn nach einer Weile entspannte er sichtlich und schlief kurz darauf zusammen gekauert ein. Schon bald wurde mir klar, dass Heinrich genau diesen Raum brauchte, denn immer wenn ich ihn hinausbringen wollte, schrie, tobte und weinte er ohne Unterlass. Meine ersten Gespräche mit ihm fanden also in unserer Weichzelle statt.
„Heinrich, wissen Sie warum Sie hier sind?“
„Ja“
„Erinnern Sie sich was Ihnen zugestoßen ist?“
„Heinrich? Was ist Ihnen zugestoßen?“
„Polizei“
„Die Polizei hat Sie hergebracht. Weil es Ihnen schlecht ging?“
„Ja“
„Sind Sie froh hier zu sein?“
„Ja“
„Warum macht Sie das froh?“
„Heinrich, können Sie mir das sagen, warum sie froh sind hier zu sein?“
„Sicher“
„Sie fühlen sich hier sicher. Wovor sind Sie sicher Heinrich?“
„Verraten Sie es mir.“
„Gottes Rache“
Aus Heinrichs Akte ging hervor, dass er 1918 geboren war. Er war jetzt 1979 also 61 Jahre alt. Damit gehörte er zu der Generation, mit der ich nie Frieden geschlossen hatte.
Er war, ein Jahr ehe er zu uns kam, vom Blitz getroffen worden, als er während seiner Arbeit als Elektriker eine Antenne auf dem Dach eines Hauses reparieren wollte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt.
Als ich das las fröstelte ich. Damit hatten wir etwas Entscheidendes gemein. Auch ich hatte einen fürchterlichen Stromschlag überlebt. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn der Strom durch deinen Körper wütet.
Wenn er an der Spitze des Zeigefingers in dich eindringt. Wie zerberstendes Glas, das mit Millionen messerscharfer Kanten deine Adern, Sehnen und Muskeln durchtrennt, gräbt sich der Strom durch jedes einzelne Glied deines Fingers. Sämtliche Muskeln beginnen sofort unkontrollierbar spastisch zu zucken, als versuchten sie den Weg zu versperren. Du beißt dir auf die Zunge, in die Wange und der Schaum vor deinem Mund färbt sich rot. Du willst schreien, willst um Erlösung betteln, aber dein Kiefer ist wie verschweißt und kein Laut kommt über deine verzerrten, blutenden Lippen.
Wenn der Strom durch das Schultergelenk dringt, ist der Schmerz so unerträglich, so blau, so zitternd, dass sich deine Blase entleert und es warm und klebrig an dir hinab läuft. Die Welt wird weiß und das zweischneidige Schwert, das das Mark vom Bein und die Seele vom Geist zu scheiden vermag zerreißt dich gleichermaßen von außen und von innen.
Wenn der Strom durch die Nieren tobt, fragst du dich, für welche Taten Gott dich bestrafen will. Ist es, weil du hochmütig warst und die schwarzen Lackschuhe zur Synagoge anziehen wolltest oder weil du deine Mutter nicht gerettet hast, als sie abgeholt wurde. Du möchtest um Gnade flehen. Aufhören! Aufhören! Bitte, bitte aufhören!
In dem Augenblick, da der Strom in dein Bein eindringt und sich mit der Wärme deines Urins vereinigt, beginnt eine Angst von dir Besitz zu ergreifen. Die abgrundtiefe Angst sterben zu müssen. Obwohl du noch viel zu jung bist, noch ein Kind.
Und wenn nach scheinbar unendlich langer Zeit der Strom dein gequältes Fleisch durch den Fuß wieder verlässt, spürst du, wie dein Geist durch den geöffneten Körper entfliehen will. Du willst ihn festhalten, zum Dableiben bewegen und dann, nach einer Weile ängstlicher Stille, setzt der normale Zeitfluss wieder ein und du erkennst, dass du lebst.
Ja, Hochwürden, ich hatte das Schrecklichste, was Sie sich vorstellen können überlebt, aber entronnen war ich den Folterkammern damit noch nicht.
„Heinrich, wie geht es dir heute?“
„Gut, hier ist es sicher.“
„Das freut mich. Dann möchte ich heute mit dir über die Zeit nach deinem Unfall sprechen. Bist du dafür bereit?“
„Ich weiß es nicht. Wir können es versuchen.“
„Das ist gut. Also ich stelle dir wie immer Fragen und wenn es dir schlecht geht, hören wir einfach auf.“
„Ja“
„Als du nach deinem Unfall aus dem Krankenhaus kamst, Heinrich, was hast du dann gemacht, kannst du dich daran erinnern?“
„Ich ging als erstes in die Bibliothek.“
„Warum hast du das gemacht?“
„Eine Krankenschwester hatte mir von Roy Sullivan erzählt. Ich musste alles über ihn in Erfahrung bringen. Ich musste wissen, wie so etwas passieren konnte und wie ich es verhindern könnte, dass es mir passierte.“
„Sullivan wurde auch von einem Blitz getroffen, richtig?“
„Von einem? 1977 das siebte Mal!“
Könnt Ihr euch vorstellen Hochwürden, wie mich Heinrichs Worte trafen? Ich hatte mich zwar gründlich vorbereitet und von Sullivan gelesen, deshalb war es nicht neu für mich, dass es Menschen gibt, die Blitzschläge überlebt haben und in wenigen, rätselhaften Fällen sogar mehrfach. Aber als ich Heinrichs Stimme diese Worte sagen hörte, holte mich meine Vergangenheit erneut ein und ich zitterte bei der Vorstellung was Sullivan erlitten hatte. Und die schrecklichen Worte, die mich seit über 20 Jahren Nacht für Nacht verfolgen, hallten auch in diesem Augenblick erbarmungslos in mir wieder. „Sie lebt noch. Schließ sie morgen noch mal an. Gleiche Zeit wie heute. Und wasch sie, sie stinkt.“
Ja, sie lebte noch.
Jede Nacht wache ich auf, schweißgebadet, und warte darauf, dass mich wieder jemand, der auch nichts ist, als eine Nummer in dem Zählwerk des Grauens, ein abgemagertes Skelett, so wie ich, von meinem Schlafplatz zerrt. Es dauert immer eine ganze Weile, bis mir bewusst wird, dass ich nicht mehr an dem Ort meiner Alpträume bin. Nie träume ich von meiner Rettung. Meiner Befreiung in jener Nacht, als ich wach lag und jede Sekunde meines Lebens festhalten wollte, als ich alles tat, um die Zeit anzuhalten, es nicht Morgen werden zu lassen, damit ich nicht erneut von meinem Peiniger hingerichtet würde. Nie träume ich von dem Soldaten, der die Tür zu meiner Zelle eintrat, als ob sie aus Sperrholz wäre. Nie von seinen Tränen in den Augen, als er mich ansah und mich auf seinen starken Armen in die kühle Morgenluft trug. Es ist, als ob meine Rettung erst noch erfolgen müsse.
Nie habe ich, Hochwürden, die Ängste eines Patienten besser verstanden als die von Heinrich.
„Hat dir der Gedanke an Sullivan Angst gemacht, Heinrich?“
„Schreckliche Angst. Der Gedanke ein zweites Mal getroffen zu werden, ist schlimmer als der Blitzeinschlag selbst.“
„Was hast du dann unternommen?“
„Ich habe versucht mich dagegen zu schützen. Ich habe Blitzableiter angebracht, habe alle elektrischen Geräte isoliert, habe mir Schutzkleidung angefertigt. Und ich bin nie bei schlechtem Wetter nach draußen gegangen. Selbst bei Sonnenschein konnte ich mich kaum im Freien aufhalten.“
Ja, Hochwürden, auch ich brauchte Schutz, genau wie Heinrich. Dabei haben mir meine Pflegeeltern geholfen, die mich mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgeholt haben, die mir ihren Katholischen Glauben nahe gebracht haben. Zwar konnten sie mir nicht meine Eltern ersetzen und es ist vielleicht nicht recht, dass sie mich in ihrem, nicht in meinem Glauben unterrichtet haben, aber ich bin ihnen auf ewig dankbar, dass sie sich meiner angenommen haben. Mir hat mein Wille geholfen, meinem Leben einen Sinn zu geben, anderen zu helfen. Mein Beruf, bei dem ich lernen konnte, dass Elektroschocktherapie auch etwas Gutes bewirken kann. All das war wie ein Panzer um meine geschundene Seele.
„Fühltest du dich durch deine Schutzmaßnahmen sicherer, Heinrich?“
„Nein. Es half nichts.“
„Warum glaubst du, half es nichts?“
„Weil Gott sich mit dem Teufel verbündet hat.“
„Warum sollte Gott das tun?“
Heinrich senkte seinen Blick zu Boden und schwieg. Dann nach einer Weile hob er den Kopf, der immer wieder nach rechts und links wegrutschte, bis es ihm schließlich gelang mir in die Augen zu schauen. Vorsichtig berührte ich seine zitternde Hand. Er rang nach Worten und ich ließ ihm Zeit.
Wie Ihr wisst Hochwürden, waren meine liebevollen Pflegeltern sehr gläubig und im Laufe der Jahre wurde ihr Gott auch zu meinem Vertrauten. Ich habe gelernt, was Vergebung ist. Der christliche Gott war in meinen Augen gütig, barmherzig und kein Gott der Rache. Ich konnte ihn mir nicht vorstellen als einen, der sich mit dem Teufel verbündete. Trotzdem, mir gefiel der Gedanke, dass Gott sich erzürnen könnte über das Unrecht und das Grauen, das auf dieser Welt geschieht. Und als Heinrichs Worte in der Luft schwangen, wünschte ich mir auf einmal, es wäre wahr. Ich wünschte von tiefstem Herzen Gott würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich und Millionen meiner Brüder und Schwestern zu rächen.
„Weil ich Dinge getan habe“, flüsterte Heinrich, „die Gott nicht mehr ruhig schlafen lassen.“
Seine Worte verursachten mir Übelkeit. Ich versuchte die Gedanken, die von den Lippen eines des Schlafes beraubten Gottes unaufhörlich auf mich einstürmten, zu verdrängen, bis ich mir endlich eingestand, dass ich sie zulassen musste. In jenem Augenblick verstand ich plötzlich, was Gott mir sagen wollte.
Ich fragte mich jede Nacht, Hochwürden, ob ich meinen Peiniger wohl wiedererkennen würde, wenn ich ihm jemals wieder gegenüber stehe. Ich erinnere jedes Detail, jedes Flackern der nackten Glühbirnen, den Geruch des Desinfektionsmittels, nur das Gesicht des Menschen, der mein Leben zerstört hatte, war in meinen Träumen stets verschwommen und verzerrt gewesen. Vielleicht hat aber auch meine kindliche Seele dem Grauen einfach kein Gesicht geben wollen.
„Keine Sorge, Heinrich, wir werden Gott seinen Schlaf zurückgeben.“
Ich wusste jetzt, was notwendig war.
„Liebe Kollegen, ich weiß, dass es sich vielleicht in Ihren Ohren seltsam anhören mag, aber ich möchte vorschlagen es auch in diesem Fall mit der EST zu versuchen.“
Der Chefarzt schaute mich befremdlich an. „Liebe Kollegin, ich weiß ja, dass Sie mit der Anwendung der Elektroschocktherapie bisher beachtliche Erfolge erzielt haben. Aber in diesem Fall wollten wir doch die posttraumatische Belastungsstörung mit Medikamenten behandeln. Ein Stromschlag ist doch genau dass, was der Patient am meisten fürchtet.“
Ich atmete tief durch, ehe ich erwiderte. „Meines Erachtens sind seine Ängsten und Vorstellungen zwanghafter Natur, weshalb mir eine Konfrontationstherapie mit Unterstützung von Medikamenten die Wirkungsvollste scheint. Wir konfrontieren ihn kontrolliert mit seiner Angst, so lernt er, den Stier bei den Hörnern zu packen.“
„Bisher“ ergänzte die Oberschwester, „hat keines der Medikamente auch nur im Geringsten angeschlagen.“
„Ab morgen, mein lieber Heinrich, werden wir eine neue Therapie beginnen. Ich will offen zu dir sein, bisher hatten wir nicht viel Erfolg, deshalb hat der Chefarzt vorgeschlagen außergewöhnliche Wege zu beschreiten. Du musst lernen, dass das, was du fürchtest nicht bedrohlich ist.“
„Ich verstehe nicht, was das bedeutet.“
„Das bedeutet, dass wir morgen mit einer Elektrotherapie beginnen werden.“
Es war, als ob etwas in Heinrichs Kopf „klick“ gemacht hätte. Seine Furcht spiegelte sich in seinen Augen wider. Ich dachte, er würde schreien und toben, und sich mit aller Macht wehren. Doch Heinrichs Kampf spielte sich nur in seinem Inneren ab. Seine Augen wurden glasig, aus seinem Mund kam nur ein Röcheln und es bildeten sich Spuckebläschen auf seinen Lippen. Er zuckte auf seinem Stuhl, als ob er bereits an eines der Geräte angeschlossen sei.
„Du willst doch wieder gesund werden Heinrich, oder? Heinrich, hörst du mir zu? Du willst doch deinen Seelenfrieden wieder finden!“
„Hilfe“
Ich konnte ihn kaum verstehen.
„Ja, ich bin mir auch sicher, dass dir das helfen wird, dann sind wir uns ja einig.“ Ich rief die Schwester, „bitte bringen Sie ihn hinaus. Morgen um diese Zeit können wir dann beginnen. Und waschen Sie ihn noch einmal, er hat sich eingenässt.“
Als ich in dieser Nacht aus meinem Alptraum aufwachte, wusste ich sofort, wo ich war. Eine wundervoll kribbelnde Elektrizität durchflute mich. Ich genoss jede Sekunde davon und lag wach, bis der Morgen dämmerte. Wisst Ihr Hochwürden, dass manche Nächte Flügel haben? Ganz anders als die Nächte, durch die wir uns Schritt für Schritt selbst kämpfen müssen, immer in der Angst in einen der zahlreichen Abgründe zu stürzen, die im Dunkeln auf uns lauern. Eine Nacht mit Flügeln gleitet ganz sanft vorbei und trägt uns mit sich, bis sie uns behutsam auf den ersten Sonnenstrahlen absetzt. Diese Nacht war meine erste Nacht mit Flügeln seit meinem 10. Lebensjahr.
Heinrichs glasige Augen schienen, durch seine fettigen Haarsträhnen hindurch an mir vorbei, einen Punkt auf der Wand zu fixieren. Er saß nahezu regungslos auf seiner Pritsche, bis eine träge summende Fliege seinen Blick kreuzte und er jäh zusammenzuckte.
„Komm Heinrich, gehen wir, wir wollen gleich beginnen.“
Heinrich wehrte sich nicht. Es ließ sich von mir wie eine Marionette führen. Er wirkte, als wäre er bereits nicht mehr Teil dieser Welt. Wie ein Geist, dachte ich und fragte mich, wo der Mann, der er einmal gewesen war, sich in diesem Augenblick wohl befand. Ihm lief ein Speichelfaden aus dem Mund und seine Augen starrten auf den Boden. Er setzte einen Schritt vor den anderen ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Als er mit nacktem Oberkörper auf der Liege lag, wirkte er äußerlich ruhig. Nur seine geweiteten Augen und seine zitternden Hände ließen erahnen, was in seinem Inneren vor sich ging. Ich kannte das Gefühl genau, das in ihm wütete und sein Nervensystem kollabieren ließ.
Nein, Hochwürden, ich bitte nicht um Vergebung für mich, denn ich handelte im Auftrag eines schlaflosen Gottes. Ich bitte auch nicht um Vergebung für Heinrich, denn manche Dinge können nicht vergeben werden. Ich bitte Euch einzig Hochwürden, um Vergebung für Gott, der alles geschehen ließ, was geschah.
Als ich die verschiedenen Dioden auf Heinrichs Haut klebte, wusste ich, dass ich mein ganzes Leben zielstrebig auf diesen Tag hingearbeitet hatte.
„Eine, um den Herzschlag zu kontrollieren, zum Schutz des Patienten“ sagte ich mit fester Stimme. Ich wusste, dass dies der Augenblick meiner Befreiung war.
„Zwei für die Aufzeichnung der Hirnströme zu wissenschaftlichen Zwecken.“ Ich wusste, dass ich in der kommenden Nacht ohne Alptraum schlafen würde.
„Und schließlich die letzten beiden für die Therapie selbst.“ Ich war mit Gott und dem Teufel in Einklang.
Heinrichs Puls raste und das EEG zeigte ein skurriles Bild wild schwingender Kurven.
„89290“ sagte ich und hielt ihm meinen Unterarm vor das Gesicht. „Sicher erinnerst du dich.“ Ich wartete noch einen Augenblick, so dass Heinrichs Gehirn den Anblick der Tätowierung zu deuten vermochte.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Texte der Lesung "Zweimal im Leben": Christian Diers - Reifen(n)prüfung auf der Überholspur
Der ockerfarbene Briefumschlag mit frankiertem Behördenabsender auf den Küchentisch verhieß schon nichts Gutes. Doch bevor mir mein preisgekröntes Kopfkino wieder neue Kurzfilme zum Thema „Liebesgrüße aus dem Einwohnermeldeamt“ präsentierte, schlitzte ich den Umschlag lieber auf, um folgenden Text lesen zu müssen:
„Sehr geehrter Herr Schulze, Ihnen wird vorgeworfen, am 11.11.11 und 11:11 Uhr in Köln, Düsseldorfer Straße 111 als Führer des PKW mit dem Kennzeichen HH – MS 1980 folgende Ordnungswidrigkeiten begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften (nach Toleranzabzug) um 35 km/h. Nachdem Sie die Beamten der Verkehrspolizei Köln auch nach wiederholter Aufforderung über Lichtsignal und Lautsprecher nicht dazu bewegen konnten, ihren PKW unverzüglich am Fahrbahnrand anzuhalten, musste mit Hilfe eines zweiten Streifenfahrzeugs die Verfolgung aufgenommen werden. (…)“
Und einen Absatz tiefer: „Bei der anschließenden Alkoholkontrolle wurde ein für die Fahrzeugführung unzulässiger Wert von 2,0 Promille festgestellt. Die mitgeführten Fahrzeugpapiere und der Führerschein wurden umgehend beschlagnahmt. Zur Wiedererlangung Ihrer Fahrerlaubnis nach § 48 Absatz VI. StVO der Bundesrepublik Deutschland werden Sie dazu aufgefordert, sich innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Zustellung dieses Schreibens bei einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) und einer Fahrschulung mit anschließender Fahreignungsprüfung anzumelden. Mit freundlichen Grüßen, Koslowski.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter vermutlich an die Verladeluke einer Autofähre erinnert hätte, stand ich für Minuten paralysiert vor dem Stück Papier und verfolgte immer wieder die surreale Buchstabenreihenfolge, um mich zu vergewissern, ob das Ganze nicht nur der Karnevalsscherz eines frustrierten Papierstapelkantenklopfers aus der rechtsrheinischen Verwaltungsvorhölle war?! Tatsächlich war ich vor ein paar Tagen in Köln von einer routinemäßigen Polizeikontrolle angehalten worden, aber an einen derartigen Sachverhalt konnte ich mich bis heute nicht erinnern. Obgleich ich nicht wusste, wie stark mein Alkoholpegel nach einigen Gläschen Kölsch hätte gewesen sein können, wenn man mich hätte pusten lassen?!
Drei Tage später – Nein, es war weder ein Traum, noch ein Irrtum, geschweige denn ein Karnevalsscherz. Die für Verkehrsdelikte zuständige Auskunft hatte das Schreiben nach Anfrage am Telefon in folgendem O-Ton bestätigt:
„Ja, sicher. Was denken Sie denn, was wir hier den ganzen Tag machen? Postkarten versenden, Liebesgedichte schreiben oder Glückskekse eintüten?! Da trommelt doch die Hähnchenkeule auf der Biotonne herum! Seitdem wir nicht mehr Behördenauskunft, sondern Info-Center heißen, werden Ihre Anfragen auch immer bekloppter!“
Nach dem abrupten Ende des Telefongesprächs erinnerte ich mich wieder an ein Zitat meines anonymen Online-Coachs von www.das-leben-ist-kein-ponyhof.de: „Egal was Ihnen widerfährt! Bleiben Sie in Interaktion mit den handelnden Akteuren stets kooperativ und versuchen Sie über einen konstruktiven Lösungsansatz das Bestmögliche aus Ihrer suboptimalen Situation herauszuholen!“
Eine Woche später – Das Leben war weder ein Ponyhof noch ein Pilgerpfad und deshalb hatte ich mich nicht für den „Gang nach Canossa“, sondern für die „Fahrt nach PKW-Zulassungsstelle“ in Hamburg entschieden, um dort die Termine der nächsten MPU zu erhalten. Beiläufig wurde mir mitgeteilt, dass die Behörde bereits einen Fahrlehrer gefunden hätte, der sich schnell bereiterklärt hatte, mich in meiner schwierigen Situation unterstützen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch an nichts Schlimmes und war neugierig, wer sich denn als freiwilliger Helfer so uneigennützig zur Verfügung gestellt hatte?! Derartig spontane Nächstenliebe in einer von Egoismus und Narzissmus geprägten Gesellschaft hatte ich persönlich – zumindest in diesem Leben – nicht mehr erwartet.
Als ich auf dem Behördenformular dann aber den Namen des Fahrlehrers las, konnte ich auf den ersten Blick nichts damit anfangen. Bis mir auf den zweiten Blick wieder bewusst wurde, dass ich diesen Namen nicht zum ersten Mal in meinem Leben gelesen hatte: Volker Rachow – Spitzname „Rowdy“ – war laut Eigenwerbung „der tollkühne Teufelskerl von Deutschlands lustigster Fahrschule“, der mich schon vor der ersten Fahrstunde mit dem Kennzeichen „ROW – DY – 6666“ irritiert und danach mit seiner „Transatlantischen Straßenverkehrskulturkampftheorie“ an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Demnach hatte der Amerikaner nur deshalb noch nie einen Formel-Eins-Weltmeister hervorgebracht, weil er wegen des kupplungsfreien Autofahrens mit Automatikgetriebe pausenlos am Pommeskauen, Burgerverdauen und Strohhalmsaugen war und keine Zeit mehr hatte, um sich auf das Autofahren zu konzentrieren. Während der Europäer spätestens ab der zweiten Fahrstunde wusste, in welchem Kurvenradius man ein Schlangenlinienüberholmanöver durchführte und bei welcher exakten Drehzahl man vom dritten in den vierten Gang schalten musste, um den optimalen Beschleunigungseffekt zu erzielen.
Zwar hatte ich auch ohne Schlangenlinientechnik und Beschleunigungseffekt irgendwann einmal Autofahren gelernt, doch selbst 15 Jahre nach meiner letzten Fahrstunde wurden beim Echo von Rowdys Namen Erinnerungen an eine Zeit lebendig, die meine damaligen Schulfreunde am liebsten unter folgender BILD Schlagzeile inklusive Titelseiten-Dreizeiler veröffentlicht hätten: „Reife(n)prüfung auf der Überholspur – Nach 86 Fahrstunden und zahlreichen Vorfahrt-Irrtümern, Hupkonzerten, Stoßstangenkratzern, Beinahe-Unfällen, Wutausbrüchen und angedrohten Suizidversuchen hatte nun auch Matthias Schulze erfolgreich die Fahrprüfung bestanden!“
Zwei Wochen später – Fünfhundert Meter lagen noch zwischen ihm und mir. Fünfhundert Meter bis ich „Rowdys Fahrschule“ wieder betreten und aus Volker wieder Rowdy werden würde. Wegstrecke genug, um das zweite Aufeinandertreffen nach 15 Jahren schon mal vorab in Szene setzen zu können. Weitere 90 Minuten Fahrschulung auf drei Quadratmetern Fahrgastraum – die man auch als Faradayschen Käfig bezeichnete, weil exogene Prozesse nicht eindringen und endogene Prozesse nicht ausbrechen konnten – würden folgen, bis ich den ersten meiner vier geplanten Urlaubstage bei einem Feierabendbierchen getrost ad acta legen konnte.
Doch dazwischen lagen mehrere große, wenn nicht gar riesige Fragezeichen: Wie würde Rowdy heute aussehen und welche Art von „guter Laune“ würde er haben? Ich konnte mich da an drei verschiedene Aggregatszustände seiner guten Laune erinnern. Erstens: Die ehrliche und freundliche gute Laune, bei der man kurzfristig nichts Bösartiges zu befürchten hatte, die aber so gut wie nie vorkam. Zweitens: Die künstlich inszenierte gute Laune, die sich mittelfristig – vor allem bei kleineren Fahrflüchtigkeitsfehlern – in ein verdammt unfreundliches Kontrastprogramm verwandeln konnte. Und drittens: Die ironisch-zynische gute Laune, bei der man auch langfristig nie ganz sicher war, ob er überhaupt gute Laune hatte oder mit Sprüchen wie „Wenn Du noch einmal so eine Hausfrauenkurve fährst, dann häng ich Deinen Sack an der nächsten Ampel auf!“ seine schlechte Laune überspielen wollte.
Fünfhundert Meter später – Pausbacken, Grauhaarkranz und Kugelplauze wären drei Merkmale gewesen, die ich in einem TV-Quiz zum Thema „Wie sieht der Rowdy von heute aus?“ aus einem Antwortkatalog mit vier Vorgaben hätte nennen können. Außerdem wäre ich vielleicht auf den ausgestreckten Unterarm gekommen, den mir Rowdy entgegenstreckte und der mich an „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo erinnerte, obwohl Rowdy Adams körperliche Ästhetik nur schwer nachahmen konnte. Trotz der fehlenden Ästhetik zogen sich Rowdys Mundwinkel bösartig in die Breite, um seine frisch geputzten Zähne zu präsentieren und mir gleichzeitig sagen zu können: „Moin! Na, das passt ja wie die Faust aufs Auge. Dann können wir gleich mal loslegen mit der Fahrstunde, was?!“ Obwohl er womöglich viel lieber „Na, Du alte Kackwurst! Siehst ja ganz schön scheiße aus! Mein lieber Herr Toilettenwart, nun bist Du schon so alt geworden und kannst immer noch nicht richtig Auto fahren. Mal gucken, ob ich Dir den ganzen Dünnschiss heute aus dem Gehirn schreien kann?!“ gesagt hätte.
Als ich dann meinen Arm mit hängender Hand ausfuhr, um an seinen Arm mit angewinkelter Hand andocken zu können, bemerkte ich, dass mein schlaffes Händchen durch seinen festen Händedruck sofort zum Zurückdrücken genötigt worden war, damit er nicht das Gefühl bekam, abgestorbenes Muskelgewebe anfassen zu müssen.
Nach 10 Minuten – Rowdy alias Volker bzw. Volker alias Rowdy war offenbar immer noch der alte Volkswagen-Fan, doch statt des damaligen Heckscheibenaufklebers „Rowdys rasante Rumpelkarre!“ war nun der Slogan „VW – Volkers Wagen!“ zu lesen. Das war dann aber auch schon die einzige Besonderheit, die Volkers Fahrschulauto von anderen VW Fahrschulwagen unterschied, wobei er damals einen Golf 4 hatte fahren lassen und mittlerweile zum Golf 8 gewechselt war. Ohnehin hatte ich das Gefühl, dass 95% aller Fahrschulen in Deutschland einen Rabattvertrag mit Volkswagen abgeschlossen hatten, um für die nächste Fahrschulsaison wieder das neueste Golf-Modell der aktuellen Golf-Generation zu erhalten. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach 20 Minuten – Wir waren schon eine Weile auf der Hauptstraße unterwegs, die frontal gen Osten ging und in wellenförmigen Bewegungen den Horizont touchierte. Dabei ging es immer geradeaus, da die Straße auf den nächsten Kilometern so zugeschnitten war, dass es links und rechts von Ihr kein Entkommen gab. Entweder durfte man nicht abbiegen, weil es keine Abbiegespur gab oder man konnte nicht abbiegen, weil es einfach keine Seitenstraße gab, auf die man hätte abbiegen können. Rowdys spezielle Aura hatte mittlerweile den ganzen Fahrgastraum eingenommen und ich fühlte mich wie im zuvor beschriebenen Faradayschen Käfig, aus dem es auch für mich – mangels Schleudersitz mit TÜV-Zulassung – kein Entkommen mehr gab. Ein nervöses Kribbeln erfasste meine Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten. Von vorne glotzten mich die großen Augen von Tachometer, Drehzahlmesser und Tankanzeige an, während Rowdy von der Seite irritierende Grummelgeräusche von sich gab und ich aus lauter Nervosität immer wieder den knüppeldicken Joystick bediente, der in so manch abgefahrenem Erotikfilm sicherlich eine Hauptrolle hätte spielen können. Ganz nebenbei nickten unter der Windschutzscheibe zwei Wackeldackel, als ob sie mir mit ihren Murmelaugknöpfen signalisieren wollten, dass ich bis jetzt eigentlich alles richtig gemacht hatte.
Nach 30 Minuten – „So, da ich jetzt ja gesehen hab, dass Du eigentlich ganz gut Autofahren kannst, wollen wir nun doch mal testen, was noch so in Dir steckt, nicht wahr?!“ meinte Rowdy mit künstlich inszeniertem Grinsen, während die Ampel vor uns auf Rot wechselte und ich das Auto durch stakkatoartige Bremsbewegungen zum Stehen brachte. Ich nickte im gleichen Takt wie die Wackeldackel, bevor Rowdys Grinsen allmählich breiter wurde und er sein Fahrschulkonzept der nächsten zwei Stunden erläuterte: „Erstmal wollen wir auf der B-431 zügig von Schenefeld nach Wedel kommen, ohne dabei die Navigation zu benutzen. Anschließend fahren wir einfach mal querfeldein durch alle Wohn- und Gewerbegebiete, dann kannst Du Dein Können im Kreisverkehr unter Beweis stellen und wenn zum Schluss etwas Zeit übrig bleibt, habe ich noch eine ganz besondere Aufgabe für Dich!“
Bevor die Ampel wieder auf Grün wechselte, erkundete ich mit dem rechten Fuß noch einmal die Reichweite des Gaspedals und tastete mit dem linken Fuß die Kupplung nach deren Schleifpunkt ab. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Die Ampel sprang von Rot-Gelb auf Grün, ich löste mich von der Kupplung, drückte das Gaspedal durch und wir schossen die vierspurige Bundesstraße längs, immer dem westlichen Horizont und der nun untergehenden Sonne entgegen. Nun konnte ich Rowdy endlich zeigen, was alles in mir steckte! Zunächst wirkte er von meinen Fahrkünsten total begeistert und schaute alle 30 Sekunden auf seine Armbanduhr. Das war für mich das Zeichen die Geschwindigkeit zu erhöhen und auf die linke Überholspur zu wechseln, um keine Zeit an der nächsten roten Ampel zu vergeuden, sondern stattdessen auf der grünen Welle der von Formel-Eins-Rennfahrern getesteten Ampelschaltung in den Sonnenuntergang zu surfen.
Nach 40 Minuten – Unsere Geschwindigkeit erhöhte sich von 50 auf 60, 70 und dann 80 km/h, nachdem wir bereits alle Ampelgrünphasen mit Bravour gemeistert hatten und noch bevor wir den „Canyon“ passieren würden. Der Canyon war der einzige Schnellstraßenabschnitt im Westen von Hamburg und erstreckte sich wie eine Badewanne unterhalb des historischen Ortskerns. Was ursprünglich als Verkehrsberuhigungsmaßnahme für Anwohner und Naturschützer angelegt worden war, diente nun als Beschleunigungsstreifen für Berufspendler, die vor dem nächsten Business-Meeting noch mal eben schnell die Motorenleistung ihrer Oberklasselimousine testen wollten, um mit gesteigertem Testosteronspiegel ein besseres Verhandlungsergebnis erzielen zu können. Wer hier mit voller Geschwindigkeit durchrauschte und dabei den Schwung seiner grünen Welle nutzte, der konnte mit tödlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er auch die Ampelgrünphase am anderen Ende der Wanne rechtzeitig passieren würde. Vorausgesetzt er beschleunigte auf der Strecke noch einmal auf 140 bis 160 km/h, um dann mit Hilfe der einsetzenden Fliehkräfte über die Ampelkreuzung zu schweben.
Nach 50 Minuten – Es war wie ein Rausch! Mit beschleunigter Geschwindigkeit, stieg auch mein Adrenalinpegel. Ich fühlte mich schon lange nicht mehr so frei, wie in jenem Augenblick als wir mit fast 160 km/h über den Rand des Canyons und die Ampelkreuzung flogen und dabei für Millisekunden die Schwerkraft überwanden, um ein belebendes Kribbeln in der Magen-Darm-Region zu verspüren, welches man auch vom „Point of No Return“ am Steilhang einer Achterbahnfahrt kannte. Auch Rowdy schien äußerst begeistert von der „Freiheit über dem Asphalt“ zu sein, als wir kurz nach dem Abheben wieder den Straßenbelag berührten, um mit vollem Schwung die nächste Aufgabe bewältigen zu können. „Jaaaaa! Super, super! Jetzt können wir aber mal ein wenig vom Gas runtergehen, was?! Denn am Hamburger Ortsausgang steht öfter mal eine Polizeikontrolle!“ meinte Rowdy weit weniger begeistert als ich zuvor gedacht hatte. Doch, dem Formel-Eins-Gott sei Dank, gab es weder am Ausgang von Hamburg, noch am Eingang von Wedel eine Polizeikontrolle, so dass wir mit beschleunigter Geschwindigkeit durchheizen konnten.
Nach einer Stunde – „Erst rechts, dann links, dann wieder rechts und noch mal links!“ lautete Rowdys Anweisung, nachdem ich ihn gefragt hatte, wohin es im Wohn- und Gewerbebiet von Wedel gehen sollte. Ich überlegte nicht lange, ob er mich auf eine Rechts-Links-Schwäche untersuchen wollte, sondern machte dort weiter, wo ich nach dem Canyon aufgehört hatte. Links und rechts ging es genauso flott um die Ecke wie rechts und dann links und deshalb wechselte ich nun immer wieder die Fahrtrichtung, um das intuitive Gefühl für den Golf 8 und seine fahrtechnischen Möglichkeiten zu bekommen. Und wieder rechts und noch mal links und dann wieder rechts, links, rechts, links, rechts. (…) Der Spaß drohte erst aufzuhören als wir nach der schlangenlinienartigen Fortbewegung plötzlich auf einen Kreisverkehr zufuhren. „Um den Kreisverkehr herum!“ kam etwas einsilbig von Rowdys Seite und mittlerweile erkannte ich die Gegend, in der wir nach zahlreichen Richtungswechseln gelandet waren: Es war das Streckenareal, in dem ich vor 15 Jahren meine erste Fahrprüfung ablegen musste. Fast wäre ich damals an einem Stopp-Schild kurz vor dem Kreisverkehr durch die Prüfung gefallen. Doch weil Rowdy den damaligen Fahrprüfer in eine kontroverse Diskussion über die Vor- und Nachteile ostdeutscher Ampelmännchen im westdeutschen Straßenverkehr verwickelt hatte, hatte der wiederum nicht gemerkt, dass ich weit vor der Drei-Sekunden-Warteregel über die Stoppschildmarkierung gefahren war. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach über einer Stunde – Irgendwie waren wir immer noch im Kreisverkehr und mir wurde langsam schwindelig, weil ich schon länger nichts mehr von Rowdy gehört hatte und nicht genau wusste, ob ich nun die nächste, die übernächste oder erst die überübernächste Straße rechts abbiegen sollte. Was mir zu Beginn der Kreisverkehrsodyssee noch Spaß gemacht hatte – nämlich das ununterbrochene Herumkreisen um die eigene Verkehrsachse bis die ersten Autofahrer mit Lichthupe, Lauthupe und diversen Mittelfingersignalen verdeutlichen wollten, dass man mal irgendwo abbiegen sollte – war nun etwas langweilig geworden. Und da sich Rowdy nun auch nicht mehr wirklich engagierte, ergriff ich selbst die Initiative und fuhr die überüberübernächste Straße rechts ab, um schließlich festzustellen, dass wir genau dort gelandet waren, von wo wir ursprünglich hergekommen waren.
„Einfach zurück nach Hause!“ kam nach längerer Pause wieder ein erstes Lebenszeichen von Rowdy. Ohne zu knurren richtete ich mich nach seiner Anweisung und fuhr zurück zur Fahrschule. „Immer geradeaus!“ hieß es in unregelmäßigen Abständen vom Beifahrersitz, wobei ich nicht sehen konnte, ob Rowdy noch wach war oder im Halbschlaf seine imaginäre Landkarte verfolgte. Als wir nach längerer Fahrt schließlich den halbbeschrankten Bahnübergang im Wedeler Autal erreichten, vor dem sich seit geraumer Zeit eine unübersichtlich lange Wagenkolonne angesammelt hatte, kam vom herumdösenden Rowdy wieder nur die Anweisung: „Immer geradeaus!“
Ich fragte ihn noch, ob er das jetzt ernst meinen würde und ich die Gegenfahrbahn als Überholspur nutzen sollte, um mich an den Anfang der Wagenkolonne zu drängeln. Da hieß es von Rowdys Seite nur „Ist mir scheißegal! Mir ist schlecht und ich will nach Hause! Also fahr gefälligst geradeaus!“ Gesagt, getan. Obwohl ich nicht genau wusste, weshalb Rowdy urplötzlich so schlecht drauf war – denn eigentlich hatten die letzten eineinhalb Fahrstunden doch irgendwie Spaß gemacht – befolgte ich wieder seine Anweisung und fuhr stur geradeaus.
Wenn dem Rowdy nun wirklich so schlecht war, wie er meinte, dann musste ich jetzt wohl dafür sorgen, dass er demnächst auf irgendeinem Herren-WC ankommen würde, damit er seinen emporkommenden Nachmittagssnack nicht ungewollt auf dem Beifahrersitz verteilte. Ich spürte schon wieder ein nervöses Kribbeln in den Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten.
„Jetzt oder nie!“ kam mir in den Sinn als ich das Gaspedal durchdrückte, mit zischenden Lauten an der wartenden Wagenkolonne vorbeirauschte und zugleich den nahenden S-Bahn-Zug sah, der wohl noch ein paar hundert Meter vom Bahnübergang entfernt war, auf dessen schmale Öffnung zwischen den Halbschranken ich nun direkt zusteuerte. Nun war alles möglich! Der Adrenalinkick bestätigte meine Aktion. Nur noch wenige Sekunden lagen zwischen uns, dem Bahnübergang und der anfahrenden S-Bahn als ich auf einmal zu realisieren begann, worum es hier eigentlich genau ging und erst dann anfing zu schreien: „Scheißeeeeee!“ kam es eruptionsartig aus mir heraus und „Scheißeeeeee!“ schallte das Echo kurz danach von der Beifahrerseite (…)
Ich wusste nur noch, dass mir irgendwie schwarz vor Augen geworden war, nachdem ich einen dumpfen Schlag auf dem Hinterkopf gespürt hatte. Danach war alles wie ausgelöscht und meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ich am frühen Morgen des nächsten Tages auf dem Sofa der Fahrschule aufwachte. Die Fahrschulsekretärin hatte unbestimmte Zeit auf mich aufgepasst und mich anschließend mit der Bitte nach Hause geschickt, doch erst in einer Woche wiederzukommen.
Eine Woche später – „Tja, das war wohl doch nicht so ganz die Ausbildung, die wir uns beide vorgestellt hatten, oder?!“ meinte Sören Hinrichsen – Spitzname „Softie“ – der einfühlsamere Fahrlehrerkollege von Rowdy, den ich auch noch von früher kannte und der nach Rowdys krankheitsbedingtem Ausfall meine letzte Fahrstunde und die Fahrprüfung betreuen sollte. Ich nickte wieder im gleichen Takt wie die Wackeldackel, während Softie auf einmal sein Smartphone aus der Handtasche holte. „Dank unserer tollen neuen VW Multimediatechnik können wir im Golf 8 nun alle Fahrstunden aufnehmen, um dass Ganze hinterher mit den Fahrschülern zu besprechen!“ erklärte mir Softie und startete dann einen Film auf seinem Smartphone, der von versteckten Kameraaugen hinter dem Tachometer, Drehzahlmesser und der Tankanzeige des VW Golfs aufgenommen worden war und aus verschiedenen Blickwinkeln die ungeschönte Realität des alltäglichen Fahrunterrichts dokumentieren sollte, wobei der O-Ton von zwei unter den Wackeldackeln installierten Mikrofonen geliefert wurde.
Und als ob das nicht alles schon genug der heimlichen Überwachung gewesen wäre, hatte der phallusartige Joystick aus der Mittelkonsole zusätzliche Daten von der Pulsfrequenz meiner Blutgefäße und der Hautfeuchtigkeit meiner Schweißfinger gespeichert, die nun als bunte Verlaufskurven und Tortendiagramme unterhalb der Videoanzeige zu sehen waren. „So, hier siehst Du nun den Rowdy auf der rechten oder von Dir aus gesehen auf der linken Seite und Dich auf der linken oder rechten … Ja, Du weißt schon, was ich meine, oder?!“ Ich nickte erneut, ohne dabei den Wackeldackel imitieren zu wollen, während mir Softie im melodisch betonten Erklärbärmodus eines Grundschulpädagogen das Video zu erläutern versuchte: „Ja, das siehst Du, wie der Rowdy etwas irritiert ist von Deinem Fahrstil!“ meinte Softie während ich guckte. „Und da drückst Du wohl ordentlich auf die Tube und das gefällt dem Rowdy wohl gar nicht, guck mal!“ meinte Softie mit gerunzelter Stirn und kreisrundem Schmollmund, während ich guckte und er gleichzeitig weiterredete: „Und hier wird dem Rowdy im Kreisverkehr wohl ordentlich schlecht und dann fängt er fast an zu kotzen!“ meinte Softie mit hochgezogenen Stirnwellen und hervorstechender Unterkieferlippe, während ich immer noch guckte. Langsam mussten wir zur entscheidenden Stelle meines Blackouts kommen. „Guck mal, und da drehst Du dann völlig durch und willst plötzlich Selbstmord machen!“
„Nein, das stimmt nicht!“ wehrte ich mich vehement, ohne weiter zu gucken. „Ich wollte den Rowdy nur rechtzeitig nach Hause fahren, bevor er auf den Sitz kotzt!“ Irgendwas wollte ich noch ergänzen, sah dann aber im Film wie Rowdy und ich „Scheiße!“ brüllten und er mir Sekunden später den Erste-Hilfe-Kasten über die Rübe haute, bevor ihm offenbar einfiel, dass er ja genauso gut auf seine Beifahrerbremse hätte treten können.
Für einen Augenblick lang herrschte Stille, denn das Video war zu Ende. Dann fuhr Softie mit seiner Erklärung fort: „Ja, das Ganze hat den Rowdy doch zu sehr an den Fall Koslowski erinnert!“ Erst im zweiten Anlauf meines Gedankengangs meinte ich mich auch an etwas zu erinnern: „Wie bitte? An wen hat ihn das Ganze erinnert?!“
Softie guckte skeptisch, formte wieder den Schmollmund und erklärte: „Na, an den Rüdiger Koslowski – genannt Rudi K. – der mal vor 5 Jahren mit über 40 seinen Führerschein hier gemacht hat und ähnlich komisch drauf war wie Du, obwohl Du ja noch gar keine 40 bist, oder?! Der Rudi war auf jeden Fall über 25 Jahre im Hamburger Polizei-Innendienst beschäftigt und hatte plötzlich keinen Bock mehr auf Aktenzeichen XY eingedöst. Deshalb hat er erst bei uns nach über 90 Fahrstunden den Führerschein gemacht und ist dann mit Sondergenehmigung von Hamburg nach NRW, in den Kölner Außendienst gewechselt.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter … naja, sie wissen schon, saß ich da und lauschte den sich puzzleartig ergänzenden Worten von Softie. „Ja, das war echt ein komischer Typ! Der hielt sich immer für den größten Autofahrer aller Zeiten und bekam ganz schnell Axelschweiß und tollwütigen Mundwinkelschaum, wenn man ihm sagte, dass er etwas nicht konnte oder nicht machen durfte. Deshalb hat mich Rowdy mal um Rat gebeten! Und da meinte ich halt zu ihm, dass ich da neulich von meinem Coach, von diesem komischen Portal … Wie heißt das noch mal?!“
„Das Leben ist kein Ponyhof?!“ ergänzte ich.
„Ja, genau! Dort hatte mir so’n Coach mal auf die Frage geantwortet, wie man sich denn im Servicebereich bei Kunden verhalten sollte, die immer alles besser wissen und keine Grenzen kennen und so?! Und daraufhin meinte der Coach, dass man dem Kunden zunächst immer Recht geben und ihn wie einen König behandeln sollte. Erst wenn der Kundenkönig auch nicht mehr weiter weiß oder mal so richtig auf die Schnauze gefallen ist, dann sollte man ihm fürsorglich unter die Arme greifen. Ja, und das hat sich der Rowdy halt zu Herzen genommen und danach die Fahrschule umgekrempelt. Heißt ja nun auch nicht mehr Rowdys, sondern Volkers Fahrschule!“
Jetzt wurde mir schon Einiges und kurz danach noch Einiges mehr klar. Fehlte eigentlich nur noch die Antwort auf eine allerletzte Frage: „Und was ist aus diesem Koslowski geworden?“
„Den Rudi K. meinst Du?! Ja, von dem hab ich neulich mal wieder was gehört! Der war jahrelang Verkehrspolizist in Köln bis er sich so einen merkwürdigen Karnevalsscherz erlaubt hatte. Ich weiß nicht, worum es genau ging, aber seitdem arbeitet er wohl wieder im Innendienst!“
Lektorat: Thomas Piesbergen
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„Sehr geehrter Herr Schulze, Ihnen wird vorgeworfen, am 11.11.11 und 11:11 Uhr in Köln, Düsseldorfer Straße 111 als Führer des PKW mit dem Kennzeichen HH – MS 1980 folgende Ordnungswidrigkeiten begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften (nach Toleranzabzug) um 35 km/h. Nachdem Sie die Beamten der Verkehrspolizei Köln auch nach wiederholter Aufforderung über Lichtsignal und Lautsprecher nicht dazu bewegen konnten, ihren PKW unverzüglich am Fahrbahnrand anzuhalten, musste mit Hilfe eines zweiten Streifenfahrzeugs die Verfolgung aufgenommen werden. (…)“
Und einen Absatz tiefer: „Bei der anschließenden Alkoholkontrolle wurde ein für die Fahrzeugführung unzulässiger Wert von 2,0 Promille festgestellt. Die mitgeführten Fahrzeugpapiere und der Führerschein wurden umgehend beschlagnahmt. Zur Wiedererlangung Ihrer Fahrerlaubnis nach § 48 Absatz VI. StVO der Bundesrepublik Deutschland werden Sie dazu aufgefordert, sich innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Zustellung dieses Schreibens bei einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) und einer Fahrschulung mit anschließender Fahreignungsprüfung anzumelden. Mit freundlichen Grüßen, Koslowski.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter vermutlich an die Verladeluke einer Autofähre erinnert hätte, stand ich für Minuten paralysiert vor dem Stück Papier und verfolgte immer wieder die surreale Buchstabenreihenfolge, um mich zu vergewissern, ob das Ganze nicht nur der Karnevalsscherz eines frustrierten Papierstapelkantenklopfers aus der rechtsrheinischen Verwaltungsvorhölle war?! Tatsächlich war ich vor ein paar Tagen in Köln von einer routinemäßigen Polizeikontrolle angehalten worden, aber an einen derartigen Sachverhalt konnte ich mich bis heute nicht erinnern. Obgleich ich nicht wusste, wie stark mein Alkoholpegel nach einigen Gläschen Kölsch hätte gewesen sein können, wenn man mich hätte pusten lassen?!
Drei Tage später – Nein, es war weder ein Traum, noch ein Irrtum, geschweige denn ein Karnevalsscherz. Die für Verkehrsdelikte zuständige Auskunft hatte das Schreiben nach Anfrage am Telefon in folgendem O-Ton bestätigt:
„Ja, sicher. Was denken Sie denn, was wir hier den ganzen Tag machen? Postkarten versenden, Liebesgedichte schreiben oder Glückskekse eintüten?! Da trommelt doch die Hähnchenkeule auf der Biotonne herum! Seitdem wir nicht mehr Behördenauskunft, sondern Info-Center heißen, werden Ihre Anfragen auch immer bekloppter!“
Nach dem abrupten Ende des Telefongesprächs erinnerte ich mich wieder an ein Zitat meines anonymen Online-Coachs von www.das-leben-ist-kein-ponyhof.de: „Egal was Ihnen widerfährt! Bleiben Sie in Interaktion mit den handelnden Akteuren stets kooperativ und versuchen Sie über einen konstruktiven Lösungsansatz das Bestmögliche aus Ihrer suboptimalen Situation herauszuholen!“
Eine Woche später – Das Leben war weder ein Ponyhof noch ein Pilgerpfad und deshalb hatte ich mich nicht für den „Gang nach Canossa“, sondern für die „Fahrt nach PKW-Zulassungsstelle“ in Hamburg entschieden, um dort die Termine der nächsten MPU zu erhalten. Beiläufig wurde mir mitgeteilt, dass die Behörde bereits einen Fahrlehrer gefunden hätte, der sich schnell bereiterklärt hatte, mich in meiner schwierigen Situation unterstützen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch an nichts Schlimmes und war neugierig, wer sich denn als freiwilliger Helfer so uneigennützig zur Verfügung gestellt hatte?! Derartig spontane Nächstenliebe in einer von Egoismus und Narzissmus geprägten Gesellschaft hatte ich persönlich – zumindest in diesem Leben – nicht mehr erwartet.
Als ich auf dem Behördenformular dann aber den Namen des Fahrlehrers las, konnte ich auf den ersten Blick nichts damit anfangen. Bis mir auf den zweiten Blick wieder bewusst wurde, dass ich diesen Namen nicht zum ersten Mal in meinem Leben gelesen hatte: Volker Rachow – Spitzname „Rowdy“ – war laut Eigenwerbung „der tollkühne Teufelskerl von Deutschlands lustigster Fahrschule“, der mich schon vor der ersten Fahrstunde mit dem Kennzeichen „ROW – DY – 6666“ irritiert und danach mit seiner „Transatlantischen Straßenverkehrskulturkampftheorie“ an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Demnach hatte der Amerikaner nur deshalb noch nie einen Formel-Eins-Weltmeister hervorgebracht, weil er wegen des kupplungsfreien Autofahrens mit Automatikgetriebe pausenlos am Pommeskauen, Burgerverdauen und Strohhalmsaugen war und keine Zeit mehr hatte, um sich auf das Autofahren zu konzentrieren. Während der Europäer spätestens ab der zweiten Fahrstunde wusste, in welchem Kurvenradius man ein Schlangenlinienüberholmanöver durchführte und bei welcher exakten Drehzahl man vom dritten in den vierten Gang schalten musste, um den optimalen Beschleunigungseffekt zu erzielen.
Zwar hatte ich auch ohne Schlangenlinientechnik und Beschleunigungseffekt irgendwann einmal Autofahren gelernt, doch selbst 15 Jahre nach meiner letzten Fahrstunde wurden beim Echo von Rowdys Namen Erinnerungen an eine Zeit lebendig, die meine damaligen Schulfreunde am liebsten unter folgender BILD Schlagzeile inklusive Titelseiten-Dreizeiler veröffentlicht hätten: „Reife(n)prüfung auf der Überholspur – Nach 86 Fahrstunden und zahlreichen Vorfahrt-Irrtümern, Hupkonzerten, Stoßstangenkratzern, Beinahe-Unfällen, Wutausbrüchen und angedrohten Suizidversuchen hatte nun auch Matthias Schulze erfolgreich die Fahrprüfung bestanden!“
Zwei Wochen später – Fünfhundert Meter lagen noch zwischen ihm und mir. Fünfhundert Meter bis ich „Rowdys Fahrschule“ wieder betreten und aus Volker wieder Rowdy werden würde. Wegstrecke genug, um das zweite Aufeinandertreffen nach 15 Jahren schon mal vorab in Szene setzen zu können. Weitere 90 Minuten Fahrschulung auf drei Quadratmetern Fahrgastraum – die man auch als Faradayschen Käfig bezeichnete, weil exogene Prozesse nicht eindringen und endogene Prozesse nicht ausbrechen konnten – würden folgen, bis ich den ersten meiner vier geplanten Urlaubstage bei einem Feierabendbierchen getrost ad acta legen konnte.
Doch dazwischen lagen mehrere große, wenn nicht gar riesige Fragezeichen: Wie würde Rowdy heute aussehen und welche Art von „guter Laune“ würde er haben? Ich konnte mich da an drei verschiedene Aggregatszustände seiner guten Laune erinnern. Erstens: Die ehrliche und freundliche gute Laune, bei der man kurzfristig nichts Bösartiges zu befürchten hatte, die aber so gut wie nie vorkam. Zweitens: Die künstlich inszenierte gute Laune, die sich mittelfristig – vor allem bei kleineren Fahrflüchtigkeitsfehlern – in ein verdammt unfreundliches Kontrastprogramm verwandeln konnte. Und drittens: Die ironisch-zynische gute Laune, bei der man auch langfristig nie ganz sicher war, ob er überhaupt gute Laune hatte oder mit Sprüchen wie „Wenn Du noch einmal so eine Hausfrauenkurve fährst, dann häng ich Deinen Sack an der nächsten Ampel auf!“ seine schlechte Laune überspielen wollte.
Fünfhundert Meter später – Pausbacken, Grauhaarkranz und Kugelplauze wären drei Merkmale gewesen, die ich in einem TV-Quiz zum Thema „Wie sieht der Rowdy von heute aus?“ aus einem Antwortkatalog mit vier Vorgaben hätte nennen können. Außerdem wäre ich vielleicht auf den ausgestreckten Unterarm gekommen, den mir Rowdy entgegenstreckte und der mich an „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo erinnerte, obwohl Rowdy Adams körperliche Ästhetik nur schwer nachahmen konnte. Trotz der fehlenden Ästhetik zogen sich Rowdys Mundwinkel bösartig in die Breite, um seine frisch geputzten Zähne zu präsentieren und mir gleichzeitig sagen zu können: „Moin! Na, das passt ja wie die Faust aufs Auge. Dann können wir gleich mal loslegen mit der Fahrstunde, was?!“ Obwohl er womöglich viel lieber „Na, Du alte Kackwurst! Siehst ja ganz schön scheiße aus! Mein lieber Herr Toilettenwart, nun bist Du schon so alt geworden und kannst immer noch nicht richtig Auto fahren. Mal gucken, ob ich Dir den ganzen Dünnschiss heute aus dem Gehirn schreien kann?!“ gesagt hätte.
Als ich dann meinen Arm mit hängender Hand ausfuhr, um an seinen Arm mit angewinkelter Hand andocken zu können, bemerkte ich, dass mein schlaffes Händchen durch seinen festen Händedruck sofort zum Zurückdrücken genötigt worden war, damit er nicht das Gefühl bekam, abgestorbenes Muskelgewebe anfassen zu müssen.
Nach 10 Minuten – Rowdy alias Volker bzw. Volker alias Rowdy war offenbar immer noch der alte Volkswagen-Fan, doch statt des damaligen Heckscheibenaufklebers „Rowdys rasante Rumpelkarre!“ war nun der Slogan „VW – Volkers Wagen!“ zu lesen. Das war dann aber auch schon die einzige Besonderheit, die Volkers Fahrschulauto von anderen VW Fahrschulwagen unterschied, wobei er damals einen Golf 4 hatte fahren lassen und mittlerweile zum Golf 8 gewechselt war. Ohnehin hatte ich das Gefühl, dass 95% aller Fahrschulen in Deutschland einen Rabattvertrag mit Volkswagen abgeschlossen hatten, um für die nächste Fahrschulsaison wieder das neueste Golf-Modell der aktuellen Golf-Generation zu erhalten. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach 20 Minuten – Wir waren schon eine Weile auf der Hauptstraße unterwegs, die frontal gen Osten ging und in wellenförmigen Bewegungen den Horizont touchierte. Dabei ging es immer geradeaus, da die Straße auf den nächsten Kilometern so zugeschnitten war, dass es links und rechts von Ihr kein Entkommen gab. Entweder durfte man nicht abbiegen, weil es keine Abbiegespur gab oder man konnte nicht abbiegen, weil es einfach keine Seitenstraße gab, auf die man hätte abbiegen können. Rowdys spezielle Aura hatte mittlerweile den ganzen Fahrgastraum eingenommen und ich fühlte mich wie im zuvor beschriebenen Faradayschen Käfig, aus dem es auch für mich – mangels Schleudersitz mit TÜV-Zulassung – kein Entkommen mehr gab. Ein nervöses Kribbeln erfasste meine Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten. Von vorne glotzten mich die großen Augen von Tachometer, Drehzahlmesser und Tankanzeige an, während Rowdy von der Seite irritierende Grummelgeräusche von sich gab und ich aus lauter Nervosität immer wieder den knüppeldicken Joystick bediente, der in so manch abgefahrenem Erotikfilm sicherlich eine Hauptrolle hätte spielen können. Ganz nebenbei nickten unter der Windschutzscheibe zwei Wackeldackel, als ob sie mir mit ihren Murmelaugknöpfen signalisieren wollten, dass ich bis jetzt eigentlich alles richtig gemacht hatte.
Nach 30 Minuten – „So, da ich jetzt ja gesehen hab, dass Du eigentlich ganz gut Autofahren kannst, wollen wir nun doch mal testen, was noch so in Dir steckt, nicht wahr?!“ meinte Rowdy mit künstlich inszeniertem Grinsen, während die Ampel vor uns auf Rot wechselte und ich das Auto durch stakkatoartige Bremsbewegungen zum Stehen brachte. Ich nickte im gleichen Takt wie die Wackeldackel, bevor Rowdys Grinsen allmählich breiter wurde und er sein Fahrschulkonzept der nächsten zwei Stunden erläuterte: „Erstmal wollen wir auf der B-431 zügig von Schenefeld nach Wedel kommen, ohne dabei die Navigation zu benutzen. Anschließend fahren wir einfach mal querfeldein durch alle Wohn- und Gewerbegebiete, dann kannst Du Dein Können im Kreisverkehr unter Beweis stellen und wenn zum Schluss etwas Zeit übrig bleibt, habe ich noch eine ganz besondere Aufgabe für Dich!“
Bevor die Ampel wieder auf Grün wechselte, erkundete ich mit dem rechten Fuß noch einmal die Reichweite des Gaspedals und tastete mit dem linken Fuß die Kupplung nach deren Schleifpunkt ab. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Die Ampel sprang von Rot-Gelb auf Grün, ich löste mich von der Kupplung, drückte das Gaspedal durch und wir schossen die vierspurige Bundesstraße längs, immer dem westlichen Horizont und der nun untergehenden Sonne entgegen. Nun konnte ich Rowdy endlich zeigen, was alles in mir steckte! Zunächst wirkte er von meinen Fahrkünsten total begeistert und schaute alle 30 Sekunden auf seine Armbanduhr. Das war für mich das Zeichen die Geschwindigkeit zu erhöhen und auf die linke Überholspur zu wechseln, um keine Zeit an der nächsten roten Ampel zu vergeuden, sondern stattdessen auf der grünen Welle der von Formel-Eins-Rennfahrern getesteten Ampelschaltung in den Sonnenuntergang zu surfen.
Nach 40 Minuten – Unsere Geschwindigkeit erhöhte sich von 50 auf 60, 70 und dann 80 km/h, nachdem wir bereits alle Ampelgrünphasen mit Bravour gemeistert hatten und noch bevor wir den „Canyon“ passieren würden. Der Canyon war der einzige Schnellstraßenabschnitt im Westen von Hamburg und erstreckte sich wie eine Badewanne unterhalb des historischen Ortskerns. Was ursprünglich als Verkehrsberuhigungsmaßnahme für Anwohner und Naturschützer angelegt worden war, diente nun als Beschleunigungsstreifen für Berufspendler, die vor dem nächsten Business-Meeting noch mal eben schnell die Motorenleistung ihrer Oberklasselimousine testen wollten, um mit gesteigertem Testosteronspiegel ein besseres Verhandlungsergebnis erzielen zu können. Wer hier mit voller Geschwindigkeit durchrauschte und dabei den Schwung seiner grünen Welle nutzte, der konnte mit tödlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er auch die Ampelgrünphase am anderen Ende der Wanne rechtzeitig passieren würde. Vorausgesetzt er beschleunigte auf der Strecke noch einmal auf 140 bis 160 km/h, um dann mit Hilfe der einsetzenden Fliehkräfte über die Ampelkreuzung zu schweben.
Nach 50 Minuten – Es war wie ein Rausch! Mit beschleunigter Geschwindigkeit, stieg auch mein Adrenalinpegel. Ich fühlte mich schon lange nicht mehr so frei, wie in jenem Augenblick als wir mit fast 160 km/h über den Rand des Canyons und die Ampelkreuzung flogen und dabei für Millisekunden die Schwerkraft überwanden, um ein belebendes Kribbeln in der Magen-Darm-Region zu verspüren, welches man auch vom „Point of No Return“ am Steilhang einer Achterbahnfahrt kannte. Auch Rowdy schien äußerst begeistert von der „Freiheit über dem Asphalt“ zu sein, als wir kurz nach dem Abheben wieder den Straßenbelag berührten, um mit vollem Schwung die nächste Aufgabe bewältigen zu können. „Jaaaaa! Super, super! Jetzt können wir aber mal ein wenig vom Gas runtergehen, was?! Denn am Hamburger Ortsausgang steht öfter mal eine Polizeikontrolle!“ meinte Rowdy weit weniger begeistert als ich zuvor gedacht hatte. Doch, dem Formel-Eins-Gott sei Dank, gab es weder am Ausgang von Hamburg, noch am Eingang von Wedel eine Polizeikontrolle, so dass wir mit beschleunigter Geschwindigkeit durchheizen konnten.
Nach einer Stunde – „Erst rechts, dann links, dann wieder rechts und noch mal links!“ lautete Rowdys Anweisung, nachdem ich ihn gefragt hatte, wohin es im Wohn- und Gewerbebiet von Wedel gehen sollte. Ich überlegte nicht lange, ob er mich auf eine Rechts-Links-Schwäche untersuchen wollte, sondern machte dort weiter, wo ich nach dem Canyon aufgehört hatte. Links und rechts ging es genauso flott um die Ecke wie rechts und dann links und deshalb wechselte ich nun immer wieder die Fahrtrichtung, um das intuitive Gefühl für den Golf 8 und seine fahrtechnischen Möglichkeiten zu bekommen. Und wieder rechts und noch mal links und dann wieder rechts, links, rechts, links, rechts. (…) Der Spaß drohte erst aufzuhören als wir nach der schlangenlinienartigen Fortbewegung plötzlich auf einen Kreisverkehr zufuhren. „Um den Kreisverkehr herum!“ kam etwas einsilbig von Rowdys Seite und mittlerweile erkannte ich die Gegend, in der wir nach zahlreichen Richtungswechseln gelandet waren: Es war das Streckenareal, in dem ich vor 15 Jahren meine erste Fahrprüfung ablegen musste. Fast wäre ich damals an einem Stopp-Schild kurz vor dem Kreisverkehr durch die Prüfung gefallen. Doch weil Rowdy den damaligen Fahrprüfer in eine kontroverse Diskussion über die Vor- und Nachteile ostdeutscher Ampelmännchen im westdeutschen Straßenverkehr verwickelt hatte, hatte der wiederum nicht gemerkt, dass ich weit vor der Drei-Sekunden-Warteregel über die Stoppschildmarkierung gefahren war. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach über einer Stunde – Irgendwie waren wir immer noch im Kreisverkehr und mir wurde langsam schwindelig, weil ich schon länger nichts mehr von Rowdy gehört hatte und nicht genau wusste, ob ich nun die nächste, die übernächste oder erst die überübernächste Straße rechts abbiegen sollte. Was mir zu Beginn der Kreisverkehrsodyssee noch Spaß gemacht hatte – nämlich das ununterbrochene Herumkreisen um die eigene Verkehrsachse bis die ersten Autofahrer mit Lichthupe, Lauthupe und diversen Mittelfingersignalen verdeutlichen wollten, dass man mal irgendwo abbiegen sollte – war nun etwas langweilig geworden. Und da sich Rowdy nun auch nicht mehr wirklich engagierte, ergriff ich selbst die Initiative und fuhr die überüberübernächste Straße rechts ab, um schließlich festzustellen, dass wir genau dort gelandet waren, von wo wir ursprünglich hergekommen waren.
„Einfach zurück nach Hause!“ kam nach längerer Pause wieder ein erstes Lebenszeichen von Rowdy. Ohne zu knurren richtete ich mich nach seiner Anweisung und fuhr zurück zur Fahrschule. „Immer geradeaus!“ hieß es in unregelmäßigen Abständen vom Beifahrersitz, wobei ich nicht sehen konnte, ob Rowdy noch wach war oder im Halbschlaf seine imaginäre Landkarte verfolgte. Als wir nach längerer Fahrt schließlich den halbbeschrankten Bahnübergang im Wedeler Autal erreichten, vor dem sich seit geraumer Zeit eine unübersichtlich lange Wagenkolonne angesammelt hatte, kam vom herumdösenden Rowdy wieder nur die Anweisung: „Immer geradeaus!“
Ich fragte ihn noch, ob er das jetzt ernst meinen würde und ich die Gegenfahrbahn als Überholspur nutzen sollte, um mich an den Anfang der Wagenkolonne zu drängeln. Da hieß es von Rowdys Seite nur „Ist mir scheißegal! Mir ist schlecht und ich will nach Hause! Also fahr gefälligst geradeaus!“ Gesagt, getan. Obwohl ich nicht genau wusste, weshalb Rowdy urplötzlich so schlecht drauf war – denn eigentlich hatten die letzten eineinhalb Fahrstunden doch irgendwie Spaß gemacht – befolgte ich wieder seine Anweisung und fuhr stur geradeaus.
Wenn dem Rowdy nun wirklich so schlecht war, wie er meinte, dann musste ich jetzt wohl dafür sorgen, dass er demnächst auf irgendeinem Herren-WC ankommen würde, damit er seinen emporkommenden Nachmittagssnack nicht ungewollt auf dem Beifahrersitz verteilte. Ich spürte schon wieder ein nervöses Kribbeln in den Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten.
„Jetzt oder nie!“ kam mir in den Sinn als ich das Gaspedal durchdrückte, mit zischenden Lauten an der wartenden Wagenkolonne vorbeirauschte und zugleich den nahenden S-Bahn-Zug sah, der wohl noch ein paar hundert Meter vom Bahnübergang entfernt war, auf dessen schmale Öffnung zwischen den Halbschranken ich nun direkt zusteuerte. Nun war alles möglich! Der Adrenalinkick bestätigte meine Aktion. Nur noch wenige Sekunden lagen zwischen uns, dem Bahnübergang und der anfahrenden S-Bahn als ich auf einmal zu realisieren begann, worum es hier eigentlich genau ging und erst dann anfing zu schreien: „Scheißeeeeee!“ kam es eruptionsartig aus mir heraus und „Scheißeeeeee!“ schallte das Echo kurz danach von der Beifahrerseite (…)
Ich wusste nur noch, dass mir irgendwie schwarz vor Augen geworden war, nachdem ich einen dumpfen Schlag auf dem Hinterkopf gespürt hatte. Danach war alles wie ausgelöscht und meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ich am frühen Morgen des nächsten Tages auf dem Sofa der Fahrschule aufwachte. Die Fahrschulsekretärin hatte unbestimmte Zeit auf mich aufgepasst und mich anschließend mit der Bitte nach Hause geschickt, doch erst in einer Woche wiederzukommen.
Eine Woche später – „Tja, das war wohl doch nicht so ganz die Ausbildung, die wir uns beide vorgestellt hatten, oder?!“ meinte Sören Hinrichsen – Spitzname „Softie“ – der einfühlsamere Fahrlehrerkollege von Rowdy, den ich auch noch von früher kannte und der nach Rowdys krankheitsbedingtem Ausfall meine letzte Fahrstunde und die Fahrprüfung betreuen sollte. Ich nickte wieder im gleichen Takt wie die Wackeldackel, während Softie auf einmal sein Smartphone aus der Handtasche holte. „Dank unserer tollen neuen VW Multimediatechnik können wir im Golf 8 nun alle Fahrstunden aufnehmen, um dass Ganze hinterher mit den Fahrschülern zu besprechen!“ erklärte mir Softie und startete dann einen Film auf seinem Smartphone, der von versteckten Kameraaugen hinter dem Tachometer, Drehzahlmesser und der Tankanzeige des VW Golfs aufgenommen worden war und aus verschiedenen Blickwinkeln die ungeschönte Realität des alltäglichen Fahrunterrichts dokumentieren sollte, wobei der O-Ton von zwei unter den Wackeldackeln installierten Mikrofonen geliefert wurde.
Und als ob das nicht alles schon genug der heimlichen Überwachung gewesen wäre, hatte der phallusartige Joystick aus der Mittelkonsole zusätzliche Daten von der Pulsfrequenz meiner Blutgefäße und der Hautfeuchtigkeit meiner Schweißfinger gespeichert, die nun als bunte Verlaufskurven und Tortendiagramme unterhalb der Videoanzeige zu sehen waren. „So, hier siehst Du nun den Rowdy auf der rechten oder von Dir aus gesehen auf der linken Seite und Dich auf der linken oder rechten … Ja, Du weißt schon, was ich meine, oder?!“ Ich nickte erneut, ohne dabei den Wackeldackel imitieren zu wollen, während mir Softie im melodisch betonten Erklärbärmodus eines Grundschulpädagogen das Video zu erläutern versuchte: „Ja, das siehst Du, wie der Rowdy etwas irritiert ist von Deinem Fahrstil!“ meinte Softie während ich guckte. „Und da drückst Du wohl ordentlich auf die Tube und das gefällt dem Rowdy wohl gar nicht, guck mal!“ meinte Softie mit gerunzelter Stirn und kreisrundem Schmollmund, während ich guckte und er gleichzeitig weiterredete: „Und hier wird dem Rowdy im Kreisverkehr wohl ordentlich schlecht und dann fängt er fast an zu kotzen!“ meinte Softie mit hochgezogenen Stirnwellen und hervorstechender Unterkieferlippe, während ich immer noch guckte. Langsam mussten wir zur entscheidenden Stelle meines Blackouts kommen. „Guck mal, und da drehst Du dann völlig durch und willst plötzlich Selbstmord machen!“
„Nein, das stimmt nicht!“ wehrte ich mich vehement, ohne weiter zu gucken. „Ich wollte den Rowdy nur rechtzeitig nach Hause fahren, bevor er auf den Sitz kotzt!“ Irgendwas wollte ich noch ergänzen, sah dann aber im Film wie Rowdy und ich „Scheiße!“ brüllten und er mir Sekunden später den Erste-Hilfe-Kasten über die Rübe haute, bevor ihm offenbar einfiel, dass er ja genauso gut auf seine Beifahrerbremse hätte treten können.
Für einen Augenblick lang herrschte Stille, denn das Video war zu Ende. Dann fuhr Softie mit seiner Erklärung fort: „Ja, das Ganze hat den Rowdy doch zu sehr an den Fall Koslowski erinnert!“ Erst im zweiten Anlauf meines Gedankengangs meinte ich mich auch an etwas zu erinnern: „Wie bitte? An wen hat ihn das Ganze erinnert?!“
Softie guckte skeptisch, formte wieder den Schmollmund und erklärte: „Na, an den Rüdiger Koslowski – genannt Rudi K. – der mal vor 5 Jahren mit über 40 seinen Führerschein hier gemacht hat und ähnlich komisch drauf war wie Du, obwohl Du ja noch gar keine 40 bist, oder?! Der Rudi war auf jeden Fall über 25 Jahre im Hamburger Polizei-Innendienst beschäftigt und hatte plötzlich keinen Bock mehr auf Aktenzeichen XY eingedöst. Deshalb hat er erst bei uns nach über 90 Fahrstunden den Führerschein gemacht und ist dann mit Sondergenehmigung von Hamburg nach NRW, in den Kölner Außendienst gewechselt.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter … naja, sie wissen schon, saß ich da und lauschte den sich puzzleartig ergänzenden Worten von Softie. „Ja, das war echt ein komischer Typ! Der hielt sich immer für den größten Autofahrer aller Zeiten und bekam ganz schnell Axelschweiß und tollwütigen Mundwinkelschaum, wenn man ihm sagte, dass er etwas nicht konnte oder nicht machen durfte. Deshalb hat mich Rowdy mal um Rat gebeten! Und da meinte ich halt zu ihm, dass ich da neulich von meinem Coach, von diesem komischen Portal … Wie heißt das noch mal?!“
„Das Leben ist kein Ponyhof?!“ ergänzte ich.
„Ja, genau! Dort hatte mir so’n Coach mal auf die Frage geantwortet, wie man sich denn im Servicebereich bei Kunden verhalten sollte, die immer alles besser wissen und keine Grenzen kennen und so?! Und daraufhin meinte der Coach, dass man dem Kunden zunächst immer Recht geben und ihn wie einen König behandeln sollte. Erst wenn der Kundenkönig auch nicht mehr weiter weiß oder mal so richtig auf die Schnauze gefallen ist, dann sollte man ihm fürsorglich unter die Arme greifen. Ja, und das hat sich der Rowdy halt zu Herzen genommen und danach die Fahrschule umgekrempelt. Heißt ja nun auch nicht mehr Rowdys, sondern Volkers Fahrschule!“
Jetzt wurde mir schon Einiges und kurz danach noch Einiges mehr klar. Fehlte eigentlich nur noch die Antwort auf eine allerletzte Frage: „Und was ist aus diesem Koslowski geworden?“
„Den Rudi K. meinst Du?! Ja, von dem hab ich neulich mal wieder was gehört! Der war jahrelang Verkehrspolizist in Köln bis er sich so einen merkwürdigen Karnevalsscherz erlaubt hatte. Ich weiß nicht, worum es genau ging, aber seitdem arbeitet er wohl wieder im Innendienst!“
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Texte der Lesung "Zweimal im Leben": Silke Tobeler - Hadithas Liste
Ich wickle den leblosen Körper in prächtige Saris und bringe ihn in den Dschungel. Ihr Leben soll nicht umsonst gewesen sein, nach allem was passiert ist: Ich nutze ihre fleischlichen Ressourcen: Haare, Zähne, Blut, um meine ayurvedischen Heilmittel zu bereichern. Jeder soll einen Teil von Haditha in sich aufnehmen. Jeder soll das Leben in sich einverleiben, das mir heilig ist.
Was davor geschah will ich dem Leser berichten, der furchtlos dem Abgrund einer Seele ins Angesicht blicken kann:
Als die Welle auf mich zurollte, war mein Leben schon völlig gegen die Wand gefahren. Ich hatte jeden, den ich liebte, oder nicht liebte, belogen. Betrogen. Mutter. Bruder Vicente. Dschamal. Haditha. Alle hatten an mich, meine Freundlichkeit, Intelligenz und Gottesfürchtigkeit geglaubt. Keiner hatte mehr an die Momente gedacht, als ich den Fröschen im Tümpel einen Strohhalm in den Hintern steckte und so lange reinblies, bis sie zerplatzten. Und hatte irgendjemand mitbekommen, dass ich es war, der sich regelmäßig hinter den Altären für die Ahnen erleichterte? Madame Wong war jedesmal entsetzt, wenn Sie hinter den Opfergaben für ihren Großvater die Häufchen entdeckte. Mehr als einmal trat sie die Dorfhunde, um sie für ihre Respektlosigkeit zu bestrafen. Fast hätte mich Dschamal erwischt, als ich das Schweinefleisch aus unserer Missionsschule in den Alutöpfen in sein Haus schmuggelte, um es in das Lammcurry zu rühren. Ich muss sagen, es hat mich mit unbändiger, fast orgiastischer Freude erfüllt, als ich sah, wie Dschamals Familie, die Mohammeds, ihre Schüsseln mit den letzten Brotkrumen auskratzten, sich jeden einzelnen Finger ableckten, um mehr von dem köstlichen, ihnen verbotenen Fleischsud, genießen zu können.
Die ahnungslose Zuneigung, die unsere Dorfgemeinschaft mir entgegenbrachte, stachelte mich immer mehr zu den unterschiedlichsten Boshaftigkeiten an. Es war wie das Hase und Igel-Spiel, ein regelrechter Sport: Wie weit konnte ich es treiben, bis irgendeine Schändung meinerseits ans Tageslicht kam?
Ich war ein guter Schüler und unsere Missionare waren sehr zufrieden mit dem Messdiener in unschuldiger weisser Spitze. Ich war der lebende Beweis für sie, dass ihre Arbeit im Weinstock Gottes nicht vergebens war, inmitten der tamilischen Üppigkeit Sri Lankas. Unser Land war es gewohnt, die unterschiedlichen Denkweisen und Traditionen nebeneinander bestehen zu lassen. Ob man als konfuzianisch-buddhistisch geprägter Chinese seine Ahnen verehrt, als Muslim die fünf Gebete am Tag verrichtet oder als Hindu den Tempel besucht, alles hatte seinen Platz und nichts musste sich ändern. Bruder Vicente hatte sich schon lange damit arrangiert, dass seine Missionsschule geduldet und wegen der Bildung auch besucht wurde, aber das kaum einer der Dorfbewohner sich taufen liess. Lediglich ich, Vikram Kumar, der ich gottesfürchtig den Messwein in die Monstranz zurückkippte und jede Hostie in unbeobachteten Momenten ableckte, bevor der Priester sie an seine Gemeinde verteilte, nahm den Glauben der ehemaligen Kolonialherren an und ein paar verstreute treue Dörfler, denen die Kirche eine Zufluchtsstelle bot.
Und nun Wasser, Unmengen an Wasser in einer Wucht um uns alle herum. Ich hatte mich auf die Turmspitze unseres katholischen Gemeindehauses gerettet. Hockte oben, festumklammernd den Wetterhahn unter dem Kreuz, der einst unseren schwachen Apostel Petrus verriet. Es hatte mich keiner entdeckt und so sah ich mit Entsetzen die Flutmassen des Meeres, die in ihrer Gischt alles verschlangen, was auf dem Boden lebte. Palmen wurden umgerissen, das Fischerboot von Master Mohammed tänzelte auf einer Welle, um dann mit voller Wucht von der nächsten Brandung zerschlagen zu werden. Hühnerköpfe schnappten neben der prustenden Madame Wong in den Fluten nach Luft. Suchten Halt auf einem Boden, der unter ihren Füßen einfach nicht mehr zu finden war.
Es kam ohne Warnung. Ein leises Grollen vor einer Stunde und nun – alles zerstört im Brausen des Meeres. Ich kauerte auf dem Dachfirst und sah Haditha vor mir, die schöne stolze Haditha. Schwarzes, glänzendes Haar, das in langen Kaskaden auf ihre Hüften fiel. Haditha, ein Mund zu prallen Kirschen geformt und mit einer Haut, die sich wie samtener Pfirsichflaum anfühlen musste. Haditha, die glockenklar lachte und um ihre schlanken Finger eine Haarsträhne zwirbelte. Haditha, die viel von Zahlen verstand und die Bücher unserer Wohltätigkeitsorganisation prüfte.
Ich war es inzwischen, der die Organisation unserer Fatima-Kirche alleine leitete. Ich sorgte dafür, dass einmal in der Woche eine Armenspeisung im Innenhof des Gemeindehauses stattfand. Ich sammelte die Kleiderspenden ein und verteilte sie, an die Orte im Dorf, wo die Familien zwischen Ratten und Fäkalien schliefen.
Ich war DIE rechte Hand von Bruder Vicente, der mich achtete wie seinen eigenen Sohn. Er hatte meine verwitwete Mutter mit meinem kleinen Bruder aus den Bretterverschlägen des Dorfes geholt und eine Wohnung im Gemeindehaus zur Verfügung gestellt. Aus Dankbarkeit für die Dienste des kleinen Vikram, der sich artig bekreuzigte, den Rosenkranz durch die Hände zog und das Kreuz küsste.
Dieses Kreuz war jetzt mein wahrhaftiger, sinnbildlicher Anker der mich vor der Sturmflut rettete, die zu meinen Füßen tobte. Und dennoch betete ich nicht. Ich war vielmehr erleichtert und das erste Mal in meinem Leben wirklich dankbar, weil ich sah, wie das teuflische Wasser die Spur meiner Sünden wegwusch. Meine schmutzige Lebensgeschichte reinigte. Mich wieder zu einem weissen Blatt machte, das neu beschrieben werden konnte. Zwischen dem Tosen der Wellen hörte ich Schreie, ich sah Kühe, die durch die Fluten geworfen wurden und Blitze auf der Wasseroberfläche zucken. Ein Adidasturnschuh, der an der Zehenspitze ein Loch hatte, schwamm an mir vorbei. Dschamal, war so stolz auf diese Adidasschuhe, die ich ihm von der Kleiderspende aus Europa abgezwackt hatte.
Vikram, Bruder! Wie soll ich Dir danken?
Da sie nicht passten, musste er ein Loch in die Zehenspitzen schneiden, aber das störte Dschamal nicht, wenn er die weissen Streifen an der Seite des Turnschuhs streichelte.
Herrenlos wirbelte der Schuh in einem Strudel und wurde dann in die schwarzen Untiefen des Wassers hinabgezogen.
Der Sturm peitschte und pfiff über die Wasseroberfläche. Er wirbelte die in den Fluten herumtreibenden Dachpappen wie Kinderkreisel in einer beängstigenden Geschwindigkeit umher. Alles war schwarz um mich herum, nur die Blitze erhellten ab und zu die tobenden Wassermassen zu meinen Füßen. Ich schloss die Augen.
Hadithas forschender, geradezu skeptischer Blick schien auf den Abgrund meiner Seele herabzusehen.
Das sind aber wirklich viele Gasflaschen, die Du innerhalb eines Monats verbraucht hast...
Haditha pochte mit dem Stift auf das Zahlenblatt, das vor ihr lag.
Dies war der Beginn unserer ermüdenden Sitzungen, in denen die frischgebackene Kirchenbuchhalterin eine Bilanz unserer Gemeinde erarbeitete.
Es war Ostern, erwiderte ich - und wir haben ein Festmahl nach dem anderen für die Ärmsten der Armen gekocht. Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden!
Also, meine Familie kommt drei Monate mit einer Flasche aus – Haditha wippte genervt auf ihrem Stuhl auf und ab, nahm den himmelblauen Schal ihres Punjabi Suits und schlang ihn beinahe ärgerlich um ihren feinen karamellbraunen Hals -
Und ich habe neben meinen zwei Schwestern und drei Brüdern noch eine Verwandtschaft von neun Tanten, sieben Onkels, über zwanzig Cousins und Cousinen, die alle samstagabends zum Essen vorbeikommen...
Ach Haditha, seufzte ich. Halt Dich doch nicht an der Anzahl Gasflaschen auf.
Ich ließ meine langen Wimpern klimpern, das hatte seit meiner Geburt bei allen Frauen funktioniert. Aber an der schönen Tamilin prallte mein Charme ab, wie die Roti von der gefetteten Pfanne. Hadithas Augen, schwarze Seen, in denen Madraspfeffer auffunkte - die Augenbrauen zu einem strengen Strich verbunden.
Natürlich hatte ich nicht so viele Gasflaschen für das Curry der Armenspeisung verbraucht. Ich hatte sie, wie immer in meinem Vorratsschuppen gelagert, zu dem nur ich den Schlüssel hatte. Alle paar Monate hatte ich so viele zusammen, dass sich eine Fuhre nach Wadduwa in das ayurvedische Resort lohnte. Frau Behlheim fragte nie nach den Preisen, sondern winkte mich immer nach meiner Ankunft und dem Verladen der Flaschen in ihr Behandlungszimmer, wo ich ihr bei ihren ayurvedischen Experimenten mit vollem Körpereinsatz zu Diensten stand. Nicht nur Gasflaschen konnte ich dort gewinnbringend an den Mann bringen, auch Currymischungen aus Ahangama und Öle, die ich den Veddas aus den Dschungeln abkaufte und die Frau Behlheim lauwarm und gewinnbringend auf die weissen Stirnen ihrer Urlauber gießen ließ. Hier war ich nicht Vikram aus dem Fischerdorf im Distrikt Kalutara, Versorger der katholischen Gemeinde, sondern Ashok, der Hindu, der stolze Händler mit besten Beziehungen zu allen heimischen Produkten, die hier im Resort wie Heiligtümer verehrt wurden. Tee aus Nuwara Eliya (es war der billige Import aus Madame Wongs Krämerladen), Chilli, Zimt und Kurkuma.
Niemandem im Dorf fielen die großen Mengen meiner Einkäufe auf. Bis die schlaue Haditha sich anbot unsere Kassenbücher zu prüfen. Ich wusste gar nicht, dass Bruder Vicente einen Überprüfungsbedarf unseres Haushaltbudgets für nötig erachtete. Ich dachte immer, dass wir uns blind vertrauen würden. An welchem Punkt hast Du es zu bunt getrieben, Vikram? fragte mich meine innere Stimme. Aber gleichzeitig war ich dankbar, als Haditha vor mir stand, eine lose fallende Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich und hinter ihre wachsamen, großen Ohren steckte.
Mir wurde inzwischen sehr kalt auf dem Kirchturm. Auch das Loch in meinem leeren Magen fing an zu knurren und nahm es mit der tosenden Geräuschkulisse um mich herum auf. Wieviele Minuten oder Stunden habe ich hier oben schon verbracht? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich musste hier fort, das Geschenk irgendeines Gottes annehmen, der mein Leben für so würdig erachtete, dass ich nicht mit den anderen Brüdern, Schwestern, Freunden und Liebsten Wasser und Erde schlucken musste und auf den Meeresboden gezogen wurde. Ja, schrie ich gegen die Wellen an – ich habe es verstanden! Ich werde mein Leben ändern, ein anderer sein. Und Gott, wenn es Dich gibt, dann schicke mir Deine himmlischen Heerscharen und hol mich vom Turm!
Blitze zuckten. Donner grollte. Im aufflackernden Licht sah ich einen Baobab-Ast neben mir schwimmen. Der Baobab, der schon einst Meister Buddha hier auf Sri Lanka das Leben rettete. Ich lockerte meine Umklammerung auf der Kirchturmspitze und ließ mich von den Fluten ergreifen. Wasser gischtete und peitschte in mein Gesicht. Die salzige Brühe drang in meine Ohren, meine Nase und in meinen Mund. Ich spuckte, hustete, schluckte, rang nach Atem. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Ast direkt zum Greifen nah vor mir und streckte meine Hand nach ihm aus. Ich erwartete eine glitschige, glatte Oberfläche und hielt verwundert ein zerrissenes Stück Stoff in meiner Hand. Ich erkannte die himmelblaue Seide von Hadithas Punjabi Suit.
Haditha, die mich herausforderte. Haditha, die mich durchschaute. Haditha, die nicht vor mir zurückschreckte, obwohl sie wusste, was ich tat. Sie konnte mir standhalten. Aber ich? Konnte ich ihrem sambalscharfem Urteil standhalten?
In diesem Moment starb Vikram und Ashok nahm Besitz von meinem Körper ein.
Ashok, der Heiler. Ashok, der Geschäftsmann mit weisser Weste. Es war so einfach. Tropfnass fragte mich niemand nach der geschehenen Katastrophe nach Papieren. Es ging eh alles im Chaos unter. Und die auf dem Festland waren froh, dass sie keinen Teufelswellen ausgesetzt gewesen waren.
Und als Ashok begann ich meine neues Leben: Ich war der fliegende Händler erlesener Öle und heilender Salben.
Ich wurde von Resort zu Resort weiterempfohlen. Stets lud ich meinen Landrover mit Kisten und Kästen voller zauberhafter Preziosen voll, um weisse Männer und Frauen in ihrer yoganitischen Sinnsuche zu versorgen. Die Erinnerungen an die schrecklichen Stunden auf dem Kirchturm suchten mich nur in meinen Träumen heim.
Es müssen ca. 3 Monate vergangen sein. Ich ging meiner alchimistischen Begabung nach und zerstiess die grünen Kardamomkapseln in meinem Steinmörser zu feinem Staub. Der anisartige Duft erfüllte meine kleines Labor, oder die „Hexenküche“, die ich gerade brandneu erworben hatte. Ja, als Glückskind hatte ich es in der kurzen Zeit zu so viel Reichtum gebracht, dass ich mir in dem Städtchen Sri Jayawardenepura in der Westprovinz eine Praxis einrichten konnte. Ich vermengte das feine Kardamompulver mit etwas Ghee. Ich sah meine Kunden vor mir, die das heilende Fett in ihren Woks für ihre veganen Speisen erhitzen, als mich der Ruf meines neuen Namens: Ashok! Jäh aus meinen Tagträumereien riss.
Hadithas Stimme war geradezu klanglos aber unverkennbar, der Hauch des Spottes liess die Worte knistern wie gezündeltes Papier.
Ashok... So lässt Du Dich nennen?
Ihr Körper bebte vor Wut. Wie dünn sie geworden war. Und die Strenge ihrer Augenbrauen hatten sich zu einem verbitterten Strich in ihr einst so frisches Gesicht gemeißelt. Die sinnlichen, prallen Lippen waren zu trockenen Schründen geworden.
Ich breitete die Arme aus: Haditha! Gepriesen sei der Herr – Du lebst!
Wortlos zog meine Jugendliebe einen schwarzen Ordner aus ihrem Rucksack und schlug ihn auf.
Ihre tonarme Stimme vermochte trotzdem durch die Luft zu schneiden wie ein Schwert:
HABEN: 9.245 Rupien für 89 Gasflaschen. 2.153.846 Rupien für Mme Wongs Krämerladen, 76.923 Rupien für Master Mohammeds Fischerboot, 2.369.230 Rupien für die Fatima-Kirche...
Haditha – ich versuchte meine Hand auf ihre Schulter zu legen, die sie wie ein lästiges Insekt geradezu ruppig wegfegte, nur um mit ihrem Zahlenmonolog fortzufahren:
HABEN: 1.153.846 Rupien für das Fatima-Gemeindehaus, 2.353.846 Rupien für Coffeeshop und Bar, 1.076.923 Rupien für die Schule und 1.384.615 Rupien für die Arztpraxis.
Unsere Gemeindebuchhalterin holte kurz Luft und ich wollte den Moment nutzen, um diesem Zahlensalat ein Ende zu machen: Had...
Nun wird es schwierig, fuhr sie unbeirrt fort. Wie berechnet man ein Menschenleben? Laut aktueller Rechnungen liegt der reine Organwert bei einer Summe zwischen 2000 und 4000 EURO, also nehmen wir den Mittelwert von 3000 EURO, in Rupien macht das ca. 461.538 Rupien. Das macht für die Familie Chatternee bei fünf Personen ein HABEN von: 2.307.692 Rupien, Familie Chimoy, sieben Personen: 3.230.769 Rupien, Bruder Vicente: 461.538 Rupien, dasselbe für Schwester Agnes, Mme Wong und Deine Mutter Vikram...
Ich verstand das alles nicht, aber jedes einzelne Wort fühlte sich wie rohe Chilischoten in meinen Augen an und Tränen liefen mir unaufhaltsam übers Gesicht. Hadithas Stimme wurde fester und gewann sogar an Kraft:
Familie Mohammad – wusstest Du dass sie mit Dschamals Großmutter insgesamt acht waren? Ergeben eine Summe von 3.692.307 Rupien.
Hadita, schluchzte ich – was soll das? Was rechnest Du da?
Ohhhh – Du dachtest Du kannst uns so klammheimlich entkommen – ASHOK? Was hast Du nach dem Tsunami gemacht? Hier kommt das ungedeckte SOLL, Du Gemeindediakon, der Du uns Elenden hättest helfen können: SOLL: Schlamm schippen, bei einem Tagessatz von 150 Rupien, bei einem Einsatz von zwei Wochen = 315.000 Rupien. Hast Du nicht erbracht, da liegen wir bei NULL!
SOLL: Körper ausgraben, Säuglingen in den leblosen Armen ihrer Mütter die Augen schliessen? Ebenso Tagessatz plus emotionale Entschädigung von 50 Rupien = 200 Rupien, ca. acht Tage, dann haben wir keine Leichen mehr gesucht, macht 1.600 Rupien. Hast Du nicht gemacht, da liegen wir wieder bei NULL.
SOLL: Leichen identifizieren? Da könnte man dasselbe wie eben veranschlagen, 1.600 Rupien. Hast Du nicht gemacht, da liegen wir wieder mal bei NULL.
WO WARST DU VIKRAM???
Hadithas ausgemergelter Körper war gespannt wie die Ledersehne eines Bogens, in den ihr Zorn einen vernichtenden Pfeil justierte und sie schlang ihren Schal fester um sich.
Aber es warst nicht nur Du, der sich aus dem Staub gemacht und uns mit den Trümmern alleingelassen hatte. Nein, nicht nur Du. Haditha lächelte...bitter...
Ich habe noch vier andere Feiglinge ausgemacht, ist egal wer, damit habe ich die Summe von Zehnbillionenachthundertneununddreissigmilliardenneunhundertmillionenundneunhundertneununddreissigtausend Rupien aufgeteilt auf fünf. Das macht Deinen Anteil von 21.678.780 Rupien den Du uns und unserem Dorf schuldest Vikram oder soll ich sagen Ashok?
Haditha, Haditha... schluchzte ich, das ist alles so entsetzlich, ich konnte...musste...
Hadithas Augen waren mit grüner Verachtung gefüllt. Grün, wie die Farbe der Teeblätter, bevor sie dem schwärzenden Fermentierungsprozess anheim gegeben werden.
Ich rief nach Insolvenz: Ich habe so gut wie nichts Haditha, und sollte ich noch etwas finden – es soll alles Dein sein!
Du glaubst, dass Du Deine Schuld bezahlen kannst, wie einen Ablassbrief? Dass Du Deine Hände in ayurvedisch gesegnetem Öl reinwaschen kannst?
Was willst Du Haditha? Wimmerte ich...Was?
Haditha glühte vor mir wie der Erzengel Gabriel mit flammenden Schwert – sie holte tief Luft und übergoss sich plötzlich mit einer schrecklichen Flüssigkeit.
Was machst Du da? HADITHA? Schrie ich.
Nun sieh Bruder, ob Du noch irgendwo Wasser findest, dass uns retten kann! rief Haditha und zündete die Liste an, die sie wie einen Fächer sich entgegenwedelte.
Mir grauste, als ich sie in Flammen vor mir glühen sah, wie eine hinduistische Witwe.
Aber selbst all meine Stoffe, all meine Decken konnten meine schöne Haditha nicht retten.
Ich wickle den leblosen Körper meiner Braut in prächtige Saris und bringe sie in den Dschungel.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Was davor geschah will ich dem Leser berichten, der furchtlos dem Abgrund einer Seele ins Angesicht blicken kann:
Als die Welle auf mich zurollte, war mein Leben schon völlig gegen die Wand gefahren. Ich hatte jeden, den ich liebte, oder nicht liebte, belogen. Betrogen. Mutter. Bruder Vicente. Dschamal. Haditha. Alle hatten an mich, meine Freundlichkeit, Intelligenz und Gottesfürchtigkeit geglaubt. Keiner hatte mehr an die Momente gedacht, als ich den Fröschen im Tümpel einen Strohhalm in den Hintern steckte und so lange reinblies, bis sie zerplatzten. Und hatte irgendjemand mitbekommen, dass ich es war, der sich regelmäßig hinter den Altären für die Ahnen erleichterte? Madame Wong war jedesmal entsetzt, wenn Sie hinter den Opfergaben für ihren Großvater die Häufchen entdeckte. Mehr als einmal trat sie die Dorfhunde, um sie für ihre Respektlosigkeit zu bestrafen. Fast hätte mich Dschamal erwischt, als ich das Schweinefleisch aus unserer Missionsschule in den Alutöpfen in sein Haus schmuggelte, um es in das Lammcurry zu rühren. Ich muss sagen, es hat mich mit unbändiger, fast orgiastischer Freude erfüllt, als ich sah, wie Dschamals Familie, die Mohammeds, ihre Schüsseln mit den letzten Brotkrumen auskratzten, sich jeden einzelnen Finger ableckten, um mehr von dem köstlichen, ihnen verbotenen Fleischsud, genießen zu können.
Die ahnungslose Zuneigung, die unsere Dorfgemeinschaft mir entgegenbrachte, stachelte mich immer mehr zu den unterschiedlichsten Boshaftigkeiten an. Es war wie das Hase und Igel-Spiel, ein regelrechter Sport: Wie weit konnte ich es treiben, bis irgendeine Schändung meinerseits ans Tageslicht kam?
Ich war ein guter Schüler und unsere Missionare waren sehr zufrieden mit dem Messdiener in unschuldiger weisser Spitze. Ich war der lebende Beweis für sie, dass ihre Arbeit im Weinstock Gottes nicht vergebens war, inmitten der tamilischen Üppigkeit Sri Lankas. Unser Land war es gewohnt, die unterschiedlichen Denkweisen und Traditionen nebeneinander bestehen zu lassen. Ob man als konfuzianisch-buddhistisch geprägter Chinese seine Ahnen verehrt, als Muslim die fünf Gebete am Tag verrichtet oder als Hindu den Tempel besucht, alles hatte seinen Platz und nichts musste sich ändern. Bruder Vicente hatte sich schon lange damit arrangiert, dass seine Missionsschule geduldet und wegen der Bildung auch besucht wurde, aber das kaum einer der Dorfbewohner sich taufen liess. Lediglich ich, Vikram Kumar, der ich gottesfürchtig den Messwein in die Monstranz zurückkippte und jede Hostie in unbeobachteten Momenten ableckte, bevor der Priester sie an seine Gemeinde verteilte, nahm den Glauben der ehemaligen Kolonialherren an und ein paar verstreute treue Dörfler, denen die Kirche eine Zufluchtsstelle bot.
Und nun Wasser, Unmengen an Wasser in einer Wucht um uns alle herum. Ich hatte mich auf die Turmspitze unseres katholischen Gemeindehauses gerettet. Hockte oben, festumklammernd den Wetterhahn unter dem Kreuz, der einst unseren schwachen Apostel Petrus verriet. Es hatte mich keiner entdeckt und so sah ich mit Entsetzen die Flutmassen des Meeres, die in ihrer Gischt alles verschlangen, was auf dem Boden lebte. Palmen wurden umgerissen, das Fischerboot von Master Mohammed tänzelte auf einer Welle, um dann mit voller Wucht von der nächsten Brandung zerschlagen zu werden. Hühnerköpfe schnappten neben der prustenden Madame Wong in den Fluten nach Luft. Suchten Halt auf einem Boden, der unter ihren Füßen einfach nicht mehr zu finden war.
Es kam ohne Warnung. Ein leises Grollen vor einer Stunde und nun – alles zerstört im Brausen des Meeres. Ich kauerte auf dem Dachfirst und sah Haditha vor mir, die schöne stolze Haditha. Schwarzes, glänzendes Haar, das in langen Kaskaden auf ihre Hüften fiel. Haditha, ein Mund zu prallen Kirschen geformt und mit einer Haut, die sich wie samtener Pfirsichflaum anfühlen musste. Haditha, die glockenklar lachte und um ihre schlanken Finger eine Haarsträhne zwirbelte. Haditha, die viel von Zahlen verstand und die Bücher unserer Wohltätigkeitsorganisation prüfte.
Ich war es inzwischen, der die Organisation unserer Fatima-Kirche alleine leitete. Ich sorgte dafür, dass einmal in der Woche eine Armenspeisung im Innenhof des Gemeindehauses stattfand. Ich sammelte die Kleiderspenden ein und verteilte sie, an die Orte im Dorf, wo die Familien zwischen Ratten und Fäkalien schliefen.
Ich war DIE rechte Hand von Bruder Vicente, der mich achtete wie seinen eigenen Sohn. Er hatte meine verwitwete Mutter mit meinem kleinen Bruder aus den Bretterverschlägen des Dorfes geholt und eine Wohnung im Gemeindehaus zur Verfügung gestellt. Aus Dankbarkeit für die Dienste des kleinen Vikram, der sich artig bekreuzigte, den Rosenkranz durch die Hände zog und das Kreuz küsste.
Dieses Kreuz war jetzt mein wahrhaftiger, sinnbildlicher Anker der mich vor der Sturmflut rettete, die zu meinen Füßen tobte. Und dennoch betete ich nicht. Ich war vielmehr erleichtert und das erste Mal in meinem Leben wirklich dankbar, weil ich sah, wie das teuflische Wasser die Spur meiner Sünden wegwusch. Meine schmutzige Lebensgeschichte reinigte. Mich wieder zu einem weissen Blatt machte, das neu beschrieben werden konnte. Zwischen dem Tosen der Wellen hörte ich Schreie, ich sah Kühe, die durch die Fluten geworfen wurden und Blitze auf der Wasseroberfläche zucken. Ein Adidasturnschuh, der an der Zehenspitze ein Loch hatte, schwamm an mir vorbei. Dschamal, war so stolz auf diese Adidasschuhe, die ich ihm von der Kleiderspende aus Europa abgezwackt hatte.
Vikram, Bruder! Wie soll ich Dir danken?
Da sie nicht passten, musste er ein Loch in die Zehenspitzen schneiden, aber das störte Dschamal nicht, wenn er die weissen Streifen an der Seite des Turnschuhs streichelte.
Herrenlos wirbelte der Schuh in einem Strudel und wurde dann in die schwarzen Untiefen des Wassers hinabgezogen.
Der Sturm peitschte und pfiff über die Wasseroberfläche. Er wirbelte die in den Fluten herumtreibenden Dachpappen wie Kinderkreisel in einer beängstigenden Geschwindigkeit umher. Alles war schwarz um mich herum, nur die Blitze erhellten ab und zu die tobenden Wassermassen zu meinen Füßen. Ich schloss die Augen.
Hadithas forschender, geradezu skeptischer Blick schien auf den Abgrund meiner Seele herabzusehen.
Das sind aber wirklich viele Gasflaschen, die Du innerhalb eines Monats verbraucht hast...
Haditha pochte mit dem Stift auf das Zahlenblatt, das vor ihr lag.
Dies war der Beginn unserer ermüdenden Sitzungen, in denen die frischgebackene Kirchenbuchhalterin eine Bilanz unserer Gemeinde erarbeitete.
Es war Ostern, erwiderte ich - und wir haben ein Festmahl nach dem anderen für die Ärmsten der Armen gekocht. Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden!
Also, meine Familie kommt drei Monate mit einer Flasche aus – Haditha wippte genervt auf ihrem Stuhl auf und ab, nahm den himmelblauen Schal ihres Punjabi Suits und schlang ihn beinahe ärgerlich um ihren feinen karamellbraunen Hals -
Und ich habe neben meinen zwei Schwestern und drei Brüdern noch eine Verwandtschaft von neun Tanten, sieben Onkels, über zwanzig Cousins und Cousinen, die alle samstagabends zum Essen vorbeikommen...
Ach Haditha, seufzte ich. Halt Dich doch nicht an der Anzahl Gasflaschen auf.
Ich ließ meine langen Wimpern klimpern, das hatte seit meiner Geburt bei allen Frauen funktioniert. Aber an der schönen Tamilin prallte mein Charme ab, wie die Roti von der gefetteten Pfanne. Hadithas Augen, schwarze Seen, in denen Madraspfeffer auffunkte - die Augenbrauen zu einem strengen Strich verbunden.
Natürlich hatte ich nicht so viele Gasflaschen für das Curry der Armenspeisung verbraucht. Ich hatte sie, wie immer in meinem Vorratsschuppen gelagert, zu dem nur ich den Schlüssel hatte. Alle paar Monate hatte ich so viele zusammen, dass sich eine Fuhre nach Wadduwa in das ayurvedische Resort lohnte. Frau Behlheim fragte nie nach den Preisen, sondern winkte mich immer nach meiner Ankunft und dem Verladen der Flaschen in ihr Behandlungszimmer, wo ich ihr bei ihren ayurvedischen Experimenten mit vollem Körpereinsatz zu Diensten stand. Nicht nur Gasflaschen konnte ich dort gewinnbringend an den Mann bringen, auch Currymischungen aus Ahangama und Öle, die ich den Veddas aus den Dschungeln abkaufte und die Frau Behlheim lauwarm und gewinnbringend auf die weissen Stirnen ihrer Urlauber gießen ließ. Hier war ich nicht Vikram aus dem Fischerdorf im Distrikt Kalutara, Versorger der katholischen Gemeinde, sondern Ashok, der Hindu, der stolze Händler mit besten Beziehungen zu allen heimischen Produkten, die hier im Resort wie Heiligtümer verehrt wurden. Tee aus Nuwara Eliya (es war der billige Import aus Madame Wongs Krämerladen), Chilli, Zimt und Kurkuma.
Niemandem im Dorf fielen die großen Mengen meiner Einkäufe auf. Bis die schlaue Haditha sich anbot unsere Kassenbücher zu prüfen. Ich wusste gar nicht, dass Bruder Vicente einen Überprüfungsbedarf unseres Haushaltbudgets für nötig erachtete. Ich dachte immer, dass wir uns blind vertrauen würden. An welchem Punkt hast Du es zu bunt getrieben, Vikram? fragte mich meine innere Stimme. Aber gleichzeitig war ich dankbar, als Haditha vor mir stand, eine lose fallende Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich und hinter ihre wachsamen, großen Ohren steckte.
Mir wurde inzwischen sehr kalt auf dem Kirchturm. Auch das Loch in meinem leeren Magen fing an zu knurren und nahm es mit der tosenden Geräuschkulisse um mich herum auf. Wieviele Minuten oder Stunden habe ich hier oben schon verbracht? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich musste hier fort, das Geschenk irgendeines Gottes annehmen, der mein Leben für so würdig erachtete, dass ich nicht mit den anderen Brüdern, Schwestern, Freunden und Liebsten Wasser und Erde schlucken musste und auf den Meeresboden gezogen wurde. Ja, schrie ich gegen die Wellen an – ich habe es verstanden! Ich werde mein Leben ändern, ein anderer sein. Und Gott, wenn es Dich gibt, dann schicke mir Deine himmlischen Heerscharen und hol mich vom Turm!
Blitze zuckten. Donner grollte. Im aufflackernden Licht sah ich einen Baobab-Ast neben mir schwimmen. Der Baobab, der schon einst Meister Buddha hier auf Sri Lanka das Leben rettete. Ich lockerte meine Umklammerung auf der Kirchturmspitze und ließ mich von den Fluten ergreifen. Wasser gischtete und peitschte in mein Gesicht. Die salzige Brühe drang in meine Ohren, meine Nase und in meinen Mund. Ich spuckte, hustete, schluckte, rang nach Atem. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Ast direkt zum Greifen nah vor mir und streckte meine Hand nach ihm aus. Ich erwartete eine glitschige, glatte Oberfläche und hielt verwundert ein zerrissenes Stück Stoff in meiner Hand. Ich erkannte die himmelblaue Seide von Hadithas Punjabi Suit.
Haditha, die mich herausforderte. Haditha, die mich durchschaute. Haditha, die nicht vor mir zurückschreckte, obwohl sie wusste, was ich tat. Sie konnte mir standhalten. Aber ich? Konnte ich ihrem sambalscharfem Urteil standhalten?
In diesem Moment starb Vikram und Ashok nahm Besitz von meinem Körper ein.
Ashok, der Heiler. Ashok, der Geschäftsmann mit weisser Weste. Es war so einfach. Tropfnass fragte mich niemand nach der geschehenen Katastrophe nach Papieren. Es ging eh alles im Chaos unter. Und die auf dem Festland waren froh, dass sie keinen Teufelswellen ausgesetzt gewesen waren.
Und als Ashok begann ich meine neues Leben: Ich war der fliegende Händler erlesener Öle und heilender Salben.
Ich wurde von Resort zu Resort weiterempfohlen. Stets lud ich meinen Landrover mit Kisten und Kästen voller zauberhafter Preziosen voll, um weisse Männer und Frauen in ihrer yoganitischen Sinnsuche zu versorgen. Die Erinnerungen an die schrecklichen Stunden auf dem Kirchturm suchten mich nur in meinen Träumen heim.
Es müssen ca. 3 Monate vergangen sein. Ich ging meiner alchimistischen Begabung nach und zerstiess die grünen Kardamomkapseln in meinem Steinmörser zu feinem Staub. Der anisartige Duft erfüllte meine kleines Labor, oder die „Hexenküche“, die ich gerade brandneu erworben hatte. Ja, als Glückskind hatte ich es in der kurzen Zeit zu so viel Reichtum gebracht, dass ich mir in dem Städtchen Sri Jayawardenepura in der Westprovinz eine Praxis einrichten konnte. Ich vermengte das feine Kardamompulver mit etwas Ghee. Ich sah meine Kunden vor mir, die das heilende Fett in ihren Woks für ihre veganen Speisen erhitzen, als mich der Ruf meines neuen Namens: Ashok! Jäh aus meinen Tagträumereien riss.
Hadithas Stimme war geradezu klanglos aber unverkennbar, der Hauch des Spottes liess die Worte knistern wie gezündeltes Papier.
Ashok... So lässt Du Dich nennen?
Ihr Körper bebte vor Wut. Wie dünn sie geworden war. Und die Strenge ihrer Augenbrauen hatten sich zu einem verbitterten Strich in ihr einst so frisches Gesicht gemeißelt. Die sinnlichen, prallen Lippen waren zu trockenen Schründen geworden.
Ich breitete die Arme aus: Haditha! Gepriesen sei der Herr – Du lebst!
Wortlos zog meine Jugendliebe einen schwarzen Ordner aus ihrem Rucksack und schlug ihn auf.
Ihre tonarme Stimme vermochte trotzdem durch die Luft zu schneiden wie ein Schwert:
HABEN: 9.245 Rupien für 89 Gasflaschen. 2.153.846 Rupien für Mme Wongs Krämerladen, 76.923 Rupien für Master Mohammeds Fischerboot, 2.369.230 Rupien für die Fatima-Kirche...
Haditha – ich versuchte meine Hand auf ihre Schulter zu legen, die sie wie ein lästiges Insekt geradezu ruppig wegfegte, nur um mit ihrem Zahlenmonolog fortzufahren:
HABEN: 1.153.846 Rupien für das Fatima-Gemeindehaus, 2.353.846 Rupien für Coffeeshop und Bar, 1.076.923 Rupien für die Schule und 1.384.615 Rupien für die Arztpraxis.
Unsere Gemeindebuchhalterin holte kurz Luft und ich wollte den Moment nutzen, um diesem Zahlensalat ein Ende zu machen: Had...
Nun wird es schwierig, fuhr sie unbeirrt fort. Wie berechnet man ein Menschenleben? Laut aktueller Rechnungen liegt der reine Organwert bei einer Summe zwischen 2000 und 4000 EURO, also nehmen wir den Mittelwert von 3000 EURO, in Rupien macht das ca. 461.538 Rupien. Das macht für die Familie Chatternee bei fünf Personen ein HABEN von: 2.307.692 Rupien, Familie Chimoy, sieben Personen: 3.230.769 Rupien, Bruder Vicente: 461.538 Rupien, dasselbe für Schwester Agnes, Mme Wong und Deine Mutter Vikram...
Ich verstand das alles nicht, aber jedes einzelne Wort fühlte sich wie rohe Chilischoten in meinen Augen an und Tränen liefen mir unaufhaltsam übers Gesicht. Hadithas Stimme wurde fester und gewann sogar an Kraft:
Familie Mohammad – wusstest Du dass sie mit Dschamals Großmutter insgesamt acht waren? Ergeben eine Summe von 3.692.307 Rupien.
Hadita, schluchzte ich – was soll das? Was rechnest Du da?
Ohhhh – Du dachtest Du kannst uns so klammheimlich entkommen – ASHOK? Was hast Du nach dem Tsunami gemacht? Hier kommt das ungedeckte SOLL, Du Gemeindediakon, der Du uns Elenden hättest helfen können: SOLL: Schlamm schippen, bei einem Tagessatz von 150 Rupien, bei einem Einsatz von zwei Wochen = 315.000 Rupien. Hast Du nicht erbracht, da liegen wir bei NULL!
SOLL: Körper ausgraben, Säuglingen in den leblosen Armen ihrer Mütter die Augen schliessen? Ebenso Tagessatz plus emotionale Entschädigung von 50 Rupien = 200 Rupien, ca. acht Tage, dann haben wir keine Leichen mehr gesucht, macht 1.600 Rupien. Hast Du nicht gemacht, da liegen wir wieder bei NULL.
SOLL: Leichen identifizieren? Da könnte man dasselbe wie eben veranschlagen, 1.600 Rupien. Hast Du nicht gemacht, da liegen wir wieder mal bei NULL.
WO WARST DU VIKRAM???
Hadithas ausgemergelter Körper war gespannt wie die Ledersehne eines Bogens, in den ihr Zorn einen vernichtenden Pfeil justierte und sie schlang ihren Schal fester um sich.
Aber es warst nicht nur Du, der sich aus dem Staub gemacht und uns mit den Trümmern alleingelassen hatte. Nein, nicht nur Du. Haditha lächelte...bitter...
Ich habe noch vier andere Feiglinge ausgemacht, ist egal wer, damit habe ich die Summe von Zehnbillionenachthundertneununddreissigmilliardenneunhundertmillionenundneunhundertneununddreissigtausend Rupien aufgeteilt auf fünf. Das macht Deinen Anteil von 21.678.780 Rupien den Du uns und unserem Dorf schuldest Vikram oder soll ich sagen Ashok?
Haditha, Haditha... schluchzte ich, das ist alles so entsetzlich, ich konnte...musste...
Hadithas Augen waren mit grüner Verachtung gefüllt. Grün, wie die Farbe der Teeblätter, bevor sie dem schwärzenden Fermentierungsprozess anheim gegeben werden.
Ich rief nach Insolvenz: Ich habe so gut wie nichts Haditha, und sollte ich noch etwas finden – es soll alles Dein sein!
Du glaubst, dass Du Deine Schuld bezahlen kannst, wie einen Ablassbrief? Dass Du Deine Hände in ayurvedisch gesegnetem Öl reinwaschen kannst?
Was willst Du Haditha? Wimmerte ich...Was?
Haditha glühte vor mir wie der Erzengel Gabriel mit flammenden Schwert – sie holte tief Luft und übergoss sich plötzlich mit einer schrecklichen Flüssigkeit.
Was machst Du da? HADITHA? Schrie ich.
Nun sieh Bruder, ob Du noch irgendwo Wasser findest, dass uns retten kann! rief Haditha und zündete die Liste an, die sie wie einen Fächer sich entgegenwedelte.
Mir grauste, als ich sie in Flammen vor mir glühen sah, wie eine hinduistische Witwe.
Aber selbst all meine Stoffe, all meine Decken konnten meine schöne Haditha nicht retten.
Ich wickle den leblosen Körper meiner Braut in prächtige Saris und bringe sie in den Dschungel.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Texte der Lesung "Zweimal im Leben": Heiko Eggers - Der zweite Mann
Wie jeden Morgen brachte Hanna ihren Mann Steve an die Haustür. Sie hielt kurz den Atem an, als ihre trockenen Lippen sich für den obligatorischen Abschiedskuss flüchtig berührten. Sie mochte seinen Geruch nicht, ein Gemisch aus saurem Duft von Milchkaffee und billigem Rasierwasser.
Und Steve stieg - ohne sich noch einmal umzublicken - in sein Auto, das vor dem Haus parkte, gab Gas und fuhr heute wie gestern seinen unbearbeiteten Versicherungspolicen entgegen.
Nachdenklich sah Hanna ihm hinterher; dabei strich sie sich durch die ergraute Landschaft ihrer Haare.
Beim Abräumen des Küchentisches blieb ihr Blick an dem alten Familienfoto an der Wand hängen. Wie frisch sie aussah! Neben ihrer Mutter strahlte ihre Jugend nur so aus dem Bild heraus.
„Heute sehe ich aus wie meine Mutter damals“, dachte sie traurig.
Mehr als zwanzig Jahre waren seither vergangen. Was hatte sie während der ganzen Zeit getan? Hanna konnte sich kaum noch erinnern.
„Ich habe das alles satt“, verriet sie dem Foto.
Satt war vielleicht nicht das richtige Wort. Sie war hungrig. Hungrig nach einem begehrenden Blick, nach Anerkennung und verspielter, unschuldiger Liebe. Hanna sehnte sich die naive Frische ihrer Jugend zurück.
Am Nachmittag hielt sie es in der Wohnung nicht mehr aus. Die einfallenden Sonnenstrahlen und eine drängende, warme Sehnsucht überzeugten sie auszugehen.
Entschlossen schob Hanna die Bügel mit ihren Kleidern im Schlafzimmerschrank hin und her, nahm schließlich ein schönes buntes Sommerkleid heraus, hielt es an und zwängte sich – beobachtet von den Grimassen ihres Spiegelbildes – hinein. Wann hatte sie dieses Kleid das letzte Mal getragen? Mit Mühe und eingezogenem Bauch gelang es ihr den Reißverschluss zu schließen.
„Das Kleid ist eingelaufen!“, erklärte sie entschuldigend ihrem Spiegelbild, welches unversöhnlich zurückblickte.
Beengt atmend zog sie ihre Jacke über, nahm Handtasche und Sonnenbrille von der Kommode und verließ das Haus in Richtung Innenstadt.
***
Hanna schlenderte durch die Fußgängerzone und beobachtete die an ihr vorbeirauschenden Menschen mit ihren Einkaufstüten und ihrer Eile. Ein Junge schrie zu seiner Mutter empor. Sein Schokoladeneis zerlief zwischen seinen Füßen auf den warmen Gehwegplatten. Hanna hatte Mitleid mit dem kleinen Kerl.
Wie gerne hätte sie eigene Kinder gehabt.
Beiläufig ließ sie ihre Blicke über die Angebote in den Schaufenstern schweifen und betrachtete ziellos die Auslagen der Stände der fliegenden Händler, die Gesichter in den Cafés.
Unvermittelt blieb sie stehen. Etwas hatte ihre vor sich hin plätschernden Gedanken ins Stolpern gebracht.
„Steve? Das ist doch Steve?“, dachte sie. Um diese Zeit sollte er auf der Arbeit sein.
„Was macht er hier in diesem Café?“.
Hanna war plötzlich hellwach. Sie spürte eine Klarheit, wie seit Jahren nicht mehr. Fast war sie froh, dass ihr Mann in der Lage zu sein schien mit seinen Gewohnheiten zu brechen und etwas für sie Unerwartetes zu tun. Mit frischer Aufmerksamkeit nahm sie die Bilder der Umgebung schärfer und farbiger wahr.
Oder sollte es etwa bedeuten, dass er wieder fremd ging? Traf er sich hier heimlich mit einer anderen Frau? Eine Hitzewelle, nicht nur der Wut, durchflutete ihren Körper. Hanna musste ihre Jacke ausziehen.
Hatte er sie bereits bemerkt?
Plötzlich klingelte ihr Handy. Mit schweißnassen Fingern fischte sie es aus der Jackentasche heraus.
„Hallo? - Steve?“
„Du kommst heute Abend später nach Hause?“
„Zum Squash? Ok, bis dann.“
Hanna legte auf und starrte verwirrt auf das Handy in ihrer Hand, dann wieder durch das Fenster ins Café. Steve saß allein an seinem Tisch und sah zum Glück nicht in ihre Richtung. Er hatte während ihres Telefonats gesprochen, das hatte sie sehen können, aber ohne ein Handy am Ohr. „Wie kann das sein? Benutzt er vielleicht ein Headset?“, überlegte sie.
„Nein, das ist nicht Steve! Es klang wie immer, wenn er mich von seinem Büro aus anruft“, ging es ihr durch den Kopf.
Mit der Nase fast an der Fensterscheibe versuchte Hanna nun ihre Position zu verbessern, um an dem voll behängten Kleiderständer vorbeisehen zu können.
„Das darf nicht wahr sein, er flirtet mit der Kellnerin. Hat er denn nichts Besseres zu tun?“, empörte sie sich im leisen Selbstgespräch.
„Er sieht Steve so ähnlich, ich könnte schwören, dass er es ist“.
Hanna tigerte unruhig zwischen den Tischen, Stühlen und den Sonnenschirmen vor dem Café hin und her.
„Vielleicht sein Zwillingsbruder?“, murmelte sie. „Seit wann hat Steve einen Zwillingsbruder? Was mach’ ich nur? Ich muss da hinein. Ich muss ihn kennenlernen.“
Die Leute blickten sie bereits fragend an.
„Aber ich kann mich da drinnen doch nicht einfach an seinen Tisch setzen und sagen ‚Hallo hier bin ich! Willst du mit mir schlafen?’“. Hanna erschrak ein wenig über ihre forschen Gedanken. So kannte sie sich gar nicht.
„Ich habe nichts zu verlieren“, gab sie sich einen Ruck, machte sich gerade und ging hinein.
So entschlossen ihr erster Schritt auch gewesen sein mochte, so unsicher war sie sich jetzt über den zweiten. Sie war verschwitzt und hatte nicht geprüft, wie sie aussah.
„Habe ich noch Zeit mich frisch zu machen? Was ist, wenn er in der Zwischenzeit das Café verlässt?“, überlegte sie aufgeregt und schaute unauffällig zu seinem Tisch. Die Kellnerin brachte ihm gerade ein Stück Kuchen. „Das passt“, dachte Hanna. Er würde noch ein paar Minuten mit seinem Stück Torte beschäftigt sein.
In dem engen Waschraum kramte sie einen alten Eyeliner aus den Tiefen ihrer Handtasche, der zum Glück noch zu gebrauchen war und begann sich zu schminken. Ein Haargummi musste auch noch irgendwo sein. „Geht doch“, lächelte Hanna in den Spiegel. Dann fiel ihr Blick auf die dunklen Schweißränder, die sich unter den Achseln auf ihrem Kleid abzeichneten. Sie seufzte und zog ihre Jacke wieder über. So geht es.
Hannas Herz klopfte, wie damals bei ihrem allerersten Treffen mit Steve. Sie hatte Angst gehabt, er könne sie nicht hübsch finden und sie würde alles vermasseln, stottern, ihm den Kaffee über die Hose schütten, dummes Zeug reden. Aber sie hatte es damals nicht getan und sie würde es auch heute nicht tun! Hannas Augen leuchteten, als sie die Toilette verließ und direkt auf den Tisch zuging, an dem Steve, in seine Tageszeitung vertieft, saß.
„Verzeihung, ist bei Ihnen noch frei?“
Der Mann schaute auf, lächelte und rückte ein wenig zur Seite. Ein guter Anfang dachte sie, er hat mich angelächelt.
Hanna nahm die Speisekarte.
„Darf ich Sie etwas fragen? Sie hatten doch die Schwarzwälderkirschtorte. Ist sie zu empfehlen?“
Der Mann lugte hinter seiner Zeitung hervor.
„Ja“, sagte er.
„Wunderbar. Dann nehme ich ein Stück Schwarzwälderkirsch und einen Espresso“, bestellte Hanna bei der Kellnerin und wandte sich ihm sofort wieder zu. „Wissen Sie meine Großmutter hat die Torte früher immer selbst gebacken. Und sie schmeckte auch immer fantastisch!“.
„Wirklich?“, antwortete er, als redete er mit seiner Zeitung.
„Treffer“, dachte Hanna, „er interessiert sich für das, was ich sage.“
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er Kaffee aus seinem Kännchen nachschenkte und Zucker dazu gab, umrührte und dann den Löffel auf dem Rand der Tasse sanft abklopfte. Hanna musste grinsen. Genauso genüsslich hatte es auch ihr Steve früher getan, wenn sie gemeinsam ausgegangen waren. Dann hatte er einen kleinen Schluck genommen, gelächelt und dabei wie zufällig eine Hand unter dem Tisch auf ihr nacktes Bein gelegt. Hanna konnte seine Hand jetzt förmlich in ihrem Schoß spüren.
„Was für ein Mann!“
Sie legte ihre Hände zwischen ihre Beine und schloss für eine Sekunde die Augen.
„Steve…“, seufzte sie leise.
Hanna bemerkte, wie er sie über den Rand seiner Zeitung fragend ansah. Ihre Hände zuckten zurück auf den Tisch, und ein Schwall warmen Blutes schoss ihr ins Gesicht. „Ob er es sexy findet, wenn ich rot werde?“, dachte sie und versuchte ihre Unsicherheit unter Kontrolle zu bringen.
„Kommen sie öfter hierher?“, fragte Hanna.
Ehe er antwortete, faltete er die Zeitung sorgfältig zusammen und sah sie jetzt einen Moment lang musternd an. Er wirkte überrascht.
„Ja und Nein“, sagte er dann ruhig. „Ich bin nur noch ein paar Tage in der Stadt. Ich habe einen Auftrag zu erledigen. Danach bin ich wieder weg.“
Hanna spürte ein Zucken um die Augenwinkel. Da saß er nun vor ihr, sah sie an, sprach mit ihr! Und hatte er ihr nicht gerade signalisiert, dass sie sich wiedersehen könnten?
„Lächeln Hanna!“, rief sie sich stumm zu. Damals hatte sich Steve in ihr hübsches Lächeln verliebt.
„Was haben Sie denn zu erledigen? Auftrag, das klingt so geheimnisvoll“, strahlte sie ihn an und zeigte ihre immer noch schönen, aufgehellten Zähne.
Er lehnte sich nachdenklich zurück.
„Das möchten sie nicht wirklich wissen“, sagte er und blickte ihr direkt in die Augen.
Schließlich nahm er einen Stift aus seinem Jackett und notierte etwas auf der vor ihm liegenden roten Serviette. Dann schob er diese langsam über den Tisch zu ihr hinüber, wobei er sich ein wenig in ihre Richtung vorbeugte. Hanna sog den Duft seines Aftershaves ein.
Es war nicht der Duft, den Steve trug, wenn er am Wochenende zu Hause war und auch nicht der, den er in der Woche benutzte, wenn er abends länger arbeiten musste. Nein, es war ein völlig neuer Duft. Ein Duft, der sie jetzt in seinen Bann schlug. Ihre Hände berührten sich flüchtig, aber für Hanna war es wie ein elektrischer Schlag, der ihr Herz hüpfen ließ.
Sie hielt die Serviette dicht vor ihre Augen. Ohne ihre Lesebrille hatte sie Mühe seine kleine Schrift zu entziffern.
„Wie bitte? Sie planen einen…“.
Hannas Hände begannen vor Aufregung zu zittern und knüllten das Papier rasch zusammen, um das Wort Bankraub vor den Blicken anderer zu verbergen.
Sofort tauchten Gedankenbilder von Autos mit quietschenden Reifen, Pistolenschüssen und Koffer voller Geld in ihr auf. „Ich könnte ihm helfen. Wir würden gemeinsam ins Ausland fliehen und das ganze Geld in einem Leben voller Luxus gemeinsam verprassen“, ein ganzer Kinofilm im Bruchteil einer Sekunde.
Unbeeindruckt bat er um Entschuldigung. „Ich habe noch einiges vorzubereiten“, sagte er, stand auf und verließ mit sehr kontrolliert wirkenden Bewegungen, ohne sich noch einmal umzublicken, das Café.
Perplex, wie vom Donner gerührt blieb Hanna auf ihrem Stuhl sitzen und sah ihm mit offenem Mund nach. Was für eine Dreistigkeit! Was für eine Kaltschnäuzigkeit! Was für einen starken Willen musste dieser Mann haben?
Hanna wollte ihm noch etwas hinterher rufen, irgendetwas mit Witz und Geist, das ihn genauso überraschen sollte, wie er sie gerade überrascht hatte, aber sie blieb sprachlos wie versteinert sitzen, jetzt mit einem abwesenden Glanz im Gesicht und klopfendem Herzen, genau wie damals.
Hanna winkte der Kellnerin, zahlte mit etwas Trinkgeld ihre Bestellung und machte sich auf den Heimweg. Die Schatten waren jetzt länger und die Abendsonne nur noch hinter den hohen Fassenden der Kaufmannshäuser zu erahnen. Im Gehen telefonierte sie mit ihrem Friseursalon und vereinbarte für den folgenden Vormittag einen Termin.
Gedanken wirbelten weiter in ihrem Kopf und verdichteten sich zu farbenprächtigen Fantasien. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Könnte sie mit dem neuen Steve noch einmal von vorn beginnen? Mit ihm zusammen ihre Wünsche - auch die heimlichen - erfüllen und Abenteuer erleben?
Morgen würde sie ihn wieder treffen und den Bankraub bis ins Detail hinein planen, gemeinsam etwas essen, etwas trinken und danach...
Auf dieses „danach“ kam es ihr an. Sie wollte endlich wieder einen Steve im Bett haben, der sie stürmisch, verspielt, voller Begierde liebte. Es wäre wieder wie früher.
Damals hatten sie Spaß gehabt und Steve war witzig und verspielt. Hanna erinnerte sich, als sie sich einmal auszogen, venezianische Karnevalsmasken aufsetzten und sich dann liebten und dabei und danach von Herzen lachten.
***
Vor ihrer Wohnung angekommen durchwühlte Hanna ihre Handtasche nach dem Schlüssel und bemerkte, dass das Licht in der Küche brannte. Als sie ging brannte es nicht, da war sie sich ganz sicher.
„Steve? - bist du zu Hause?“, rief sie in den Flur.
Hanna hängte verunsichert ihren Mantel an die Garderobe und stellte ihre Handtasche auf der Kommode ab. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen, stützte sich mit der linken Hand und massierte mit der anderen einen ihrer schmerzenden Füße. Dabei sah sie nachdenklich in Richtung Wohnzimmer.
„Warum antwortet er nicht?“, überlegte sie.
Hatte sich eben hinter dem Milchglas der Stubentür etwas bewegt?
Von der Tür wie magisch angezogen ging Hanna barfuß über die kalten Fliesen des Flures. Sie stieß aus Versehen gegen ihre Schuhe. Und diese schlidderten - wie von Geisterhand bewegt - über den glatten Boden. Weg von Hanna, gerade so als hätten sie Angst vor ihr.
Für einen kurzen Moment hielt sie inne und horchte in die unheimliche Stille.
Dann öffnete Hanna die Tür zur Stube und ging vorsichtig in das Wohnzimmer. Es saß jemand mit dem Rücken zu ihr im Sessel.
„Hallo?“ sagte sie und ging langsam um den Stuhl herum.
„Steve! Willst du mir Angst machen?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Warum antwortest du dann nicht? Und wieso bist du schon zu Hause?“
„Wo sollte ich sonst sein?“
„Du hast mich doch angerufen und gesagt, dass du heute später kommen würdest. Deshalb habe ich mir Zeit gelassen.“
„Und warst in der Stadt Bummeln?“
„Wie kommst du darauf?“
„Und im Café einen Espresso trinken?“
„Warte mal“, sagte Hanna und zeigte mit zittriger Hand auf ihn.
„Warst du vorhin etwa in dem Café? Hast du ein Spiel mit mir getrieben?“ fragte Hanna mit verzerrtem Gesicht.
„Das war ein Zufall“, antwortete er.
„Was ist denn los? - Steve? Und wieso trägst du überhaupt Handschuhe? Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles in Ordnung“.
„Du bist nicht Steve! Wer bist du?“
„Was glaubst du? Dein Märchenprinz? Wenn das mein Bruder hören könnte!“
„Steve hat mir nie von einem Zwillingsbruder erzählt“, sagte Hanna und fühlte ihren Blick wie durch Scheuklappen auf diesen Mann fixiert.
„Er spricht nicht gerne über mich.“
„Wie bist du überhaupt hier herein gekommen?“ Hannas Herz pumpte jetzt unter Höchstlast Blut durch ihre Adern.
„Du hast mich gerade bei einem Einbruch überrascht.“
„Einbruch? - Was redest du?“
In diesem Moment richtete er eine Pistole mit Schalldämpfer auf sie. Hanna wollte es nicht glauben. Den plötzlichen Lichtblitz des Mündungsfeuers konnte sie noch sehen und spürte unmittelbar den heftigen Stoß in ihrer Brust, der ihren Oberkörper ruckartig nach vorn warf. Aber sie fühlte keinen Schmerz. Es war als ob all ihre Energie langsam aus ihr heraus gesogen wurde und sich im flauschigen Teppich zu ihren Füssen verteilte.
Hanna hielt sich noch für einen Moment zusammengekrampft, leicht schwankend auf den Beinen. Dann knickte sie weg und fiel - wie in Zeitlupe - rücklings auf den Glastisch. Unmerklich zuckend blieb sie in den schneidenden Scherben liegen.
Er beugte sich über sie, wobei das heiße Metall des Schalldämpfers ihren Mund berührte. Er sah in ihre bereits sterbenden Augen.
„Steve, was hast du getan?“ flüsterte Hanna jetzt vollkommen entspannt. Sie sah sich unter einer warmen Dusche stehen, in der rotes, dickflüssiges Wasser angenehm über ihre Augen und ihren Körper lief.
„Steve ist beim Squash“, sagte er, „das heißt, er hat ein Alibi, Liebes.“
„Alibi?“ hüstelte Hanna.
„Die Polizei kann Steve nichts anhaben. Er hat mir zehntausend Euro gegeben. Mein Auftrag warst Du.“, grinste er und drückte dabei behutsam ihre Augenlider zu.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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Und Steve stieg - ohne sich noch einmal umzublicken - in sein Auto, das vor dem Haus parkte, gab Gas und fuhr heute wie gestern seinen unbearbeiteten Versicherungspolicen entgegen.
Nachdenklich sah Hanna ihm hinterher; dabei strich sie sich durch die ergraute Landschaft ihrer Haare.
Beim Abräumen des Küchentisches blieb ihr Blick an dem alten Familienfoto an der Wand hängen. Wie frisch sie aussah! Neben ihrer Mutter strahlte ihre Jugend nur so aus dem Bild heraus.
„Heute sehe ich aus wie meine Mutter damals“, dachte sie traurig.
Mehr als zwanzig Jahre waren seither vergangen. Was hatte sie während der ganzen Zeit getan? Hanna konnte sich kaum noch erinnern.
„Ich habe das alles satt“, verriet sie dem Foto.
Satt war vielleicht nicht das richtige Wort. Sie war hungrig. Hungrig nach einem begehrenden Blick, nach Anerkennung und verspielter, unschuldiger Liebe. Hanna sehnte sich die naive Frische ihrer Jugend zurück.
Am Nachmittag hielt sie es in der Wohnung nicht mehr aus. Die einfallenden Sonnenstrahlen und eine drängende, warme Sehnsucht überzeugten sie auszugehen.
Entschlossen schob Hanna die Bügel mit ihren Kleidern im Schlafzimmerschrank hin und her, nahm schließlich ein schönes buntes Sommerkleid heraus, hielt es an und zwängte sich – beobachtet von den Grimassen ihres Spiegelbildes – hinein. Wann hatte sie dieses Kleid das letzte Mal getragen? Mit Mühe und eingezogenem Bauch gelang es ihr den Reißverschluss zu schließen.
„Das Kleid ist eingelaufen!“, erklärte sie entschuldigend ihrem Spiegelbild, welches unversöhnlich zurückblickte.
Beengt atmend zog sie ihre Jacke über, nahm Handtasche und Sonnenbrille von der Kommode und verließ das Haus in Richtung Innenstadt.
***
Hanna schlenderte durch die Fußgängerzone und beobachtete die an ihr vorbeirauschenden Menschen mit ihren Einkaufstüten und ihrer Eile. Ein Junge schrie zu seiner Mutter empor. Sein Schokoladeneis zerlief zwischen seinen Füßen auf den warmen Gehwegplatten. Hanna hatte Mitleid mit dem kleinen Kerl.
Wie gerne hätte sie eigene Kinder gehabt.
Beiläufig ließ sie ihre Blicke über die Angebote in den Schaufenstern schweifen und betrachtete ziellos die Auslagen der Stände der fliegenden Händler, die Gesichter in den Cafés.
Unvermittelt blieb sie stehen. Etwas hatte ihre vor sich hin plätschernden Gedanken ins Stolpern gebracht.
„Steve? Das ist doch Steve?“, dachte sie. Um diese Zeit sollte er auf der Arbeit sein.
„Was macht er hier in diesem Café?“.
Hanna war plötzlich hellwach. Sie spürte eine Klarheit, wie seit Jahren nicht mehr. Fast war sie froh, dass ihr Mann in der Lage zu sein schien mit seinen Gewohnheiten zu brechen und etwas für sie Unerwartetes zu tun. Mit frischer Aufmerksamkeit nahm sie die Bilder der Umgebung schärfer und farbiger wahr.
Oder sollte es etwa bedeuten, dass er wieder fremd ging? Traf er sich hier heimlich mit einer anderen Frau? Eine Hitzewelle, nicht nur der Wut, durchflutete ihren Körper. Hanna musste ihre Jacke ausziehen.
Hatte er sie bereits bemerkt?
Plötzlich klingelte ihr Handy. Mit schweißnassen Fingern fischte sie es aus der Jackentasche heraus.
„Hallo? - Steve?“
„Du kommst heute Abend später nach Hause?“
„Zum Squash? Ok, bis dann.“
Hanna legte auf und starrte verwirrt auf das Handy in ihrer Hand, dann wieder durch das Fenster ins Café. Steve saß allein an seinem Tisch und sah zum Glück nicht in ihre Richtung. Er hatte während ihres Telefonats gesprochen, das hatte sie sehen können, aber ohne ein Handy am Ohr. „Wie kann das sein? Benutzt er vielleicht ein Headset?“, überlegte sie.
„Nein, das ist nicht Steve! Es klang wie immer, wenn er mich von seinem Büro aus anruft“, ging es ihr durch den Kopf.
Mit der Nase fast an der Fensterscheibe versuchte Hanna nun ihre Position zu verbessern, um an dem voll behängten Kleiderständer vorbeisehen zu können.
„Das darf nicht wahr sein, er flirtet mit der Kellnerin. Hat er denn nichts Besseres zu tun?“, empörte sie sich im leisen Selbstgespräch.
„Er sieht Steve so ähnlich, ich könnte schwören, dass er es ist“.
Hanna tigerte unruhig zwischen den Tischen, Stühlen und den Sonnenschirmen vor dem Café hin und her.
„Vielleicht sein Zwillingsbruder?“, murmelte sie. „Seit wann hat Steve einen Zwillingsbruder? Was mach’ ich nur? Ich muss da hinein. Ich muss ihn kennenlernen.“
Die Leute blickten sie bereits fragend an.
„Aber ich kann mich da drinnen doch nicht einfach an seinen Tisch setzen und sagen ‚Hallo hier bin ich! Willst du mit mir schlafen?’“. Hanna erschrak ein wenig über ihre forschen Gedanken. So kannte sie sich gar nicht.
„Ich habe nichts zu verlieren“, gab sie sich einen Ruck, machte sich gerade und ging hinein.
So entschlossen ihr erster Schritt auch gewesen sein mochte, so unsicher war sie sich jetzt über den zweiten. Sie war verschwitzt und hatte nicht geprüft, wie sie aussah.
„Habe ich noch Zeit mich frisch zu machen? Was ist, wenn er in der Zwischenzeit das Café verlässt?“, überlegte sie aufgeregt und schaute unauffällig zu seinem Tisch. Die Kellnerin brachte ihm gerade ein Stück Kuchen. „Das passt“, dachte Hanna. Er würde noch ein paar Minuten mit seinem Stück Torte beschäftigt sein.
In dem engen Waschraum kramte sie einen alten Eyeliner aus den Tiefen ihrer Handtasche, der zum Glück noch zu gebrauchen war und begann sich zu schminken. Ein Haargummi musste auch noch irgendwo sein. „Geht doch“, lächelte Hanna in den Spiegel. Dann fiel ihr Blick auf die dunklen Schweißränder, die sich unter den Achseln auf ihrem Kleid abzeichneten. Sie seufzte und zog ihre Jacke wieder über. So geht es.
Hannas Herz klopfte, wie damals bei ihrem allerersten Treffen mit Steve. Sie hatte Angst gehabt, er könne sie nicht hübsch finden und sie würde alles vermasseln, stottern, ihm den Kaffee über die Hose schütten, dummes Zeug reden. Aber sie hatte es damals nicht getan und sie würde es auch heute nicht tun! Hannas Augen leuchteten, als sie die Toilette verließ und direkt auf den Tisch zuging, an dem Steve, in seine Tageszeitung vertieft, saß.
„Verzeihung, ist bei Ihnen noch frei?“
Der Mann schaute auf, lächelte und rückte ein wenig zur Seite. Ein guter Anfang dachte sie, er hat mich angelächelt.
Hanna nahm die Speisekarte.
„Darf ich Sie etwas fragen? Sie hatten doch die Schwarzwälderkirschtorte. Ist sie zu empfehlen?“
Der Mann lugte hinter seiner Zeitung hervor.
„Ja“, sagte er.
„Wunderbar. Dann nehme ich ein Stück Schwarzwälderkirsch und einen Espresso“, bestellte Hanna bei der Kellnerin und wandte sich ihm sofort wieder zu. „Wissen Sie meine Großmutter hat die Torte früher immer selbst gebacken. Und sie schmeckte auch immer fantastisch!“.
„Wirklich?“, antwortete er, als redete er mit seiner Zeitung.
„Treffer“, dachte Hanna, „er interessiert sich für das, was ich sage.“
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er Kaffee aus seinem Kännchen nachschenkte und Zucker dazu gab, umrührte und dann den Löffel auf dem Rand der Tasse sanft abklopfte. Hanna musste grinsen. Genauso genüsslich hatte es auch ihr Steve früher getan, wenn sie gemeinsam ausgegangen waren. Dann hatte er einen kleinen Schluck genommen, gelächelt und dabei wie zufällig eine Hand unter dem Tisch auf ihr nacktes Bein gelegt. Hanna konnte seine Hand jetzt förmlich in ihrem Schoß spüren.
„Was für ein Mann!“
Sie legte ihre Hände zwischen ihre Beine und schloss für eine Sekunde die Augen.
„Steve…“, seufzte sie leise.
Hanna bemerkte, wie er sie über den Rand seiner Zeitung fragend ansah. Ihre Hände zuckten zurück auf den Tisch, und ein Schwall warmen Blutes schoss ihr ins Gesicht. „Ob er es sexy findet, wenn ich rot werde?“, dachte sie und versuchte ihre Unsicherheit unter Kontrolle zu bringen.
„Kommen sie öfter hierher?“, fragte Hanna.
Ehe er antwortete, faltete er die Zeitung sorgfältig zusammen und sah sie jetzt einen Moment lang musternd an. Er wirkte überrascht.
„Ja und Nein“, sagte er dann ruhig. „Ich bin nur noch ein paar Tage in der Stadt. Ich habe einen Auftrag zu erledigen. Danach bin ich wieder weg.“
Hanna spürte ein Zucken um die Augenwinkel. Da saß er nun vor ihr, sah sie an, sprach mit ihr! Und hatte er ihr nicht gerade signalisiert, dass sie sich wiedersehen könnten?
„Lächeln Hanna!“, rief sie sich stumm zu. Damals hatte sich Steve in ihr hübsches Lächeln verliebt.
„Was haben Sie denn zu erledigen? Auftrag, das klingt so geheimnisvoll“, strahlte sie ihn an und zeigte ihre immer noch schönen, aufgehellten Zähne.
Er lehnte sich nachdenklich zurück.
„Das möchten sie nicht wirklich wissen“, sagte er und blickte ihr direkt in die Augen.
Schließlich nahm er einen Stift aus seinem Jackett und notierte etwas auf der vor ihm liegenden roten Serviette. Dann schob er diese langsam über den Tisch zu ihr hinüber, wobei er sich ein wenig in ihre Richtung vorbeugte. Hanna sog den Duft seines Aftershaves ein.
Es war nicht der Duft, den Steve trug, wenn er am Wochenende zu Hause war und auch nicht der, den er in der Woche benutzte, wenn er abends länger arbeiten musste. Nein, es war ein völlig neuer Duft. Ein Duft, der sie jetzt in seinen Bann schlug. Ihre Hände berührten sich flüchtig, aber für Hanna war es wie ein elektrischer Schlag, der ihr Herz hüpfen ließ.
Sie hielt die Serviette dicht vor ihre Augen. Ohne ihre Lesebrille hatte sie Mühe seine kleine Schrift zu entziffern.
„Wie bitte? Sie planen einen…“.
Hannas Hände begannen vor Aufregung zu zittern und knüllten das Papier rasch zusammen, um das Wort Bankraub vor den Blicken anderer zu verbergen.
Sofort tauchten Gedankenbilder von Autos mit quietschenden Reifen, Pistolenschüssen und Koffer voller Geld in ihr auf. „Ich könnte ihm helfen. Wir würden gemeinsam ins Ausland fliehen und das ganze Geld in einem Leben voller Luxus gemeinsam verprassen“, ein ganzer Kinofilm im Bruchteil einer Sekunde.
Unbeeindruckt bat er um Entschuldigung. „Ich habe noch einiges vorzubereiten“, sagte er, stand auf und verließ mit sehr kontrolliert wirkenden Bewegungen, ohne sich noch einmal umzublicken, das Café.
Perplex, wie vom Donner gerührt blieb Hanna auf ihrem Stuhl sitzen und sah ihm mit offenem Mund nach. Was für eine Dreistigkeit! Was für eine Kaltschnäuzigkeit! Was für einen starken Willen musste dieser Mann haben?
Hanna wollte ihm noch etwas hinterher rufen, irgendetwas mit Witz und Geist, das ihn genauso überraschen sollte, wie er sie gerade überrascht hatte, aber sie blieb sprachlos wie versteinert sitzen, jetzt mit einem abwesenden Glanz im Gesicht und klopfendem Herzen, genau wie damals.
Hanna winkte der Kellnerin, zahlte mit etwas Trinkgeld ihre Bestellung und machte sich auf den Heimweg. Die Schatten waren jetzt länger und die Abendsonne nur noch hinter den hohen Fassenden der Kaufmannshäuser zu erahnen. Im Gehen telefonierte sie mit ihrem Friseursalon und vereinbarte für den folgenden Vormittag einen Termin.
Gedanken wirbelten weiter in ihrem Kopf und verdichteten sich zu farbenprächtigen Fantasien. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Könnte sie mit dem neuen Steve noch einmal von vorn beginnen? Mit ihm zusammen ihre Wünsche - auch die heimlichen - erfüllen und Abenteuer erleben?
Morgen würde sie ihn wieder treffen und den Bankraub bis ins Detail hinein planen, gemeinsam etwas essen, etwas trinken und danach...
Auf dieses „danach“ kam es ihr an. Sie wollte endlich wieder einen Steve im Bett haben, der sie stürmisch, verspielt, voller Begierde liebte. Es wäre wieder wie früher.
Damals hatten sie Spaß gehabt und Steve war witzig und verspielt. Hanna erinnerte sich, als sie sich einmal auszogen, venezianische Karnevalsmasken aufsetzten und sich dann liebten und dabei und danach von Herzen lachten.
***
Vor ihrer Wohnung angekommen durchwühlte Hanna ihre Handtasche nach dem Schlüssel und bemerkte, dass das Licht in der Küche brannte. Als sie ging brannte es nicht, da war sie sich ganz sicher.
„Steve? - bist du zu Hause?“, rief sie in den Flur.
Hanna hängte verunsichert ihren Mantel an die Garderobe und stellte ihre Handtasche auf der Kommode ab. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen, stützte sich mit der linken Hand und massierte mit der anderen einen ihrer schmerzenden Füße. Dabei sah sie nachdenklich in Richtung Wohnzimmer.
„Warum antwortet er nicht?“, überlegte sie.
Hatte sich eben hinter dem Milchglas der Stubentür etwas bewegt?
Von der Tür wie magisch angezogen ging Hanna barfuß über die kalten Fliesen des Flures. Sie stieß aus Versehen gegen ihre Schuhe. Und diese schlidderten - wie von Geisterhand bewegt - über den glatten Boden. Weg von Hanna, gerade so als hätten sie Angst vor ihr.
Für einen kurzen Moment hielt sie inne und horchte in die unheimliche Stille.
Dann öffnete Hanna die Tür zur Stube und ging vorsichtig in das Wohnzimmer. Es saß jemand mit dem Rücken zu ihr im Sessel.
„Hallo?“ sagte sie und ging langsam um den Stuhl herum.
„Steve! Willst du mir Angst machen?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Warum antwortest du dann nicht? Und wieso bist du schon zu Hause?“
„Wo sollte ich sonst sein?“
„Du hast mich doch angerufen und gesagt, dass du heute später kommen würdest. Deshalb habe ich mir Zeit gelassen.“
„Und warst in der Stadt Bummeln?“
„Wie kommst du darauf?“
„Und im Café einen Espresso trinken?“
„Warte mal“, sagte Hanna und zeigte mit zittriger Hand auf ihn.
„Warst du vorhin etwa in dem Café? Hast du ein Spiel mit mir getrieben?“ fragte Hanna mit verzerrtem Gesicht.
„Das war ein Zufall“, antwortete er.
„Was ist denn los? - Steve? Und wieso trägst du überhaupt Handschuhe? Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles in Ordnung“.
„Du bist nicht Steve! Wer bist du?“
„Was glaubst du? Dein Märchenprinz? Wenn das mein Bruder hören könnte!“
„Steve hat mir nie von einem Zwillingsbruder erzählt“, sagte Hanna und fühlte ihren Blick wie durch Scheuklappen auf diesen Mann fixiert.
„Er spricht nicht gerne über mich.“
„Wie bist du überhaupt hier herein gekommen?“ Hannas Herz pumpte jetzt unter Höchstlast Blut durch ihre Adern.
„Du hast mich gerade bei einem Einbruch überrascht.“
„Einbruch? - Was redest du?“
In diesem Moment richtete er eine Pistole mit Schalldämpfer auf sie. Hanna wollte es nicht glauben. Den plötzlichen Lichtblitz des Mündungsfeuers konnte sie noch sehen und spürte unmittelbar den heftigen Stoß in ihrer Brust, der ihren Oberkörper ruckartig nach vorn warf. Aber sie fühlte keinen Schmerz. Es war als ob all ihre Energie langsam aus ihr heraus gesogen wurde und sich im flauschigen Teppich zu ihren Füssen verteilte.
Hanna hielt sich noch für einen Moment zusammengekrampft, leicht schwankend auf den Beinen. Dann knickte sie weg und fiel - wie in Zeitlupe - rücklings auf den Glastisch. Unmerklich zuckend blieb sie in den schneidenden Scherben liegen.
Er beugte sich über sie, wobei das heiße Metall des Schalldämpfers ihren Mund berührte. Er sah in ihre bereits sterbenden Augen.
„Steve, was hast du getan?“ flüsterte Hanna jetzt vollkommen entspannt. Sie sah sich unter einer warmen Dusche stehen, in der rotes, dickflüssiges Wasser angenehm über ihre Augen und ihren Körper lief.
„Steve ist beim Squash“, sagte er, „das heißt, er hat ein Alibi, Liebes.“
„Alibi?“ hüstelte Hanna.
„Die Polizei kann Steve nichts anhaben. Er hat mir zehntausend Euro gegeben. Mein Auftrag warst Du.“, grinste er und drückte dabei behutsam ihre Augenlider zu.
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