Der ockerfarbene Briefumschlag mit frankiertem Behördenabsender auf den Küchentisch verhieß schon nichts Gutes. Doch bevor mir mein preisgekröntes Kopfkino wieder neue Kurzfilme zum Thema „Liebesgrüße aus dem Einwohnermeldeamt“ präsentierte, schlitzte ich den Umschlag lieber auf, um folgenden Text lesen zu müssen:
„Sehr geehrter Herr Schulze, Ihnen wird vorgeworfen, am 11.11.11 und 11:11 Uhr in Köln, Düsseldorfer Straße 111 als Führer des PKW mit dem Kennzeichen HH – MS 1980 folgende Ordnungswidrigkeiten begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften (nach Toleranzabzug) um 35 km/h. Nachdem Sie die Beamten der Verkehrspolizei Köln auch nach wiederholter Aufforderung über Lichtsignal und Lautsprecher nicht dazu bewegen konnten, ihren PKW unverzüglich am Fahrbahnrand anzuhalten, musste mit Hilfe eines zweiten Streifenfahrzeugs die Verfolgung aufgenommen werden. (…)“
Und einen Absatz tiefer: „Bei der anschließenden Alkoholkontrolle wurde ein für die Fahrzeugführung unzulässiger Wert von 2,0 Promille festgestellt. Die mitgeführten Fahrzeugpapiere und der Führerschein wurden umgehend beschlagnahmt. Zur Wiedererlangung Ihrer Fahrerlaubnis nach § 48 Absatz VI. StVO der Bundesrepublik Deutschland werden Sie dazu aufgefordert, sich innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Zustellung dieses Schreibens bei einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) und einer Fahrschulung mit anschließender Fahreignungsprüfung anzumelden. Mit freundlichen Grüßen, Koslowski.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter vermutlich an die Verladeluke einer Autofähre erinnert hätte, stand ich für Minuten paralysiert vor dem Stück Papier und verfolgte immer wieder die surreale Buchstabenreihenfolge, um mich zu vergewissern, ob das Ganze nicht nur der Karnevalsscherz eines frustrierten Papierstapelkantenklopfers aus der rechtsrheinischen Verwaltungsvorhölle war?! Tatsächlich war ich vor ein paar Tagen in Köln von einer routinemäßigen Polizeikontrolle angehalten worden, aber an einen derartigen Sachverhalt konnte ich mich bis heute nicht erinnern. Obgleich ich nicht wusste, wie stark mein Alkoholpegel nach einigen Gläschen Kölsch hätte gewesen sein können, wenn man mich hätte pusten lassen?!
Drei Tage später – Nein, es war weder ein Traum, noch ein Irrtum, geschweige denn ein Karnevalsscherz. Die für Verkehrsdelikte zuständige Auskunft hatte das Schreiben nach Anfrage am Telefon in folgendem O-Ton bestätigt:
„Ja, sicher. Was denken Sie denn, was wir hier den ganzen Tag machen? Postkarten versenden, Liebesgedichte schreiben oder Glückskekse eintüten?! Da trommelt doch die Hähnchenkeule auf der Biotonne herum! Seitdem wir nicht mehr Behördenauskunft, sondern Info-Center heißen, werden Ihre Anfragen auch immer bekloppter!“
Nach dem abrupten Ende des Telefongesprächs erinnerte ich mich wieder an ein Zitat meines anonymen Online-Coachs von www.das-leben-ist-kein-ponyhof.de: „Egal was Ihnen widerfährt! Bleiben Sie in Interaktion mit den handelnden Akteuren stets kooperativ und versuchen Sie über einen konstruktiven Lösungsansatz das Bestmögliche aus Ihrer suboptimalen Situation herauszuholen!“
Eine Woche später – Das Leben war weder ein Ponyhof noch ein Pilgerpfad und deshalb hatte ich mich nicht für den „Gang nach Canossa“, sondern für die „Fahrt nach PKW-Zulassungsstelle“ in Hamburg entschieden, um dort die Termine der nächsten MPU zu erhalten. Beiläufig wurde mir mitgeteilt, dass die Behörde bereits einen Fahrlehrer gefunden hätte, der sich schnell bereiterklärt hatte, mich in meiner schwierigen Situation unterstützen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch an nichts Schlimmes und war neugierig, wer sich denn als freiwilliger Helfer so uneigennützig zur Verfügung gestellt hatte?! Derartig spontane Nächstenliebe in einer von Egoismus und Narzissmus geprägten Gesellschaft hatte ich persönlich – zumindest in diesem Leben – nicht mehr erwartet.
Als ich auf dem Behördenformular dann aber den Namen des Fahrlehrers las, konnte ich auf den ersten Blick nichts damit anfangen. Bis mir auf den zweiten Blick wieder bewusst wurde, dass ich diesen Namen nicht zum ersten Mal in meinem Leben gelesen hatte: Volker Rachow – Spitzname „Rowdy“ – war laut Eigenwerbung „der tollkühne Teufelskerl von Deutschlands lustigster Fahrschule“, der mich schon vor der ersten Fahrstunde mit dem Kennzeichen „ROW – DY – 6666“ irritiert und danach mit seiner „Transatlantischen Straßenverkehrskulturkampftheorie“ an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Demnach hatte der Amerikaner nur deshalb noch nie einen Formel-Eins-Weltmeister hervorgebracht, weil er wegen des kupplungsfreien Autofahrens mit Automatikgetriebe pausenlos am Pommeskauen, Burgerverdauen und Strohhalmsaugen war und keine Zeit mehr hatte, um sich auf das Autofahren zu konzentrieren. Während der Europäer spätestens ab der zweiten Fahrstunde wusste, in welchem Kurvenradius man ein Schlangenlinienüberholmanöver durchführte und bei welcher exakten Drehzahl man vom dritten in den vierten Gang schalten musste, um den optimalen Beschleunigungseffekt zu erzielen.
Zwar hatte ich auch ohne Schlangenlinientechnik und Beschleunigungseffekt irgendwann einmal Autofahren gelernt, doch selbst 15 Jahre nach meiner letzten Fahrstunde wurden beim Echo von Rowdys Namen Erinnerungen an eine Zeit lebendig, die meine damaligen Schulfreunde am liebsten unter folgender BILD Schlagzeile inklusive Titelseiten-Dreizeiler veröffentlicht hätten: „Reife(n)prüfung auf der Überholspur – Nach 86 Fahrstunden und zahlreichen Vorfahrt-Irrtümern, Hupkonzerten, Stoßstangenkratzern, Beinahe-Unfällen, Wutausbrüchen und angedrohten Suizidversuchen hatte nun auch Matthias Schulze erfolgreich die Fahrprüfung bestanden!“
Zwei Wochen später – Fünfhundert Meter lagen noch zwischen ihm und mir. Fünfhundert Meter bis ich „Rowdys Fahrschule“ wieder betreten und aus Volker wieder Rowdy werden würde. Wegstrecke genug, um das zweite Aufeinandertreffen nach 15 Jahren schon mal vorab in Szene setzen zu können. Weitere 90 Minuten Fahrschulung auf drei Quadratmetern Fahrgastraum – die man auch als Faradayschen Käfig bezeichnete, weil exogene Prozesse nicht eindringen und endogene Prozesse nicht ausbrechen konnten – würden folgen, bis ich den ersten meiner vier geplanten Urlaubstage bei einem Feierabendbierchen getrost ad acta legen konnte.
Doch dazwischen lagen mehrere große, wenn nicht gar riesige Fragezeichen: Wie würde Rowdy heute aussehen und welche Art von „guter Laune“ würde er haben? Ich konnte mich da an drei verschiedene Aggregatszustände seiner guten Laune erinnern. Erstens: Die ehrliche und freundliche gute Laune, bei der man kurzfristig nichts Bösartiges zu befürchten hatte, die aber so gut wie nie vorkam. Zweitens: Die künstlich inszenierte gute Laune, die sich mittelfristig – vor allem bei kleineren Fahrflüchtigkeitsfehlern – in ein verdammt unfreundliches Kontrastprogramm verwandeln konnte. Und drittens: Die ironisch-zynische gute Laune, bei der man auch langfristig nie ganz sicher war, ob er überhaupt gute Laune hatte oder mit Sprüchen wie „Wenn Du noch einmal so eine Hausfrauenkurve fährst, dann häng ich Deinen Sack an der nächsten Ampel auf!“ seine schlechte Laune überspielen wollte.
Fünfhundert Meter später – Pausbacken, Grauhaarkranz und Kugelplauze wären drei Merkmale gewesen, die ich in einem TV-Quiz zum Thema „Wie sieht der Rowdy von heute aus?“ aus einem Antwortkatalog mit vier Vorgaben hätte nennen können. Außerdem wäre ich vielleicht auf den ausgestreckten Unterarm gekommen, den mir Rowdy entgegenstreckte und der mich an „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo erinnerte, obwohl Rowdy Adams körperliche Ästhetik nur schwer nachahmen konnte. Trotz der fehlenden Ästhetik zogen sich Rowdys Mundwinkel bösartig in die Breite, um seine frisch geputzten Zähne zu präsentieren und mir gleichzeitig sagen zu können: „Moin! Na, das passt ja wie die Faust aufs Auge. Dann können wir gleich mal loslegen mit der Fahrstunde, was?!“ Obwohl er womöglich viel lieber „Na, Du alte Kackwurst! Siehst ja ganz schön scheiße aus! Mein lieber Herr Toilettenwart, nun bist Du schon so alt geworden und kannst immer noch nicht richtig Auto fahren. Mal gucken, ob ich Dir den ganzen Dünnschiss heute aus dem Gehirn schreien kann?!“ gesagt hätte.
Als ich dann meinen Arm mit hängender Hand ausfuhr, um an seinen Arm mit angewinkelter Hand andocken zu können, bemerkte ich, dass mein schlaffes Händchen durch seinen festen Händedruck sofort zum Zurückdrücken genötigt worden war, damit er nicht das Gefühl bekam, abgestorbenes Muskelgewebe anfassen zu müssen.
Nach 10 Minuten – Rowdy alias Volker bzw. Volker alias Rowdy war offenbar immer noch der alte Volkswagen-Fan, doch statt des damaligen Heckscheibenaufklebers „Rowdys rasante Rumpelkarre!“ war nun der Slogan „VW – Volkers Wagen!“ zu lesen. Das war dann aber auch schon die einzige Besonderheit, die Volkers Fahrschulauto von anderen VW Fahrschulwagen unterschied, wobei er damals einen Golf 4 hatte fahren lassen und mittlerweile zum Golf 8 gewechselt war. Ohnehin hatte ich das Gefühl, dass 95% aller Fahrschulen in Deutschland einen Rabattvertrag mit Volkswagen abgeschlossen hatten, um für die nächste Fahrschulsaison wieder das neueste Golf-Modell der aktuellen Golf-Generation zu erhalten. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach 20 Minuten – Wir waren schon eine Weile auf der Hauptstraße unterwegs, die frontal gen Osten ging und in wellenförmigen Bewegungen den Horizont touchierte. Dabei ging es immer geradeaus, da die Straße auf den nächsten Kilometern so zugeschnitten war, dass es links und rechts von Ihr kein Entkommen gab. Entweder durfte man nicht abbiegen, weil es keine Abbiegespur gab oder man konnte nicht abbiegen, weil es einfach keine Seitenstraße gab, auf die man hätte abbiegen können. Rowdys spezielle Aura hatte mittlerweile den ganzen Fahrgastraum eingenommen und ich fühlte mich wie im zuvor beschriebenen Faradayschen Käfig, aus dem es auch für mich – mangels Schleudersitz mit TÜV-Zulassung – kein Entkommen mehr gab. Ein nervöses Kribbeln erfasste meine Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten. Von vorne glotzten mich die großen Augen von Tachometer, Drehzahlmesser und Tankanzeige an, während Rowdy von der Seite irritierende Grummelgeräusche von sich gab und ich aus lauter Nervosität immer wieder den knüppeldicken Joystick bediente, der in so manch abgefahrenem Erotikfilm sicherlich eine Hauptrolle hätte spielen können. Ganz nebenbei nickten unter der Windschutzscheibe zwei Wackeldackel, als ob sie mir mit ihren Murmelaugknöpfen signalisieren wollten, dass ich bis jetzt eigentlich alles richtig gemacht hatte.
Nach 30 Minuten – „So, da ich jetzt ja gesehen hab, dass Du eigentlich ganz gut Autofahren kannst, wollen wir nun doch mal testen, was noch so in Dir steckt, nicht wahr?!“ meinte Rowdy mit künstlich inszeniertem Grinsen, während die Ampel vor uns auf Rot wechselte und ich das Auto durch stakkatoartige Bremsbewegungen zum Stehen brachte. Ich nickte im gleichen Takt wie die Wackeldackel, bevor Rowdys Grinsen allmählich breiter wurde und er sein Fahrschulkonzept der nächsten zwei Stunden erläuterte: „Erstmal wollen wir auf der B-431 zügig von Schenefeld nach Wedel kommen, ohne dabei die Navigation zu benutzen. Anschließend fahren wir einfach mal querfeldein durch alle Wohn- und Gewerbegebiete, dann kannst Du Dein Können im Kreisverkehr unter Beweis stellen und wenn zum Schluss etwas Zeit übrig bleibt, habe ich noch eine ganz besondere Aufgabe für Dich!“
Bevor die Ampel wieder auf Grün wechselte, erkundete ich mit dem rechten Fuß noch einmal die Reichweite des Gaspedals und tastete mit dem linken Fuß die Kupplung nach deren Schleifpunkt ab. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Die Ampel sprang von Rot-Gelb auf Grün, ich löste mich von der Kupplung, drückte das Gaspedal durch und wir schossen die vierspurige Bundesstraße längs, immer dem westlichen Horizont und der nun untergehenden Sonne entgegen. Nun konnte ich Rowdy endlich zeigen, was alles in mir steckte! Zunächst wirkte er von meinen Fahrkünsten total begeistert und schaute alle 30 Sekunden auf seine Armbanduhr. Das war für mich das Zeichen die Geschwindigkeit zu erhöhen und auf die linke Überholspur zu wechseln, um keine Zeit an der nächsten roten Ampel zu vergeuden, sondern stattdessen auf der grünen Welle der von Formel-Eins-Rennfahrern getesteten Ampelschaltung in den Sonnenuntergang zu surfen.
Nach 40 Minuten – Unsere Geschwindigkeit erhöhte sich von 50 auf 60, 70 und dann 80 km/h, nachdem wir bereits alle Ampelgrünphasen mit Bravour gemeistert hatten und noch bevor wir den „Canyon“ passieren würden. Der Canyon war der einzige Schnellstraßenabschnitt im Westen von Hamburg und erstreckte sich wie eine Badewanne unterhalb des historischen Ortskerns. Was ursprünglich als Verkehrsberuhigungsmaßnahme für Anwohner und Naturschützer angelegt worden war, diente nun als Beschleunigungsstreifen für Berufspendler, die vor dem nächsten Business-Meeting noch mal eben schnell die Motorenleistung ihrer Oberklasselimousine testen wollten, um mit gesteigertem Testosteronspiegel ein besseres Verhandlungsergebnis erzielen zu können. Wer hier mit voller Geschwindigkeit durchrauschte und dabei den Schwung seiner grünen Welle nutzte, der konnte mit tödlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er auch die Ampelgrünphase am anderen Ende der Wanne rechtzeitig passieren würde. Vorausgesetzt er beschleunigte auf der Strecke noch einmal auf 140 bis 160 km/h, um dann mit Hilfe der einsetzenden Fliehkräfte über die Ampelkreuzung zu schweben.
Nach 50 Minuten – Es war wie ein Rausch! Mit beschleunigter Geschwindigkeit, stieg auch mein Adrenalinpegel. Ich fühlte mich schon lange nicht mehr so frei, wie in jenem Augenblick als wir mit fast 160 km/h über den Rand des Canyons und die Ampelkreuzung flogen und dabei für Millisekunden die Schwerkraft überwanden, um ein belebendes Kribbeln in der Magen-Darm-Region zu verspüren, welches man auch vom „Point of No Return“ am Steilhang einer Achterbahnfahrt kannte. Auch Rowdy schien äußerst begeistert von der „Freiheit über dem Asphalt“ zu sein, als wir kurz nach dem Abheben wieder den Straßenbelag berührten, um mit vollem Schwung die nächste Aufgabe bewältigen zu können. „Jaaaaa! Super, super! Jetzt können wir aber mal ein wenig vom Gas runtergehen, was?! Denn am Hamburger Ortsausgang steht öfter mal eine Polizeikontrolle!“ meinte Rowdy weit weniger begeistert als ich zuvor gedacht hatte. Doch, dem Formel-Eins-Gott sei Dank, gab es weder am Ausgang von Hamburg, noch am Eingang von Wedel eine Polizeikontrolle, so dass wir mit beschleunigter Geschwindigkeit durchheizen konnten.
Nach einer Stunde – „Erst rechts, dann links, dann wieder rechts und noch mal links!“ lautete Rowdys Anweisung, nachdem ich ihn gefragt hatte, wohin es im Wohn- und Gewerbebiet von Wedel gehen sollte. Ich überlegte nicht lange, ob er mich auf eine Rechts-Links-Schwäche untersuchen wollte, sondern machte dort weiter, wo ich nach dem Canyon aufgehört hatte. Links und rechts ging es genauso flott um die Ecke wie rechts und dann links und deshalb wechselte ich nun immer wieder die Fahrtrichtung, um das intuitive Gefühl für den Golf 8 und seine fahrtechnischen Möglichkeiten zu bekommen. Und wieder rechts und noch mal links und dann wieder rechts, links, rechts, links, rechts. (…) Der Spaß drohte erst aufzuhören als wir nach der schlangenlinienartigen Fortbewegung plötzlich auf einen Kreisverkehr zufuhren. „Um den Kreisverkehr herum!“ kam etwas einsilbig von Rowdys Seite und mittlerweile erkannte ich die Gegend, in der wir nach zahlreichen Richtungswechseln gelandet waren: Es war das Streckenareal, in dem ich vor 15 Jahren meine erste Fahrprüfung ablegen musste. Fast wäre ich damals an einem Stopp-Schild kurz vor dem Kreisverkehr durch die Prüfung gefallen. Doch weil Rowdy den damaligen Fahrprüfer in eine kontroverse Diskussion über die Vor- und Nachteile ostdeutscher Ampelmännchen im westdeutschen Straßenverkehr verwickelt hatte, hatte der wiederum nicht gemerkt, dass ich weit vor der Drei-Sekunden-Warteregel über die Stoppschildmarkierung gefahren war. Aber das war wieder eine andere Geschichte …
Nach über einer Stunde – Irgendwie waren wir immer noch im Kreisverkehr und mir wurde langsam schwindelig, weil ich schon länger nichts mehr von Rowdy gehört hatte und nicht genau wusste, ob ich nun die nächste, die übernächste oder erst die überübernächste Straße rechts abbiegen sollte. Was mir zu Beginn der Kreisverkehrsodyssee noch Spaß gemacht hatte – nämlich das ununterbrochene Herumkreisen um die eigene Verkehrsachse bis die ersten Autofahrer mit Lichthupe, Lauthupe und diversen Mittelfingersignalen verdeutlichen wollten, dass man mal irgendwo abbiegen sollte – war nun etwas langweilig geworden. Und da sich Rowdy nun auch nicht mehr wirklich engagierte, ergriff ich selbst die Initiative und fuhr die überüberübernächste Straße rechts ab, um schließlich festzustellen, dass wir genau dort gelandet waren, von wo wir ursprünglich hergekommen waren.
„Einfach zurück nach Hause!“ kam nach längerer Pause wieder ein erstes Lebenszeichen von Rowdy. Ohne zu knurren richtete ich mich nach seiner Anweisung und fuhr zurück zur Fahrschule. „Immer geradeaus!“ hieß es in unregelmäßigen Abständen vom Beifahrersitz, wobei ich nicht sehen konnte, ob Rowdy noch wach war oder im Halbschlaf seine imaginäre Landkarte verfolgte. Als wir nach längerer Fahrt schließlich den halbbeschrankten Bahnübergang im Wedeler Autal erreichten, vor dem sich seit geraumer Zeit eine unübersichtlich lange Wagenkolonne angesammelt hatte, kam vom herumdösenden Rowdy wieder nur die Anweisung: „Immer geradeaus!“
Ich fragte ihn noch, ob er das jetzt ernst meinen würde und ich die Gegenfahrbahn als Überholspur nutzen sollte, um mich an den Anfang der Wagenkolonne zu drängeln. Da hieß es von Rowdys Seite nur „Ist mir scheißegal! Mir ist schlecht und ich will nach Hause! Also fahr gefälligst geradeaus!“ Gesagt, getan. Obwohl ich nicht genau wusste, weshalb Rowdy urplötzlich so schlecht drauf war – denn eigentlich hatten die letzten eineinhalb Fahrstunden doch irgendwie Spaß gemacht – befolgte ich wieder seine Anweisung und fuhr stur geradeaus.
Wenn dem Rowdy nun wirklich so schlecht war, wie er meinte, dann musste ich jetzt wohl dafür sorgen, dass er demnächst auf irgendeinem Herren-WC ankommen würde, damit er seinen emporkommenden Nachmittagssnack nicht ungewollt auf dem Beifahrersitz verteilte. Ich spürte schon wieder ein nervöses Kribbeln in den Fingerkuppen, während meine Füße eisig wurden und sich auf meiner Stirn langsam kleine Schweißperlen bildeten.
„Jetzt oder nie!“ kam mir in den Sinn als ich das Gaspedal durchdrückte, mit zischenden Lauten an der wartenden Wagenkolonne vorbeirauschte und zugleich den nahenden S-Bahn-Zug sah, der wohl noch ein paar hundert Meter vom Bahnübergang entfernt war, auf dessen schmale Öffnung zwischen den Halbschranken ich nun direkt zusteuerte. Nun war alles möglich! Der Adrenalinkick bestätigte meine Aktion. Nur noch wenige Sekunden lagen zwischen uns, dem Bahnübergang und der anfahrenden S-Bahn als ich auf einmal zu realisieren begann, worum es hier eigentlich genau ging und erst dann anfing zu schreien: „Scheißeeeeee!“ kam es eruptionsartig aus mir heraus und „Scheißeeeeee!“ schallte das Echo kurz danach von der Beifahrerseite (…)
Ich wusste nur noch, dass mir irgendwie schwarz vor Augen geworden war, nachdem ich einen dumpfen Schlag auf dem Hinterkopf gespürt hatte. Danach war alles wie ausgelöscht und meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ich am frühen Morgen des nächsten Tages auf dem Sofa der Fahrschule aufwachte. Die Fahrschulsekretärin hatte unbestimmte Zeit auf mich aufgepasst und mich anschließend mit der Bitte nach Hause geschickt, doch erst in einer Woche wiederzukommen.
Eine Woche später – „Tja, das war wohl doch nicht so ganz die Ausbildung, die wir uns beide vorgestellt hatten, oder?!“ meinte Sören Hinrichsen – Spitzname „Softie“ – der einfühlsamere Fahrlehrerkollege von Rowdy, den ich auch noch von früher kannte und der nach Rowdys krankheitsbedingtem Ausfall meine letzte Fahrstunde und die Fahrprüfung betreuen sollte. Ich nickte wieder im gleichen Takt wie die Wackeldackel, während Softie auf einmal sein Smartphone aus der Handtasche holte. „Dank unserer tollen neuen VW Multimediatechnik können wir im Golf 8 nun alle Fahrstunden aufnehmen, um dass Ganze hinterher mit den Fahrschülern zu besprechen!“ erklärte mir Softie und startete dann einen Film auf seinem Smartphone, der von versteckten Kameraaugen hinter dem Tachometer, Drehzahlmesser und der Tankanzeige des VW Golfs aufgenommen worden war und aus verschiedenen Blickwinkeln die ungeschönte Realität des alltäglichen Fahrunterrichts dokumentieren sollte, wobei der O-Ton von zwei unter den Wackeldackeln installierten Mikrofonen geliefert wurde.
Und als ob das nicht alles schon genug der heimlichen Überwachung gewesen wäre, hatte der phallusartige Joystick aus der Mittelkonsole zusätzliche Daten von der Pulsfrequenz meiner Blutgefäße und der Hautfeuchtigkeit meiner Schweißfinger gespeichert, die nun als bunte Verlaufskurven und Tortendiagramme unterhalb der Videoanzeige zu sehen waren. „So, hier siehst Du nun den Rowdy auf der rechten oder von Dir aus gesehen auf der linken Seite und Dich auf der linken oder rechten … Ja, Du weißt schon, was ich meine, oder?!“ Ich nickte erneut, ohne dabei den Wackeldackel imitieren zu wollen, während mir Softie im melodisch betonten Erklärbärmodus eines Grundschulpädagogen das Video zu erläutern versuchte: „Ja, das siehst Du, wie der Rowdy etwas irritiert ist von Deinem Fahrstil!“ meinte Softie während ich guckte. „Und da drückst Du wohl ordentlich auf die Tube und das gefällt dem Rowdy wohl gar nicht, guck mal!“ meinte Softie mit gerunzelter Stirn und kreisrundem Schmollmund, während ich guckte und er gleichzeitig weiterredete: „Und hier wird dem Rowdy im Kreisverkehr wohl ordentlich schlecht und dann fängt er fast an zu kotzen!“ meinte Softie mit hochgezogenen Stirnwellen und hervorstechender Unterkieferlippe, während ich immer noch guckte. Langsam mussten wir zur entscheidenden Stelle meines Blackouts kommen. „Guck mal, und da drehst Du dann völlig durch und willst plötzlich Selbstmord machen!“
„Nein, das stimmt nicht!“ wehrte ich mich vehement, ohne weiter zu gucken. „Ich wollte den Rowdy nur rechtzeitig nach Hause fahren, bevor er auf den Sitz kotzt!“ Irgendwas wollte ich noch ergänzen, sah dann aber im Film wie Rowdy und ich „Scheiße!“ brüllten und er mir Sekunden später den Erste-Hilfe-Kasten über die Rübe haute, bevor ihm offenbar einfiel, dass er ja genauso gut auf seine Beifahrerbremse hätte treten können.
Für einen Augenblick lang herrschte Stille, denn das Video war zu Ende. Dann fuhr Softie mit seiner Erklärung fort: „Ja, das Ganze hat den Rowdy doch zu sehr an den Fall Koslowski erinnert!“ Erst im zweiten Anlauf meines Gedankengangs meinte ich mich auch an etwas zu erinnern: „Wie bitte? An wen hat ihn das Ganze erinnert?!“
Softie guckte skeptisch, formte wieder den Schmollmund und erklärte: „Na, an den Rüdiger Koslowski – genannt Rudi K. – der mal vor 5 Jahren mit über 40 seinen Führerschein hier gemacht hat und ähnlich komisch drauf war wie Du, obwohl Du ja noch gar keine 40 bist, oder?! Der Rudi war auf jeden Fall über 25 Jahre im Hamburger Polizei-Innendienst beschäftigt und hatte plötzlich keinen Bock mehr auf Aktenzeichen XY eingedöst. Deshalb hat er erst bei uns nach über 90 Fahrstunden den Führerschein gemacht und ist dann mit Sondergenehmigung von Hamburg nach NRW, in den Kölner Außendienst gewechselt.“
Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund, der den neutralen Beobachter … naja, sie wissen schon, saß ich da und lauschte den sich puzzleartig ergänzenden Worten von Softie. „Ja, das war echt ein komischer Typ! Der hielt sich immer für den größten Autofahrer aller Zeiten und bekam ganz schnell Axelschweiß und tollwütigen Mundwinkelschaum, wenn man ihm sagte, dass er etwas nicht konnte oder nicht machen durfte. Deshalb hat mich Rowdy mal um Rat gebeten! Und da meinte ich halt zu ihm, dass ich da neulich von meinem Coach, von diesem komischen Portal … Wie heißt das noch mal?!“
„Das Leben ist kein Ponyhof?!“ ergänzte ich.
„Ja, genau! Dort hatte mir so’n Coach mal auf die Frage geantwortet, wie man sich denn im Servicebereich bei Kunden verhalten sollte, die immer alles besser wissen und keine Grenzen kennen und so?! Und daraufhin meinte der Coach, dass man dem Kunden zunächst immer Recht geben und ihn wie einen König behandeln sollte. Erst wenn der Kundenkönig auch nicht mehr weiter weiß oder mal so richtig auf die Schnauze gefallen ist, dann sollte man ihm fürsorglich unter die Arme greifen. Ja, und das hat sich der Rowdy halt zu Herzen genommen und danach die Fahrschule umgekrempelt. Heißt ja nun auch nicht mehr Rowdys, sondern Volkers Fahrschule!“
Jetzt wurde mir schon Einiges und kurz danach noch Einiges mehr klar. Fehlte eigentlich nur noch die Antwort auf eine allerletzte Frage: „Und was ist aus diesem Koslowski geworden?“
„Den Rudi K. meinst Du?! Ja, von dem hab ich neulich mal wieder was gehört! Der war jahrelang Verkehrspolizist in Köln bis er sich so einen merkwürdigen Karnevalsscherz erlaubt hatte. Ich weiß nicht, worum es genau ging, aber seitdem arbeitet er wohl wieder im Innendienst!“
Lektorat: Thomas Piesbergen
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