Jedes Jahr werden an den Börsen Milliardenwetten auf die Prognosen des Wirtschaftswachstums abgeschlossen und der Erfolg von Regierungen wird daran abgelesen. Die Exporte müssen wachsen, die Zahl der gemeldeten Patente muß wachsen, die Zahl neugegründeter Firmen muß wachsen, damit wir, so scheint es, einer lebenswerten, glückverheissenden und sicheren Zukunft entgegen rollen können.
Damals wie heute werden die Mahner als ideologisch verblendet diffamiert, als sentimentale, realitätsferne Weltverbesserer belächelt, oder man klopft ihnen auf die Schulter, verleiht ihnen einen Preis und geht danach zur Tagesordnung über, damit die Wirtschaft weiter wachsen kann und der Fortschritt weiter fortschreiten kann. (Anders wäre das Verhalten der VW-Stiftung nicht zu erklären, die einerseits Symposien und Veröffentlichungen des Club of Rome unterstützt, andererseits aber nichts tut, um dessen Warnungen gerecht zu werden.)
Daß das, was wir in diesem Zusammenhang unter „Fortschritt“ verstehen, sich auf die technologische und ökonomische Aspekte beschränkt, versteht sich in diesem Kontext von selbst.
Fortschritt sozialer Natur spielt im Rahmen der Wachstumsideologie keine Rolle, sofern er sich nicht in ökonomisch relevanten Zahlen akut und meßbar niederschlägt.
Daß es möglicherweise auch einen Fortschritt, eine Entwicklung im geistigen, seelischen oder spirituellen Bereich geben könnte, davon wird, sofern man sich nicht öffentlich blamieren möchte, in den Kreisen, die unsere Gesellschaft steuern, in der Regel geschwiegen.
In seinem Roman Nostromo von 1904 faßt Joseph Conrad dieses Dilemma der Dominanz ökonomischer Denkmuster prägnant zusammen:
"Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe bei der Entfaltung materieller Interessen. Sie haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind."
In der letzten Eröffnungsrede zu den Arbeiten von Jann Launer fragte mich ein junger Mann im Publikum angesichts eines recht desolaten Bildes der menschlichen Verfassung in der post-industriellen Gesellschaft, das ich im Vortrag zeichnete, wie der Mensch denn überhaupt noch agieren könne, außer sich innerhalb der gegebenen Bahnen zu bewegen.
Hinter dieser Frage verbirgt sich einerseits die große Angst, sich der ernüchternden Bedingtheit des gegenwärtigen Menschseins zu stellen, andererseits ein moralischer Defätismus, der leider ebensoweit verbreitet ist. Der Mensch glaubt sich im Räderwerk der übermächtigen Mechanismen neoliberaler Marktwirtschaft verloren, der ökologischen Katastrophe ausgeliefert, und sozial abhängig von den Funktionsschemata digitaler Kommunikation.
Einen im gleichen Maße prägnanten wie dummen, weil irreführenden Ausdruck für diese Perspektive hat Bundeskanzlerin Angela Merkel geprägt, in dem sie ihre Entscheidungen immer wieder als „alternativlos“ bezeichnet.
Und so erscheint auch vielen die zeitgeistgemäße Haltung alternativlos: Immer am Ball bleiben, immer auf der Höhe der Zeit bleiben, immer in Bewegung bleiben, sich niemals abhängen lassen, und wenn man sich und den Rest der Welt gegen die Wand fährt, sind die Umstände schuld, die uns keine Alternative lassen. Dann ist es Schicksal, Karma.
In dem Objekt Manifest Destiny von Maria Luisa Uth begegnen wir zunächst dem Rad wieder, also der schlichten, mechanischen Konstruktion, die uns seit der Jungsteinzeit in unserem Bestreben, mobil zu sein, stets zu Diensten war, und die als Bestandteil von Motor und Fahrwerk schließlich ihre Krönung in unserer automobilen Wirklichkeit erlebt hat.
Gleichzeitig ist das Rad zum Bedeutungsträger symbolischer Inhalte geworden. Es ist nicht nur das Rad des Fortschritts. Es ist auch das Rad des Wandels, das Rad des Schicksals und im buddhistisch-hinduistischen Zusammenhang, das Bhavachakra, das Symbol für den Kreislauf des Lebens im leidvollen Samsara mit seinen sechs Lebensbereichen, also des Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt, angetrieben durch die Kräfte von Karma und Samskara.
Im Gegensatz zu den farbenprächtigen Darstellungen des Bhavachakras, die man vor allem aus dem tibetischen Buddhismus kennt, wirkt Maria Luisa Uths Manifest Divine durch das kalte Grau und die reine Größe massiv, unabänderlich und eben: alternativlos. Wie ein Ausrufezeichen aus Beton.
Gleichzeitig gewinnt das Objekt durch seine sture Rotation die Anmutung eines Firmenlogos: ein Hinweis auf den Fetisch des Wachstums, den Glauben an den Fortschritt und die Allmacht der Ökonomie.
Diese Aspekte zusammengenommen kann man Lesen als ein Chiffre für den weiter oben erwähnten Defätismus: Die Wirtschaft bleibt immer in Bewegung, sie ist das unabänderliche Gesetz unseres Daseins, aus dem Samsara gibt es kein Entkommen. That´s it!
Maria Luisa Uth, Manifest Destiny, 2014 |
Doch in der Rotation um die senkrechte, nicht die horizontale Achse, die eine „sinnvolle“ also voranstrebende Bewegung ermöglichen würde, sehen wir den Glauben an das ewige Fortschreiten bereits gebrochen. Das Rad kreist um sich selbst und kommt nicht vom Fleck. Das, was in unserer Gesellschaft als Fortschritt gilt, taugt nicht dazu, eine tatsächliche Veränderung herbei zu führen.
Hier liegt bereits der Hinweis auf den Ausweg aus dem Samsara verborgen: Er liegt in der unsichtbaren Achse, die nicht im Sinne einer rollenden Fortbewegung in die zweidimendionale Ebene der Horizontalen geneigt ist, sondern aufgerichtet ist in die Vertikale. Um dem leidvollen Samsara zu entkommen, müssen ein Innehalten und ein „Richtungswechsel“ stattfinden, der mit der Logik der weltlichen Horizontalen bricht und den Weg in die spirituelle Vertikale ermöglicht (siehe dazu auch das Jahresthema des Einstellungrsraum e.V. 2012, "Autos fahren keine Treppen"). Dieser „Richtungswechsel“ geht in der Regel auch einher mit einem Wechsel des Vehikels.
Park & Ride.
Aber wie geht es weiter, wenn man den Ausstieg aus dem ewig um sich selbst kreisenden Fortschritt der materiellen Welt wagt? Ist der Mensch überhaupt in der Lage inne zu halten? Oder wirft er sich sofort in die nächste Herausforderung mit derselben Hast, mit der er in der Welt des Wachstums und des Fortschritts agiert? In der Regel folgt er dem Gesetz der Massenträgheit, d.h. seine Bewegung setzt sich fort, lediglich das Ziel hat sich geändert. Er bemüht sich mit dem gleichen Eifer, den er in ergischen Zusammenhängen an den Tag gelegt hat.
Spirituelle Suche als Leistungsschau: Fastenwandern in der Eiffel, geomantische Erlebnisreisen durch Irland, mit dem Mountainbike über den Jakobsweg, auf dem Kamel zu Kraftorten in der Sahara, Pilger-Trekking in Nepal.
Gleichzeitig sieht sich der Mensch aus seinen vertrauten Strukturen gelöst. Seine bisherigen Problemlösungsstrategien sind unwirksam geworden. Er steht auf unbekanntem Terrain einer großen Aufgabe mit ungewissem Ausgang gegenüber. Diese Aufgabe kann nicht nur respekt- sondern auch furchteinflößend sein. Also wappnet er sich. Das kann er einerseits in Esoterikbuchhandlungen und im Schoße entsprechender Seminare tun, er kann es aber auch bei Globetrotter und anderen Outdoor-Ausrüstern, wo er alles findet, um sich auf seinem Selbsterfahrungstrip als Ein-Mann-Kokon der bedrohlichen Welt zu stellen.
Hinweise auf diesen Aufbruch finden wir in dem Objekt To the Mountaintop wieder.
Bereits im Titel trägt es den Imperativ der gestellten Aufgabe, die erinnert an das T-Shirt mit der Aufschrift „Go climb a rock“, das Cpt. James T. Kirk in der Eingangsszene des fünften Star Trek Films trägt, in dem sich die Besatzung des Raumschiffs Enterprise schließlich auf die Reise ins Zentrum des Universums macht, um Gott zu suchen. Auch dort finden wir die unmittelbare Verknüpfung der spirituellen Suche mit dem Aufstieg in die Vertikale.
Maria Luisa Uth, To the Mountain Top, 2014 |
Das Objekt To the Mountaintop besteht aus einem Tragegeschrirr mit den typischen Blitzverschluß-Klickschnallen aus Hartplastik, die bei Outdoor-Equipment allgegenwärtig sind. Doch die ergonomische Gestaltung eines hochgebirgstauglichen Rucksacks fehlt. Das Behältnis, das sich der abenteuerwillige Suchende auf den Rücken schnallt, besteht nicht aus dauerhaftem Nylon oder anderen Kunstfasern, sondern aus einem feinen Seidengespinnst, das kaum gestattet, mehr zu tragen, als die Luft, die es umhüllt.
Im harten Kontrast dazu sind die Gurte des Tragegeschirrs von flachen, schweren Keramikröhren umgeben, die an Rippen und Knochenwirbel erinnern. Sie verweisen nicht nur auf die Körperlichkeit, sondern auch auf die Sterblichkeit des Menschen. Der Seidenkokon auf dem Rücken kann hingegen als etwas Körperloses, Jenseitiges gedeutet werden.
Trägt man ein solches Geschirr auf dem Rücken, merkt man sehr wohl dessen Last, nicht aber, was es eigentlich tragen soll, denn der Kokon ist dem Blick des Trägers entrückt und sein Gewicht nicht spürbar.
Maria Luisa Uth, To the Mountain Top, Detail, 2014 |
Im buddhistischen Zusammenhang könnte man den Kokon deuten als das Unsichtbare, das wir mit uns tragen; als die Summe von Karma und Samskara, die nach dem Ableben des fleischgewordenen Ichs zu einer neuen Inkarnation führen, oder auch als Buddhanatur, die in uns schlummert und darauf wartet, auszuschlüpfen.
Wie auch immer es zu lesen ist, eines wird deutlich: wohin wir uns auch bewegen, ob auf die Zugspitze, den Nanga Parbat, den Kalasch oder den Sülberg, es ändert nichts an der Konstellation, in der wir uns befinden.
Unser Ich, das wir als körperliche Last mit uns herumschleppen, bleibt sterblich und zerbrechlich wie Porzellan. Und wo wir auch hingehen tragen wir immer die Saat des Zukünftigen mit uns.
Auch das dritte Objekt Portable Divine Protection lehnt sich an das Aussehen von Outdoor-Equipment an: ein massives Tragegestell mit den bereits erwähnten Klickschnallen, an dem statt eines Rucksacks sechs Arme befestigt sind, die das Abhayaprada-Mudra zeigen, eine Geste, die für Schutz, Angstlosigkeit und Glückseligkeit steht.
Spätestens hier kommt der Humor ins Spiel, der in der buddhistischen Praxis, vor allem im Zen-Buddhismus, ein wichtiges Lehrmittel ist, um verhärtete Denkstrukturen und Anhaftungen zu durchbrechen.
Das Objekt, die schwere Konstruktion, die impliziert, der Mensch sei schutzbedürftig, spiegelt die Angst wieder, die am Anfang der Suche stehen kann, den Respekt vor der seelischen Herausforderung, die Bemühungen, sich für bevorstehende Aufgabe ausreichend zu wappnen, und die Antizipation, eine beschwerliche Reise auf sich zu nehmen.
Maria Luisa Uth, Portable Divine Protection, 2014 |
Doch zugleich wird klar, wie unmöglich es bereits wäre, mit der Portable Divine Protection auch nur U-Bahn zu fahren, geschweige denn, einen Berg zu besteigen.
Denn die Reise, auf die sich der Suchende macht, ist schließlich keine Reise im geographischen räumlichen Sinn. Die vertikale Bewegung ist keine reale Bewegung, sondern nur Metapher. Der Ort ist irrelevant und das Hilfsmittel wohlmöglich genauso effektiv, wenn man es in seinen eigenen vier Wänden benutzt.
Schließlich verbirgt sich in der bewußt grotesken Gestalt des Hilfsmittels auch der Hinweis, wie wenig es auf Hilfsmittel ankommt.
Alles ist bereits hier. Um aus der ewigen Rotation des Rades zu entkommen, ist es nicht nötig, den höchsten, gefährlichsten oder heiligsten Berg der Welt zu besteigen, ebenso wenig ist es nötig, sich für alle Lebenslagen zu wappnen und stets auf der Hut zu sein.
Vielleicht ist es aber manchmal nötig, diese Aufgaben auf sich zu nehmen, um zu begreifen, daß das, was man braucht und sucht, nicht dort ist, wo man es zunächst vermutet hat, nicht in der schwer bezwingbaren Höhe oder Ferne, sondern schon immer hier gewesen ist, und die Änderung der Richtung, der Wechsel des Vehikels auf eine ganz andere Art, auf einer ganz anderen Ebene stattfindet, als man zunächst geglaubt hat.
Zum Schluß vielleicht noch einen kleinen Ostfriesen-Witz, der in diesem Zusammenhang aber so genauso gut aus einem Zen-Kloster stammen könnte.
Zwei Ostfriesen reisen nach Kenia um dort eine Safari zu machen. Der eine schleppt einen großen Stein mit sich. Der andere fragt ihn, wozu er denn den Stein brauche. Da antwortet der der erste: „Zum Schutz vor Löwen.“
„Willst du die Löwen damit bewerfen?“
„Nein, wenn eine Löwe angreift, lasse ich den Stein fallen. Dann kann ich schneller weglaufen.“
ⓒ Dr. Thomas Piesbergen, April 2014
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