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„Können Sie mich verstehen? Ich bin Ihre Ärztin und werde Sie betreuen. Ich werde Sie jetzt in einen Raum bringen, da kann Ihnen nichts passieren. Wenn Sie gleich wieder vollständig wach sind, kommen Sie erst einmal an. Gewöhnen Sie sich an Ihre neue Umgebung. Ich werde bei Ihnen sein. Gleich auf der anderen Seite der Tür. Machen Sie sich keine Sorgen, hier sind Sie sicher.“
Der Augenblick, wenn ein Patient in unsere Klinik kommt, ist für mich der Wichtigste, Hochwürden. Meist sind sie so verwirrt, dass wir sie zunächst in unseren isolierten Sicherheitsraum bringen, wo sie ohne Einflüsse von außen zur Ruhe kommen können. Über eine Kamera und ein Mikrofon kann ich sie beobachten, ohne sie zu bedrängen. Zunächst schließe ich die Augen und versuche zu hören, wie sie sich fühlen. Atmen sie schwer? Weinen sie? Dann betrachte ich sie und versuche mich in sie hinein zu versetzen.
Als Heinrich eingeliefert wurde, wimmerte er leise vor sich hin. Er kauerte in der Mitte des Raumes, die Hände wie schützend über dem Kopf verschränkt. Sein Blick hüpfte unstet über die Wände und die Tür, als suche er etwas. Scheinbar war das Ergebnis für ihn beruhigend, denn nach einer Weile entspannte er sichtlich und schlief kurz darauf zusammen gekauert ein. Schon bald wurde mir klar, dass Heinrich genau diesen Raum brauchte, denn immer wenn ich ihn hinausbringen wollte, schrie, tobte und weinte er ohne Unterlass. Meine ersten Gespräche mit ihm fanden also in unserer Weichzelle statt.
„Heinrich, wissen Sie warum Sie hier sind?“
„Ja“
„Erinnern Sie sich was Ihnen zugestoßen ist?“
„Heinrich? Was ist Ihnen zugestoßen?“
„Polizei“
„Die Polizei hat Sie hergebracht. Weil es Ihnen schlecht ging?“
„Ja“
„Sind Sie froh hier zu sein?“
„Ja“
„Warum macht Sie das froh?“
„Heinrich, können Sie mir das sagen, warum sie froh sind hier zu sein?“
„Sicher“
„Sie fühlen sich hier sicher. Wovor sind Sie sicher Heinrich?“
„Verraten Sie es mir.“
„Gottes Rache“
Aus Heinrichs Akte ging hervor, dass er 1918 geboren war. Er war jetzt 1979 also 61 Jahre alt. Damit gehörte er zu der Generation, mit der ich nie Frieden geschlossen hatte.
Er war, ein Jahr ehe er zu uns kam, vom Blitz getroffen worden, als er während seiner Arbeit als Elektriker eine Antenne auf dem Dach eines Hauses reparieren wollte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt.
Als ich das las fröstelte ich. Damit hatten wir etwas Entscheidendes gemein. Auch ich hatte einen fürchterlichen Stromschlag überlebt. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn der Strom durch deinen Körper wütet.
Wenn er an der Spitze des Zeigefingers in dich eindringt. Wie zerberstendes Glas, das mit Millionen messerscharfer Kanten deine Adern, Sehnen und Muskeln durchtrennt, gräbt sich der Strom durch jedes einzelne Glied deines Fingers. Sämtliche Muskeln beginnen sofort unkontrollierbar spastisch zu zucken, als versuchten sie den Weg zu versperren. Du beißt dir auf die Zunge, in die Wange und der Schaum vor deinem Mund färbt sich rot. Du willst schreien, willst um Erlösung betteln, aber dein Kiefer ist wie verschweißt und kein Laut kommt über deine verzerrten, blutenden Lippen.
Wenn der Strom durch das Schultergelenk dringt, ist der Schmerz so unerträglich, so blau, so zitternd, dass sich deine Blase entleert und es warm und klebrig an dir hinab läuft. Die Welt wird weiß und das zweischneidige Schwert, das das Mark vom Bein und die Seele vom Geist zu scheiden vermag zerreißt dich gleichermaßen von außen und von innen.
Wenn der Strom durch die Nieren tobt, fragst du dich, für welche Taten Gott dich bestrafen will. Ist es, weil du hochmütig warst und die schwarzen Lackschuhe zur Synagoge anziehen wolltest oder weil du deine Mutter nicht gerettet hast, als sie abgeholt wurde. Du möchtest um Gnade flehen. Aufhören! Aufhören! Bitte, bitte aufhören!
In dem Augenblick, da der Strom in dein Bein eindringt und sich mit der Wärme deines Urins vereinigt, beginnt eine Angst von dir Besitz zu ergreifen. Die abgrundtiefe Angst sterben zu müssen. Obwohl du noch viel zu jung bist, noch ein Kind.
Und wenn nach scheinbar unendlich langer Zeit der Strom dein gequältes Fleisch durch den Fuß wieder verlässt, spürst du, wie dein Geist durch den geöffneten Körper entfliehen will. Du willst ihn festhalten, zum Dableiben bewegen und dann, nach einer Weile ängstlicher Stille, setzt der normale Zeitfluss wieder ein und du erkennst, dass du lebst.
Ja, Hochwürden, ich hatte das Schrecklichste, was Sie sich vorstellen können überlebt, aber entronnen war ich den Folterkammern damit noch nicht.
„Heinrich, wie geht es dir heute?“
„Gut, hier ist es sicher.“
„Das freut mich. Dann möchte ich heute mit dir über die Zeit nach deinem Unfall sprechen. Bist du dafür bereit?“
„Ich weiß es nicht. Wir können es versuchen.“
„Das ist gut. Also ich stelle dir wie immer Fragen und wenn es dir schlecht geht, hören wir einfach auf.“
„Ja“
„Als du nach deinem Unfall aus dem Krankenhaus kamst, Heinrich, was hast du dann gemacht, kannst du dich daran erinnern?“
„Ich ging als erstes in die Bibliothek.“
„Warum hast du das gemacht?“
„Eine Krankenschwester hatte mir von Roy Sullivan erzählt. Ich musste alles über ihn in Erfahrung bringen. Ich musste wissen, wie so etwas passieren konnte und wie ich es verhindern könnte, dass es mir passierte.“
„Sullivan wurde auch von einem Blitz getroffen, richtig?“
„Von einem? 1977 das siebte Mal!“
Könnt Ihr euch vorstellen Hochwürden, wie mich Heinrichs Worte trafen? Ich hatte mich zwar gründlich vorbereitet und von Sullivan gelesen, deshalb war es nicht neu für mich, dass es Menschen gibt, die Blitzschläge überlebt haben und in wenigen, rätselhaften Fällen sogar mehrfach. Aber als ich Heinrichs Stimme diese Worte sagen hörte, holte mich meine Vergangenheit erneut ein und ich zitterte bei der Vorstellung was Sullivan erlitten hatte. Und die schrecklichen Worte, die mich seit über 20 Jahren Nacht für Nacht verfolgen, hallten auch in diesem Augenblick erbarmungslos in mir wieder. „Sie lebt noch. Schließ sie morgen noch mal an. Gleiche Zeit wie heute. Und wasch sie, sie stinkt.“
Ja, sie lebte noch.
Jede Nacht wache ich auf, schweißgebadet, und warte darauf, dass mich wieder jemand, der auch nichts ist, als eine Nummer in dem Zählwerk des Grauens, ein abgemagertes Skelett, so wie ich, von meinem Schlafplatz zerrt. Es dauert immer eine ganze Weile, bis mir bewusst wird, dass ich nicht mehr an dem Ort meiner Alpträume bin. Nie träume ich von meiner Rettung. Meiner Befreiung in jener Nacht, als ich wach lag und jede Sekunde meines Lebens festhalten wollte, als ich alles tat, um die Zeit anzuhalten, es nicht Morgen werden zu lassen, damit ich nicht erneut von meinem Peiniger hingerichtet würde. Nie träume ich von dem Soldaten, der die Tür zu meiner Zelle eintrat, als ob sie aus Sperrholz wäre. Nie von seinen Tränen in den Augen, als er mich ansah und mich auf seinen starken Armen in die kühle Morgenluft trug. Es ist, als ob meine Rettung erst noch erfolgen müsse.
Nie habe ich, Hochwürden, die Ängste eines Patienten besser verstanden als die von Heinrich.
„Hat dir der Gedanke an Sullivan Angst gemacht, Heinrich?“
„Schreckliche Angst. Der Gedanke ein zweites Mal getroffen zu werden, ist schlimmer als der Blitzeinschlag selbst.“
„Was hast du dann unternommen?“
„Ich habe versucht mich dagegen zu schützen. Ich habe Blitzableiter angebracht, habe alle elektrischen Geräte isoliert, habe mir Schutzkleidung angefertigt. Und ich bin nie bei schlechtem Wetter nach draußen gegangen. Selbst bei Sonnenschein konnte ich mich kaum im Freien aufhalten.“
Ja, Hochwürden, auch ich brauchte Schutz, genau wie Heinrich. Dabei haben mir meine Pflegeeltern geholfen, die mich mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgeholt haben, die mir ihren Katholischen Glauben nahe gebracht haben. Zwar konnten sie mir nicht meine Eltern ersetzen und es ist vielleicht nicht recht, dass sie mich in ihrem, nicht in meinem Glauben unterrichtet haben, aber ich bin ihnen auf ewig dankbar, dass sie sich meiner angenommen haben. Mir hat mein Wille geholfen, meinem Leben einen Sinn zu geben, anderen zu helfen. Mein Beruf, bei dem ich lernen konnte, dass Elektroschocktherapie auch etwas Gutes bewirken kann. All das war wie ein Panzer um meine geschundene Seele.
„Fühltest du dich durch deine Schutzmaßnahmen sicherer, Heinrich?“
„Nein. Es half nichts.“
„Warum glaubst du, half es nichts?“
„Weil Gott sich mit dem Teufel verbündet hat.“
„Warum sollte Gott das tun?“
Heinrich senkte seinen Blick zu Boden und schwieg. Dann nach einer Weile hob er den Kopf, der immer wieder nach rechts und links wegrutschte, bis es ihm schließlich gelang mir in die Augen zu schauen. Vorsichtig berührte ich seine zitternde Hand. Er rang nach Worten und ich ließ ihm Zeit.
Wie Ihr wisst Hochwürden, waren meine liebevollen Pflegeltern sehr gläubig und im Laufe der Jahre wurde ihr Gott auch zu meinem Vertrauten. Ich habe gelernt, was Vergebung ist. Der christliche Gott war in meinen Augen gütig, barmherzig und kein Gott der Rache. Ich konnte ihn mir nicht vorstellen als einen, der sich mit dem Teufel verbündete. Trotzdem, mir gefiel der Gedanke, dass Gott sich erzürnen könnte über das Unrecht und das Grauen, das auf dieser Welt geschieht. Und als Heinrichs Worte in der Luft schwangen, wünschte ich mir auf einmal, es wäre wahr. Ich wünschte von tiefstem Herzen Gott würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich und Millionen meiner Brüder und Schwestern zu rächen.
„Weil ich Dinge getan habe“, flüsterte Heinrich, „die Gott nicht mehr ruhig schlafen lassen.“
Seine Worte verursachten mir Übelkeit. Ich versuchte die Gedanken, die von den Lippen eines des Schlafes beraubten Gottes unaufhörlich auf mich einstürmten, zu verdrängen, bis ich mir endlich eingestand, dass ich sie zulassen musste. In jenem Augenblick verstand ich plötzlich, was Gott mir sagen wollte.
Ich fragte mich jede Nacht, Hochwürden, ob ich meinen Peiniger wohl wiedererkennen würde, wenn ich ihm jemals wieder gegenüber stehe. Ich erinnere jedes Detail, jedes Flackern der nackten Glühbirnen, den Geruch des Desinfektionsmittels, nur das Gesicht des Menschen, der mein Leben zerstört hatte, war in meinen Träumen stets verschwommen und verzerrt gewesen. Vielleicht hat aber auch meine kindliche Seele dem Grauen einfach kein Gesicht geben wollen.
„Keine Sorge, Heinrich, wir werden Gott seinen Schlaf zurückgeben.“
Ich wusste jetzt, was notwendig war.
„Liebe Kollegen, ich weiß, dass es sich vielleicht in Ihren Ohren seltsam anhören mag, aber ich möchte vorschlagen es auch in diesem Fall mit der EST zu versuchen.“
Der Chefarzt schaute mich befremdlich an. „Liebe Kollegin, ich weiß ja, dass Sie mit der Anwendung der Elektroschocktherapie bisher beachtliche Erfolge erzielt haben. Aber in diesem Fall wollten wir doch die posttraumatische Belastungsstörung mit Medikamenten behandeln. Ein Stromschlag ist doch genau dass, was der Patient am meisten fürchtet.“
Ich atmete tief durch, ehe ich erwiderte. „Meines Erachtens sind seine Ängsten und Vorstellungen zwanghafter Natur, weshalb mir eine Konfrontationstherapie mit Unterstützung von Medikamenten die Wirkungsvollste scheint. Wir konfrontieren ihn kontrolliert mit seiner Angst, so lernt er, den Stier bei den Hörnern zu packen.“
„Bisher“ ergänzte die Oberschwester, „hat keines der Medikamente auch nur im Geringsten angeschlagen.“
„Ab morgen, mein lieber Heinrich, werden wir eine neue Therapie beginnen. Ich will offen zu dir sein, bisher hatten wir nicht viel Erfolg, deshalb hat der Chefarzt vorgeschlagen außergewöhnliche Wege zu beschreiten. Du musst lernen, dass das, was du fürchtest nicht bedrohlich ist.“
„Ich verstehe nicht, was das bedeutet.“
„Das bedeutet, dass wir morgen mit einer Elektrotherapie beginnen werden.“
Es war, als ob etwas in Heinrichs Kopf „klick“ gemacht hätte. Seine Furcht spiegelte sich in seinen Augen wider. Ich dachte, er würde schreien und toben, und sich mit aller Macht wehren. Doch Heinrichs Kampf spielte sich nur in seinem Inneren ab. Seine Augen wurden glasig, aus seinem Mund kam nur ein Röcheln und es bildeten sich Spuckebläschen auf seinen Lippen. Er zuckte auf seinem Stuhl, als ob er bereits an eines der Geräte angeschlossen sei.
„Du willst doch wieder gesund werden Heinrich, oder? Heinrich, hörst du mir zu? Du willst doch deinen Seelenfrieden wieder finden!“
„Hilfe“
Ich konnte ihn kaum verstehen.
„Ja, ich bin mir auch sicher, dass dir das helfen wird, dann sind wir uns ja einig.“ Ich rief die Schwester, „bitte bringen Sie ihn hinaus. Morgen um diese Zeit können wir dann beginnen. Und waschen Sie ihn noch einmal, er hat sich eingenässt.“
Als ich in dieser Nacht aus meinem Alptraum aufwachte, wusste ich sofort, wo ich war. Eine wundervoll kribbelnde Elektrizität durchflute mich. Ich genoss jede Sekunde davon und lag wach, bis der Morgen dämmerte. Wisst Ihr Hochwürden, dass manche Nächte Flügel haben? Ganz anders als die Nächte, durch die wir uns Schritt für Schritt selbst kämpfen müssen, immer in der Angst in einen der zahlreichen Abgründe zu stürzen, die im Dunkeln auf uns lauern. Eine Nacht mit Flügeln gleitet ganz sanft vorbei und trägt uns mit sich, bis sie uns behutsam auf den ersten Sonnenstrahlen absetzt. Diese Nacht war meine erste Nacht mit Flügeln seit meinem 10. Lebensjahr.
Heinrichs glasige Augen schienen, durch seine fettigen Haarsträhnen hindurch an mir vorbei, einen Punkt auf der Wand zu fixieren. Er saß nahezu regungslos auf seiner Pritsche, bis eine träge summende Fliege seinen Blick kreuzte und er jäh zusammenzuckte.
„Komm Heinrich, gehen wir, wir wollen gleich beginnen.“
Heinrich wehrte sich nicht. Es ließ sich von mir wie eine Marionette führen. Er wirkte, als wäre er bereits nicht mehr Teil dieser Welt. Wie ein Geist, dachte ich und fragte mich, wo der Mann, der er einmal gewesen war, sich in diesem Augenblick wohl befand. Ihm lief ein Speichelfaden aus dem Mund und seine Augen starrten auf den Boden. Er setzte einen Schritt vor den anderen ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Als er mit nacktem Oberkörper auf der Liege lag, wirkte er äußerlich ruhig. Nur seine geweiteten Augen und seine zitternden Hände ließen erahnen, was in seinem Inneren vor sich ging. Ich kannte das Gefühl genau, das in ihm wütete und sein Nervensystem kollabieren ließ.
Nein, Hochwürden, ich bitte nicht um Vergebung für mich, denn ich handelte im Auftrag eines schlaflosen Gottes. Ich bitte auch nicht um Vergebung für Heinrich, denn manche Dinge können nicht vergeben werden. Ich bitte Euch einzig Hochwürden, um Vergebung für Gott, der alles geschehen ließ, was geschah.
Als ich die verschiedenen Dioden auf Heinrichs Haut klebte, wusste ich, dass ich mein ganzes Leben zielstrebig auf diesen Tag hingearbeitet hatte.
„Eine, um den Herzschlag zu kontrollieren, zum Schutz des Patienten“ sagte ich mit fester Stimme. Ich wusste, dass dies der Augenblick meiner Befreiung war.
„Zwei für die Aufzeichnung der Hirnströme zu wissenschaftlichen Zwecken.“ Ich wusste, dass ich in der kommenden Nacht ohne Alptraum schlafen würde.
„Und schließlich die letzten beiden für die Therapie selbst.“ Ich war mit Gott und dem Teufel in Einklang.
Heinrichs Puls raste und das EEG zeigte ein skurriles Bild wild schwingender Kurven.
„89290“ sagte ich und hielt ihm meinen Unterarm vor das Gesicht. „Sicher erinnerst du dich.“ Ich wartete noch einen Augenblick, so dass Heinrichs Gehirn den Anblick der Tätowierung zu deuten vermochte.
Lektorat: Thomas Piesbergen
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