Baermann denkt: „Ich auch! Will diesen Job. Ich will auch diesen Job!“ Und er sieht es gleich beim Hereinkommen. Zwei dürre Zeiger machen sich lang und Baermann schießt es durch den Kopf: „Das darf nicht sein!“ Doch Baermann deutet richtig: 10.00 Uhr und nicht eine Minute früher. „Nein“, schreit es in Baermann und gleich darauf: „Doch - ich will den Job!“ Er zettelt in seinen Papieren und sieht die Dreizehn. Dreizehnter Stock und denkt: „Das schaffe ich nicht!“ Denn Baermann kann schon lesen. Jetzt liest er „Aufzug defekt“ und also läuft er los.
Er sieht sich hinaufeilen, wie er Stufe für Stufe überschlägt und da erscheint Paula in seinen Gedanken. Paula, die einzige, für die er um die halbe Welt laufen würde.
Lange Jahre, fast ein ganzes Leben war es her, als er sie in dem alten Hörsaal zum ersten Mal bemerkt hatte. Leicht gebeugt über ein Buch saß sie da, in einer blaugeblümten Tunika, die ihr nicht stand und mit der sie so deutlich auffiel, dass Baermann nicht hatte glauben können, der Einzige zu sein, der sie aus der Nähe anschauen wollte.
Paula saß dort, weil ihr Pate es gewünscht hatte, denn das Paula-Mädchen sollte nach einer elternlosen Kindheit eine größere Zukunft haben. Anders als Baermann, der sich mit Wucht und Wut den Eltern entgegen stemmen musste. Sie wollten keinen Juristen in der Familie, keinen Besserwisser, allenfalls einen armen Musiker. Baermann hatte dennoch diesen Saal erreicht und das erste was er lernte war, dass Paula – blaugeblümt – noch immer ein großes Mädchen war.
Der zweite Stock rast an ihm vorbei - und weiter. Baermann duldet jetzt keinen Aufschub.
Bald war es auch mit Paula weiter gegangen, beim zweiten Lerntreff, welches Baermann morgens fast verpasst hatte, weil es so spät geworden war am Abend vorher im Bella Vista. Nie eine Zugabe verweigern war für Baermann der einzige Weg, sein Studium zu finanzieren und er spielte sich mit heißen Fingern einem Leben entgegen, in dem Paula mittendrin war. Kein Geld für den angehenden Besserwisser gab es im Heimatdorf, das ihn lange festgehalten hatte, um doch noch einen Priester aus ihm zu formen. Im Dorf gab es keine Anwälte. Man einigte sich durch monatelanges Schweigen, schaute nach vorn und ließ das Gras wachsen, auf dem Baermann schließlich davongelaufen war.
„Kunstrasen“, denkt Baermann jetzt und liest: „Fünfter Stock!“ Wie viele Minuten nach Zehn mögen es jetzt sein?
Doch Paula hatte an jenem Tag auf ihn gewartet. Sie war nicht mit der Hornbrille von Tisch vier Kaffee trinken gegangen. Paula verstand wenig, doch sie war da und wollte bleiben. Baermann fiel es schwer, das zu glauben und er stürzte sich tiefer in die Strafgesetzbücher, tauchte durch Kommentare und Absätze, denn die waren eindeutig. Paragraphen wurden ihm Halt und Geländer, wenn die dunklen Gestalten nachts an seine Fenster klopften und ihn auch tagsüber nicht mehr verließen mit ihrem Geflüster: „Du wirst nie ein guter Jurist!“
„Das liebe ich an dir“, hatte das Paula-Mädchen Jahre später gesagt, „dass du nie zweifelst, dass dein Wort echt ist und du mein verlässlicher Held.“ Baermann war sich nun gewiss, dass Paula seine Beständigkeit liebte und seitdem gab es nicht nur die dunklen Gestalten in der Nacht, sondern es herrschte auch die Angst, Paula könnte diesen Dämonen begegnen. Denn dann würde auch sie davonlaufen und Paula zu verlieren wäre stechender als alles andere.
„Siebter Stock“, liest Baermann, „hört das denn nie auf? Das ist die Hälfte“, zählt er, „mehr als die Hälfte.“ Und weiter läuft er seinem Ziel entgegen.
Nach dem ersten juristischen Staatsexamen hätte Baermann beinahe auf halber Strecke aufgegeben. Die nächtlichen Bassläufe hatten seine Arme ruiniert, weil die Musik längst keine mehr war, sondern Schichtarbeit bis es hell wurde. In diesem Moment war Paula erwachsen geworden. Sie hatte das Erbe ihrer Eltern ohne Innehalten verfügbar gemacht, so dass es jetzt Abende für beide gab, und Abende zum Lernen. Das war Paulas Heiratsantrag gewesen.
Und jetzt rennt Baermann dieser neuen Stelle hinterher, um nicht mit leeren Händen „Ja“ sagen zu müssen. Neunter Stock und er kann nicht mehr. Doch niemand rettet ihn.
Baermann sieht den Erstklässler wieder vor sich, wie er damals über die Felder rannte, über Rüben stolperte, sich schmutzige Knie aufschlug und weiter schlingerte; mit leeren Hosentaschen, in denen kurz vorher noch zwei Mark gewesen waren für des Vaters Zeitung. Die hatte er holen sollen, doch er war Stolle und Benk in die Hände gefallen.
Sie hatten ihn kopfüber hängen lassen und das Geld war herausgerutscht. Das Baermännchen, wie sie ihn damals nannten, hatte sich stundenlang nicht nach Hause getraut, war verzweifelt in den Furchen auf und ab gelaufen, ohne Richtung, bis ihn der Hunger umkehren ließ. Baermann erinnert sich nicht mehr an die häusliche Hölle danach, doch an diesem Abend war die Entscheidung gefallen: Er wollte für das Recht in dieser Welt eintreten, für seines und später für Paulas und das ihrer gemeinsamen Kinder.
Elfter Stock. Die Verzweiflung von damals treibt ihn auch jetzt weiter und Baermann denkt immer noch: „Ich will diesen Job, ich will es wenigstens versuchen, auch wenn ich längst schon zu spät bin.“ Noch etwas schneller. Zwölfter Stock, von oben sind Stimmen zu hören. Baermann lockert die Krawatte und liest: „Dreizehnter Stock. Dr. Branko Suderstadt – Vorzimmer.“ Eine Tür öffnet sich, ein Lächeln - nicht von dieser Welt - schaut ihm entgegen. „Nanu“, giggelt das Lächeln, „schon der dritte Bewerber heute im Dauerlauf! Nehmen Sie bitte noch einen Moment Platz, darf es ein Glas Wasser sein?“ Und Baermann nickt, kann kaum schlucken, nur das Wort „Uhr“ rutscht ihm heraus. „Ach ja, die gehen hier alle anders“, trällert das Lächeln und Baermann ahnt etwas. Er sinkt auf einen Stuhl und die Anzeige gegenüber lässt ihn wieder auffahren. Vier Ziffern könnten schöner nicht sein und Baermann liest: „10.00.“
„Pünktlich auf die Minute“, hört er kaum die tiefe Stimme, die von rechts kommt. „Eine interessante Bewerbung haben Sie uns da geschickt. Aber bitte doch, hier entlang.“ Ein fester Händedruck zieht Baermann von seinem Stuhl hoch und er stolpert in ein fremd riechendes Konferenzzimmer. Nimmt Platz und lässt Frage und Antwort an sich vorbeiziehen. Hört sich selbst sprechen, wie aus der Ferne, sieht hier und da ein nickendes Lächeln, nimmt Papiergeraschel wahr. Ein Fenster steht auf Kipp. Die Zeit fliegt und schon ist da wieder dieser kräftige Händedruck, der ihn ins Vorzimmer zurückführt. Zwei Stimmen wechseln sich nun ab, eine hohe, eine tiefe. Bruchstücke erreichen Baermanns Ohr.
„Jaja, ganz eindeutig!“
„Ab 1. Mai?“
„Die Formulare zuschicken!“
„Kennenlerntreffen organisieren?“
Und dann fliegt Baermann zum zweiten Mal an diesem Tag durch dreizehn Stockwerke, nun in umgekehrter Richtung. Er tritt in die Sonne hinaus, da winkt Paula. Sie schwenkt blaue Blumen, sie lächelt fragend und Baermann hört sich antworten: „Ja, Paula. Jetzt ja!“
Lektorat: Thomas Piesbergen
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